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1.1.1804 - Vor 200 Jahren:

En Haiti, ah, comme on est bien,

Von Uli Aumüller | 01.01.2004
    En Haiti, on ne fait jamais rien,
    On s'endort sous l'air qui bout, caresse,
    Et l'on paresse, sans songer à demain...

    Mit dieser Schnulze besingt der haitianische Musiker Guy Durosier das sorglose Nichtstun auf seiner Heimatinsel Haiti in den fünfziger Jahren. Damals erlebte der Karibikstaat unter Präsident Magloire eine kurze ökonomische und kulturelle Blütezeit. Begünstigt vom hohen Weltmarktpreis für Kaffee und als aufrechter Antikommunist umworben von der Regierung Eisenhower, gelang es ihm, die rückständige Infrastruktur erheblich zu modernisieren, ausländische Investoren und Scharen von amerikanischen Touristen ins Land zu locken, die vor ihrer Haustür einen Garten Eden entdeckten.

    ...car Haiti, c'est le paradis,
    car Haiti, c'est le paradis.


    Als Kolumbus 1492 das von den indianischen Ureinwohnern Ayiti, Land der hohen Berge, genannte Eiland betrat, erschien es ihm als "der lieblichste Ort der Welt". Im Namen der spanischen Krone taufte er es besitzergreifend Hispaniola. Einhundert Jahre später waren der Boden und die Bodenschätze weitgehend erschöpft, und die Indianer durch Zwangsarbeit und Massaker ausgerottet. Schiffsladungen mit verschleppten Westafrikanern wurden als Sklaven eingeführt. 1697 fiel Saint Domingue, der Westteil der Insel, an Frankreich. Die kleinen Ländereien wurden enteignet und von wenigen Großgrundbesitzern übernommen, die von Heerscharen schwarzer Sklaven Zuckerrohr, Kaffee, und Baumwolle anbauen ließen. Saint Domingue, die "Perle der Antillen", wurde zur ertragreichsten französischen Kolonie.

    Kein Wunder also, dass sich auch das republikanische Frankreich erst 1794, unter dem massiven Druck von Unruhen und Aufständen in der Kolonie, dazu bereit fand, seinen Sklaven die Menschen- und Bürgerrechte zuzugestehen. Doch schon 1802 entsandte Napoleon zur Wiedereinführung der Sklaverei eine Invasionsarmee, die die Schwarzen in wenigen Monaten besiegte. Doch dann dezimierte eine Gelbfieberseuche das napoleonische Heer, und die vereinten Armeen der Schwarzen und der Mulatten brachten dem Ersten Konsul seine erste Niederlage bei: Von den mehr als 50000 Mann der Grande Armée kehrten nur 1200 ins Mutterland zurück. Im November 1803 konnte der siegreiche schwarze General Dessalines in einer grandiosen Geste das weiße Feld aus der Trikolore herausreißen und die blau-rote Nationalflagge der "Freien Negerrepublik Haiti" hissen, deren Gründung am 1. Januar 1804 feierlich begangen wurde. Jacques Dessalines ließ sich zum Generalgouverneur auf Lebenszeit ernennen, befahl die Ermordung der im Land verbliebenen Franzosen und schenkte ihre Ländereien seinen Offizieren. Dafür mussten seine Nachfolger ein Jahrhundert lang hohe Reparationen an Frankreich bezahlen. Bis heute, zweihundert Jahre danach, hat es den Anschein, als habe weder das haitianische Volk noch die Welt diese gewaltsame und glorreiche Vergangenheit bewältigt. Eine der Ursachen erklärt der bedeutende Philosoph und Soziologe Laënnec Hurbon:

    Das ganze 19. Jahrhundert hindurch hat sich Haiti nach außen abgeschottet. Es bildete sich eine ländliche Gesellschaft heraus. Die neuen Freien entwickelten vom Voodoo vorgegebene Lebensweisen und eine fast autarke landwirtschaftliche Selbstversorgung. So konnten sie, recht und schlecht, in einer feindseligen, rassistischen Umwelt von Sklavenhaltern überleben.

    Auch im 20. Jahrhundert erlebte Haiti nach einer langen verhängnisvollen Besatzung durch die "Schutzmacht" USA eine endlose Reihe von grausamen Diktaturen, Staatsstreichen, Machtkämpfen. Die Verelendung der Bevölkerung, die sich seit 1950 auf über acht Millionen vervierfacht hat, nimmt im gleichen Maße zu wie die Abholzung und Erosion des einst so überaus fruchtbaren Landes. 80% der Haitianer sind Analphabeten, Dreiviertel sind arbeitslos und leben unter der Armutsgrenze, die Lebenserwartung ist mit 52 Jahren die niedrigste in Amerika. Hinzu kommen Inflation, Gewalt und Rechtlosigkeit. In dieser Situation erschien 1991 der Armenpriester und Vertreter der Befreiungstheologie Jean-Bertrand Aristide dem Volk wie der Mehrzahl der Intellektuellen als Retter. Heute, in seiner zweiten Amtszeit als tatenloser Präsident, ist er zu einem der reichsten Männer der Karibik mutiert, und das Land versinkt in bodenloser Armut, Hoffnungslosigkeit und Anarchie. Dazu Hurbon:

    Unsere Hoffnungen wurden enttäuscht, vollständig enttäuscht. Heute sind praktisch alle politischen Parteien und alle Instanzen der zivilen Gesellschaft gegen Aristide. Aber er tritt nicht zurück... Wir haben Banden, die völlig autonom agieren und die der Regierung sagen: hier, aufgepaßt, ihr müsst dies oder das mit uns aushandeln. Sie haben die Macht, sie erpressen Schutzgelder von der Bevölkerung, sie entscheiden, wer Präfekt oder Bürgermeister werden kann. Dies ist also eine ganz besonders schwierige Situation, und das Jahr 2004 wird ein extrem gespaltenes Land vorfinden.