Sonntag, 28. April 2024

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100. Geburtstag des Regisseurs Satyajit Ray
Der Urvater des indischen Neorealismus

Eine Filmausbildung hat er nie genossen - dennoch wurde Satyajit Ray mit seiner klaren, an der sozialen Wirklichkeit ausgerichteten Formensprache zum bedeutendsten Regisseur Indiens. Er gilt als Begründer eines indischen Neorealismus. Am 2. Mai 2021 wäre er 100 Jahre alt geworden.

Von Katja Nicodemus | 02.05.2021
    Ein Schwarzweiß-Foto zeigt einen Mann in hellem Anzug in die Kamera blickend. In der erhobenen rechte Hand hält er eine Zigarette Der indische Regisseur des bengalischen Films und Oscar-Preisträger Satyajit Ray
    Der indische Regisseur des bengalischen Films und Oscar-Preisträger Satyajit Ray (IMAGO / Ronald Grant)
    Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr diese lebensnahen Bilder eines bengalischen Dorfes im Jahr 1956 auf dem Festival von Cannes überraschten. Ihr Regisseur hatte nie zuvor einen Film gedreht - genauso wenig wie die anderen Mitglieder seiner Crew. "Pater Panchali" von dem damals 35-jährigen Regiedebütanten Satyajit Ray markierte den Beginn des modernen indischen Kinos – und ist gleichzeitig eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte. Der Film gewann den Sonderpreis von Cannes und weltweit etwa ein Dutzend weitere renommierte Auszeichnungen.
    "Pater Panchali", sein deutscher Titel lautet "Apus Weg ins Leben: Auf der Straße", beruht auf einer populären bengalischen Literaturvorlage, in deren Zentrum eine bitterarme Familie steht. In konzentrierten, langen Einstellungen nähert sich die Kamera Mutter, Vater, Tochter, Sohn und der hochbetagten Tante. Aus Verrichtungen, Begegnungen, beiläufigen Situationen und Dialogen entsteht der Alltag eines kleinen Dorfes – und eine existenzielle Erzählung von Geburt und Tod, Verlust und Aufbruch.
    Eine schwarzweiße, sehr dichte Nahaufnahme ufnahme zeigt einen vielleicht zehnjährigern Jungen, der an einer Säule, womöglich Teil eines Tempelmauerwerks vorbeilugt
    Subir Bannerjee in der Rolle des junge Apu in Satyajit Rays Film "Pather Panchali", ("Pater, Panchali") "Song of the Little Road" von 1955 (IMAGO / Everett Collection)

    Der Neorealismus als Erweckungserlebnis

    Satyajit Ray wird am 2. Mai 1921 in Kalkutta geboren. Er wächst auf in einer Familie von Musikern, Gelehrten, Buchdruckern, Schriftstellern. Durch seine Erziehung ist er auch vertraut mit der englischen Literatur, zum Zeitvertreib spielt man Cricket.
    Ray studiert Kunst an der von dem Dichter Rabindranath Tagore gegründeten Universität. Danach arbeitet er als Grafiker für eine britische Werbefirma. Während eines Aufenthaltes in England entdeckt er das zeitgenössische französische und italienische Kino, die ungeschönte, dokumentarisch anmutende Ästhetik des Neorealismus:
    "Es war das neorealistische Kino, das mich davon überzeugte, dass man mit nicht-professionellen Darstellern an Originalschauplätzen arbeiten kann. Und dass es weniger um die perfekte Oberfläche des Films geht als um den menschlichen Aspekt."

    Die Rolle der Musik

    Zurück in Indien, arbeitet Satyajit Ray vier Jahre lang an seinem Film "Pater Panchali". Es sollte der Beginn einer Trilogie werden, die dem Helden Apu von der Kindheit ins Erwachsensein folgt, von der Stadt aufs Land, von der dörflichen Struktur zur eigenen Familie. Zusammengehalten wird die Trilogie auch durch eine Reihe musikalischer Motive, so Ray:
    "Ich habe immer an Leitmotive geglaubt, deren Wiederkehr den Filmen eine Einheit verleiht. Das Hauptmotiv von ‚Pater Panchali‘ war eine brillante Eingebung des Komponisten Ravi Shankar. Er hatte es bereits im Kopf, bevor er den Film gesehen hat."
    Im indischen Ashram traf der kanadische Filmemacher Paul Saltzman zufällig die Beatles - und machte viele Fotos von ihnen.
    Jenseits von Bollywood-Soundtracks - Wie Indien den Pop verändert(e)
    Von den psychedelischen Songs der Beatles bis zu den Techno-Beats von Four Tet: Westliche Musik ist seit den 60er-Jahren beeinflusst von indischen Sounds.

    Filme zwischen Märchen und Sozialdrama

    Rund 30 Filme hat Satyajit Ray gedreht, allen wohnt eine schöne Musikalität inne. Die Klänge geben seinen Heldinnen und Helden Rückhalt, begleiten sie durch die soziale Wirklichkeit ihres Landes. Rays Filme behandeln überkommene archaische Verhaltensweisen, die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, mangelnde Bildung. Ihr Blick auf die traditionelle Welt ist aufgeklärt. Zugleich haben sie fast immer die Anmutung von Fabeln und geradezu märchenhaften Erzählungen.
    Dafür fand Rays japanischer Kollege Akira Kurosawa eine Beschreibung von poetischer Einfachheit: "Das Kino von Ray nicht gesehen zu haben, heißt, in der Welt zu sein, ohne die Sonne oder den Mond zu sehen."

    Ehrenoscar fürs Lebenswerk

    Im Alter von 70 Jahren erhält Satyajit Ray einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk, wenig später stirbt er am 23. April 1992. Ein Jahr zuvor drehte er sein letztes, vielleicht persönlichstes Werk: "Agantuk – Der Besucher". Der Film erzählt von einem verschollen geglaubten Onkel, der nach 35 Jahren im Ausland in seine Geburtsstadt zurückkommt und das Leben und das Wertesystem der Familie durcheinanderbringt. Der gebildete Mann, ein weltoffener Ethnologe, stellt das Kastensystem genauso in Frage wie die Religion – weil beides die Menschen auseinanderbringe. Auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortet der Onkel mit einem spirituellen Lied – gesungen von Satyajit Ray selbst.