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100 Jahre Futurismus

Die Futuristen waren eine sehr quirlige Truppe, die sich mit aller Gewalt dem Fortschritt verschrieben hatte. Sie wurden angeführt von Filippo Tommaso Marinetti, einem zum fraglichen Zeitpunkt meist in Paris lebenden italienischen Schriftsteller, der 1909 mit einem auf der Titelseite des "Figaro" präsentierten Manifest von sich reden gemacht hatte, das als eine Art Gründungsdokument der Bewegung gilt. Mithin ist der Futurismus 100 Jahre alt geworden - und wird weithin beachtet, aus guten Gründen. Die Bewegung hat große Teile der Moderne bestimmt, den Wahnsinn der Weltkriege mit inspiriert und zahlreiche immer noch gegenwärtige Moden geprägt.

Von Mathias Schulenburg |
    Das hätte den Futuristen gefallen: Köln-Stuttgart mit dem ICE in zwei Stunden 14 Minuten, denn Schnelligkeit war ihr Metier. Die Silhouette Frankfurts hätte sie ebenfalls erfreut, denn auch das wollten sie: höher, weiter, mehr. Ihre Bewegung, die sich der Zerstörung des Überkommenen zum Segen des Fortschritts verschrieben hatte, war umfassend. "100 Jahre Futurismus - Kunst, Technik, Geschwindigkeit und Innovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts" war denn auch das "Internationale Symposium mit Kulturprogramm" überschrieben, das vom Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung, IZKT, der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Organisationen arrangiert wurde. Veranstaltungsort: die Staatsgalerie Stuttgart.

    Anführer der futuristischen Frohschar war der irrlichternde italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti, dessen vor 100 Jahren frisch im "Figaro" veröffentlichtes Manifest sich heute nur noch mit starken Sedativa ertragen lässt. Marinetti fand besonders in Italien Gehör, dennoch war die Wiege des Futurismus nicht dort oder doch nicht allein, sagt Georg Maag, Leiter des veranstaltenden IZKT; die Wiege war eher Paris:

    "Die Frage, die sich dann stellt, ist, wie konnte sich die Begeisterung für den Futurismus in Italien, vielleicht auch anderswo, so schnell entzünden? Und hierauf ist die Antwort, denke ich, relativ einfach. Es ist die Antwort, die an vielen Stellen auch gegeben wird: Der Futurismus hat auf einem systematischen Marketing aufgebaut, er hat sich moderner Medien bedient, vom Telegraphen bis zum Telefon, und das hat ihn international, und daher auch in Italien, sehr schnell bekannt gemacht."

    "Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! ... Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!", zürnt Marinetti im futuristischen Manifest, ohne jede Ironie, wohl auch von einer Art Jugendwahn beflügelt.

    "Ich denke, Marinetti war ein radikaler Verfechter der Moderne, hierin so radikal, dass er sozusagen die ganze Tradition des Abendlandes in Frage gestellt hat. Er war so radikal in seiner Bejahung der Moderne, dass er letztlich nicht einmal die modernsten seiner Zeitgenossen wie etwa D'Annunzio, der sich ja auch schon für Automobil und Flugzeug, für Aviatik, interessiert hat, dass er diesen nicht hat gelten lassen, sondern bereits zu den Großvätern gesteckt hat. Also es ist hier der Anbruch einer radikalen Modernisierung, und was das für Italien bedeutet, kann man, glaube ich, nur dann nachvollziehen, wenn man weiß, dass die Industrialisierung in Italien mit einer Phasenverschiebung, mit einer Verspätung gegenüber anderen europäischen Ländern stattgefunden hat. Das ist möglicherweise der Grund."

    War Filippo Tommaso Marinetti Faschist? Die Nähe sei unverkennbar, sagte Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe und ein ausgewiesener Kenner der Materie. Und: Das Ganze hatte Wurzeln.

    "Es ist ganz wichtig für ihn Friedrich Nietzsche, es ist ganz wichtig für ihn Georges Sorel, der 1908 ein Buch über die Gewalt schreibt, das heißt, die Veränderung der Gesellschaft war für Marinetti - es war eine Monarchie in Italien zu dieser Zeit noch, eine völlig erstarrte Monarchie - nur über eine bestimmte Form von Gewalt, Auseinandersetzung, Bürgerkrieg, wenn man so will, möglich. Und wenn man sich seine Schriften anguckt und gerade seinen ersten Roman, der als futuristischer Roman gilt, das ist ein Marketing-Gag gewesen auch von Marinetti, da ist nicht viel Futurismus in unserem Verständnis drin, es ist ein heroisches Programm, es geht um Gewalt, es geht um absolute Formen der Erzeugung von Maschinenmenschen, das heißt, die ganze Tradition wird abgebrochen, und was bleibt, ist ein Maschinenmensch, der ohne Erinnerung ist, ohne Sentimentalität und ohne Emotion."

    Gleichwohl: Vieles, was die Futuristen etwa auf dem Felde der Kunst angedacht hatten, ist schließlich realisiert worden, sagte Günter Berghaus, lange Zeit Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bristol:

    "Theater vermischt mit Radio, Theater vermischt mit Fernsehen, die ganzen synästhetischen Konzepte, die aber im großen Teil Utopie geblieben sind, weil die Technologie einfach noch nicht reif war, um es wirklich umzusetzen. Und diese Experimente sind eigentlich in den letzten 20, 30 Jahren Realität geworden, weil wir mittlerweile andere technologische Umstände haben, vor allem der Computer, der Sachen ermöglicht, die halt in den 20er-, 30er-Jahren wirklich Utopie bleiben mussten."

    Das Stuttgarter Symposium hatte nicht nur Informationen und Diskussionen zu bieten; es gab auch Kunst und Unterhaltung, etwa ein Konzert des Pianisten Daniele Lombardi mit futuristischen Klängen:

    Die Futuristen ließen zu ihrer Zeit gerne noch einen Motor mitlaufen, was ihrer Musik durchaus förderlich war:

    Auch in der Küche ließen die Futuristen ihr Genie aufblitzen. Gar kein Essen hätte die Kampfkraft geschwächt, aber Mamas Nudelgerichte wenigstens sollten weg, weiß Irene Chytraeus Auerbach, Kulturwissenschaftlerin und Organisatorin des Symposiums:

    "In der futuristischen Küche hat er ja den Kampf gegen die Pasta Chuta, die italienische Pasta, geführt, die also ganz ersetzt werden sollte, zum anderen ging es aber auch darum, dass einfach verschiedene Geschmacksrichtungen in völlig neue Kreationen zusammengebracht werden. Es geht nicht ums Essen, es geht ums Geschmackserlebnis."

    Die Nachkriegszeit freilich hat zu einem guten Teil am Bewährten festgehalten. Damit Marinetti und seine Spießgesellen sich im Grabe umdrehen, ein Pasta-Chuta-Rezept für vier Personen, nur die Zutaten:

    - ein Pfund gemischtes Hackfleisch
    - ein Pfund Strauchtomaten
    - halbes Pfund Spaghetti
    - Salz & Pfeffer, Piment, Paprikapulver, Olivenöl
    - 3 kleine Zwiebeln, Oregano, Parmesankäse
    - 1 Knoblauchzehe, besser 10 Knoblauchzehen, bewährtes Mittel gegen den Teufel.