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100 Jahre "Prix Goncourt"

Der "Prix Goncourt", der begehrteste französische Literaturpreis, geht in diesem Jahr an den Literaturkritiker Jacques-Pierre Amette, und zwar für seinen Roman "La Maîtresse de Brecht" ("Die Geliebte von Brecht"). Dies gab die Jury des Goncourt-Preises am Dienstag überraschend in Paris bekannt.

    Rainer Berthold Schossig: Zunächst: Bei Amettes Buch handelt es sich um einen Liebes- und Spionageroman, sozusagen um ein Rollenspiel hinter den Kulissen des Berliner Ensembles.

    Jürgen Ritte: Ja, diesmal geht es um Maria Eich, eine junge Schauspielerin, die Brecht auch gleich für die Antigone verpflichtet und die gleichzeitig eine Spionin ist, aber die wichtigste Eigenschaft von Maria Eich ist, dass sie natürlich eine freie Erfindung von Jacques-Pierre Amette ist. Es ist also eine Romanfigur, die inspiriert ist von Frauen aus der Umgebung von Brecht. Jacques-Pierre Amette hat vor wenigen Wochen gesagt, er habe an dem Bild von Regine Lütz, der Wiener Schauspielerin, sich inspiriert, aber sonst hat diese Maria Eich nichts mit Regine Lütz zu tun.

    Schossig: Doch es ist zu lernen, dass Amette ein guter Kenner der deutschen Literatur beziehungsweise der dramatischen Literatur auch ist.

    Ritte: Ja, er ist, glaube ich, ein ganz guter Brechtkenner, denn er entwirft das Kulissenspiel, wie Sie eben schon gesagt haben, im Berliner Ensemble, was nicht immer sehr menschenfreundlich war, und vor allen Dingen macht er Brecht eben zu einer Romanfigur, weil er offenbar von Brechts unfreiwilligen Romanistenqualitäten so überzeugt war. Also er betont das etwas Filouhafte an Brecht, der einerseits ein brillanter Liebesdichter sein konnte aber auch ein furchtbarer Propagandaautor, der sich furchtbar verhalten konnte mit seinen Maitressen und Geliebten, aber eben auch ein großer Liebhaber sein konnte. Alles das verdichtet sich bei Amette in einer Romanfigur, die Brecht heißt und die eben ausspioniert werden soll im Auftrag der Stasi, nachdem er also am 22. Oktober 1948 wieder nach Deutschland kommt, und man will nun wissen, was ist mit dem Mann, was will der? Der war so lange in Amerika, der war so lange in Dänemark, und wie können wir ihn unter Umständen benutzen?

    Schossig: Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg, also. Wir werden uns noch etwas gedulden müssen in Deutschland, bis wir eine deutsche Übersetzung davon zu lesen bekommen. Zum Preis selbst, die Verleihung des Goncourt-Preises war ja ursprünglich für den 3. November angekündigt. Heute nun überraschend diese Mitteilung. Es gab allerdings in den vergangenen Jahren immer wieder eine scharfe Konkurrenz zwischen den verschiedenen Gremien der Pariser Literaturszene. Wie hängt dies denn mit der Wahl nun eines Literaturkritikers wie Jacques-Pierre Amette zusammen?

    Ritte: Ja, das kann man konstruieren, wie man will. Zum einen hat die Goncourt-Jury uns alle überrascht. Sie begründet diese frühe Entscheidung damit, dass sie im hundertsten Jahre ihres Bestehens auf jeden Fall sicher sein wollte, dass sie ihren Kandidaten krönen kann. Es ist schon passiert, dass eine andere Jury ihr zuvorgekommen ist, und da musste man einen anderen Kandidaten krönen.

    Schossig: Heißt es, dass es ein Kompromisskandidat ist? Was ist das für ein Mann, der Amette?

    Ritte: Ein Kompromisskandidat ist er nicht. Zumindest sagt die Jury, das war unser Wunschkandidat, und deswegen haben wir es so schnell gemacht, damit ihn uns kein anderer wegschnappt, denn Amette war auch auf anderen Preislisten schon platziert. Literaturkritiker, ja. Sein letztes Buch war "Mein Leben", und es war auch ein Roman, der ein bisschen Schlitten fährt mit den Gepflogenheiten und Usances im Literaturbetrieb. Man kann also sagen, die Jury Goncourt hat sozusagen einen ihrer schärfsten Kritiker eingekauft mit diesem Preis.

    Schossig: Also gar kein unbeschriebenes Blatt?

    Ritte: Er ist kein unbeschriebenes Blatt.

    Schossig: Ein besonderes symbolisches Gewicht erhält diese Vergabe des Goncourt-Preises nun, weil er ja vor genau 100 Jahren erstmals verliehen wurde. Wie wird das in Frankreich wahrgenommen?

    Ritte: Das wird in Frankreich zelebriert, wie man alles zelebriert im Rahmen des literarischen Erbes. Demnächst gibt es eine große Ausstellung in der Nationalbibliothek zu den Archiven der Goncourt, wo man genau die ganze Geschichte des Preises nachvollziehen kann usw. Ansonsten auch in Frankreich sieht man natürlich diesen ganzen Preisbetrieb, der jedes Jahr im August/September losgetreten wird, natürlich auch schon sehr skeptisch und sehr spöttisch wie eben Amette in seinem Buch, von dem ich eben sprach, "Mein Leben".

    Schossig: Überraschend, diese Preisvergabe. Überraschend auch für die Insider der Szene in Paris?

    Ritte: Ja, überraschend, ich weiß es nicht. Le Monde hatte schon vor einigen Wochen einen Artikel publiziert und eröffnete den Artikel zum literarischen Herbst damit, dass mit Amette ein ganz hervorragender Autor da sei, den man unbedingt krönen müsse, aber dass es wahrscheinlich nicht passiere, weil die Jury ja immer die falschen nehmen. Diesmal ist auch sie Lügen gestraft worden.

    Schossig: Vielen Dank für das Gespräch.