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100 Jahre Sinologie an der Universität Hamburg

Das Hamburger Institut für Sinologie war der erste deutsche Lehrstuhl für Ostasien. Von Anfang an stand fest, dass die Einrichtung neben der wissenschaftlichen Erforschung des Landes der Mitte vor allem zum Verständnis seiner zeitgenössischen Entwicklung beitragen solle.

Von Peter Leusch | 17.09.2009
    Ein Gedicht aus der Tang Dynastie. Älter als 1000 Jahre. Es erzählt von der Vergänglichkeit des Frühlings, der Blüten und der Schönheit, erklärt Schaufeng Ni, Lektor für chinesische Sprache an der Hamburger Universität.

    "Das müssen die chinesischen Kinder in der Schule auswendig lernen."

    Und auch die Studierenden am Hamburger sinologischen Institut. Hier wird seit 100 Jahren die Sprache und Kultur Chinas gelehrt. Michael Friedrich ist einer der zwei Professoren am Institut:

    "Es ist nicht die Wirtschaft Chinas. Es ist nicht die Politik Chinas, es ist nicht die Geologie oder die Geografie Chinas, sondern es ist Sprache und Kultur. Und deshalb ist die Sprachausbildung ganz zentral bei uns. Auf der anderen Seite die chinesische Kultur und Geschichte und Gegenwart. Deshalb befassen wir uns eben mit der Literatur, mit der Geschichte, mit der Philosophie, mit der Kunst. Aber eben nicht nur in der Geschichte, sondern auch mit der gegenwärtigen Entwicklung."

    Entstanden ist das sinologische Institut am 1908 gegründeten Kolonialinstitut. Diese Ausbildungsstätte für Kolonialbeamte sollte nach dem Willen des deutschen Kaisers eigentlich in Berlin angesiedelt werden. Dass letztendlich Hamburg den Zuschlag erhielt, lag vor allem am Hafen, den Handelsbeziehungen und den mächtigen Kaufleuten.

    "Aber was da betrieben worden ist, nämlich die Weitung des Blickes vom kleinen Westeuropa auf den gesamten Globus, die war durchaus wegweisend. Und die Hamburger Politiker, die sehr klug waren damals, die wollten ja schon seit längerer Zeit eine Universität begründen in Hamburg. Das hat aber die Bürgerschaft immer abgelehnt. Und von Melle vor allem, aber auch andere, haben dieses Kolonialinstitut ganz bewusst auch dazu nutzen wollen, einen weiteren Pfeiler für die hoffentlich dann bald zu gründende Universität bereitzustellen."

    Angefangen hatte das Kolonialinstitut mit dem Fach Islamwissenschaften, denn das Deutsche Reich hatte enge Verbindungen zum Vorderen Orient. Zum Beispiel zum heutigen Irak. Ein Jahr später wurde das sinologische Institut gegründet. Denn eine der wenigen deutschen Kolonien hieß Tsingtau und lag in China.

    "Man wollte ein deutsches Musterländle im Fernen Osten aufbauen. Sie haben heute noch Architektur, die genauso gut in Deutschland stehen konnte. Man hat, was damals in Deutschland als modern galt auch eingeführt in China. Das fängt an bei der Kanalisierung und bei Schulen, bei Institutionen. Man hat also daran gedacht einen Vorposten einzurichten, um später intensiv Geschäfte zu treiben. Und Siemens war schon sehr frühzeitig da. Die erste Eisenbahn in China ist von Siemens gebaut worden. Also es ging nicht allein darum, im klassischen Sinne Bodenschätze auszubeuten. Sondern es ging auch darum, den deutschen Konzernen eine Einflusssphäre zu öffnen."

    Bis heute ist das riesige China ein ebenso begehrtes wie wichtiges Land für den Export deutscher Großunternehmen.

    "Was an China immer schon fasziniert hat, also seitdem die europäischen Mächte sich über den ganzen Globus verbreitet haben, das sind die gewaltigen Absatzmärkte. Auf der einen Seite natürlich Bodenschätze, Arbeitskraft, das ist vollkommen klar. Aber das haben auch die Kaufleute bereits im 19. Jahrhundert erkannt, eine Bevölkerung, damals noch nicht eine Milliarde sondern erheblich weniger, aber von Hunderten von Millionen Menschen. Wenn da entsprechend Kaufkraft da ist, dann können die sehr viel kaufen."

    Der Jurist Otto Franke hatte die erste Professur für Sinologie am Kolonialinstitut. Im Dienste des Deutschen Kaiserreichs hatte er jahrelang als Dolmetscher in China gearbeitet. Nebenbei hatte er das große Land bereist um die Menschen und Kulturen kennenzulernen, erzählt Michael Friedrich.

    "Er ist jemand gewesen, der gerade nicht diesen kolonialistischen Standpunkt gehabt hat. Und er war auch ein Verfechter der Republik. Und er war immer bei den chinesischen Entwicklungen mit dabei. Das ist überhaupt nicht ein kolonialistischer Blickwinkel gewesen."

    In diesem Sinne war Otto Franke ein moderner Wissenschaftler. Denn bis ins 19. Jahrhundert, war es in Deutschland nicht üblich, dass Menschen, die über andere Kulturen lehrten, tatsächlich auch reisten, sagt Michael Friedrich. Orientalisten, das waren meist Buchgelehrte.

    "Die mit der Hilfe von Grammatiken die literarischen Sprachen gelehrt haben. Und die dann über Arabisch, Sanskrit, Türkisch, Persisch bis zu Chinesisch und anderen Sprachen alles Mögliche gemacht haben. Aber nicht spezialisiert jetzt auf eine Sprache oder auf eine Kultur."

    Auch das Bild, das die westlichen Europäer sich von China und der Chinesen machten, war im Laufe der Jahrhunderte vielen Wandlungen unterworfen. Diese veränderten Wahrnehmungen hätten allerdings weniger mit den Verhältnissen in China als mit denen in Europa zu tun, befindet Michael Friedrich.

    "Es gab die Mode der Chinoiserie im 17. Jahrhundert. Leibnitz war ein großer Verehrer Chinas. China war so eine Art Idealkultur damals."

    Das änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts. Den großen Aufklärern erschien China eher rückständig. Kaufleute und Militärs dominierten inzwischen das Chinabild.

    "Und da kamen dann Bilder vom schmutzigen Chinesen auf, das wurde dann immer im Kollektivsingular gesagt, Korruption usw. Und daneben existierte eher verhalten im Hintergrunde immer eine sinophile Tradition, die Philosophie, die Literatur. Und diese Tradition, die ist wieder stärker geworden nach dem Ersten Weltkrieg als die Trümmer des sehr arrogant und selbstbewusst auftretenden Europa überall zu besichtigen waren."

    Folgerichtig erlebte die chinesische Kultur in der Weimarer Republik wieder eine gewisse Renaissance. Heute bemühen sich die Sinologen in Hamburg darum, der Vielfalt des Landes gerecht zu werden. Das riesige China ist kulturell mindestens so vielfältig wie Europa. Dem können die mittlerweile zwei Professuren unmöglich gerecht werden, konstatiert Michael Friedrich.

    "Sie müssen sich vorstelle, was wir hier für die Provinz Europa an der Universität Hamburg beispielsweise an Professuren haben. Anglistik, Germanistik, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte, das könnten Sie ohne Probleme sofort auf China übertragen."

    Schaufeng Ni, eigentlich Kunsthistoriker ist seit sechs Jahren am Institut. Herausragend in Hamburg sei der Sprachunterricht, sagt er.

    "Wir haben ein Sprachlabor und die Studenten bekommen ein hervorragendes Aussprachetraining. Manche sprechen nach einem Jahr akzentfrei. Ich kenne sonst nirgends woanders, wo das so gemacht wird."

    Aber nicht nur Grammatik, Schriftzeichen und Aussprache des Chinesischen sind schwierig. Die Studierende müssen auch lernen, dass Chinesen aus Höflichkeit nie sagen, was sie wirklich wollen. Da musste der gebürtige Chinese Schaufeng Ni umlernen.

    "Diese Direktheit. Man sagt einfach, was man will. Am Anfang wirkte das teilweise unangenehm schroff. Aber irgendwann lernt man das zu schätzen, diese Direktheit, dass man die Wahrheit sagt."

    Deshalb gehört es seit zehn Jahren zum Studiengang, dass die Studierenden ein Semester in China verbringen. Dort werden sie von einer Hochschule betreut, können Kung-Fu- und Kalligrafiekurse belegen und ein Ausflugsprogramm mitmachen. Dabei, sagt die Lektorin Ruth Cremerius, kommen die jungen Leute einem ganz wichtigen Lernziel näher.

    "Wir möchten nicht vermitteln, dass China exotisch ist, dass China nie verstanden werden kann, dass die Chinesen ein ganz anderer Menschenschlag ist. Wir wollen vermitteln, dass China im Grunde ein ganzer Kontinent ist mit sehr vielen nicht Han-chinesischen Ethnien, also anderen Völkern, die dort leben, mit einer beeindruckenden Kultur und einem beeindruckenden literarischen Erbe."

    Heute werden am Institut auch die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen der chinesischen Gesellschaft thematisiert, sagt Michael Friedrich. Beispiel: die Stadtforschung.

    "Das ist ein Thema, was weltweit von großer Bedeutung ist. Denn nachdem ja in vormodernen Gesellschaften ein Großteil der Bevölkerung auf dem Lande lebt, verschiebt sich das in den modernisierten Gesellschaften, dass ein Großteil der Bevölkerung in den Städten lebt. Und die Städte sind ja gerade, wenn es dann Metropolen sind oder wir haben Stadtregionen mit 20 Millionen Einwohnern, sind die Städte die Zentren, in denen sich entscheidet, wie die weitere Entwicklung von Gesellschaft, von Kultur vorangeht. Das sind die Zentren, die nicht allein aber doch sehr stark verantwortlich sind für die Umweltbelastung. Das sind die Zentren, in denen der größte Energieverbrauch anfällt usw."

    Entgegen der hier verbreiteten Meinung, seien die Regierenden in China sich der gigantischen Probleme des Landes allerdings sehr bewusst, urteilt der Sinologe.

    "China hat in dieser Generation einen Sprung durchgemacht, den wir in Westeuropa vielleicht in hundert oder in noch mehr Jahren zu bewältigen hatten. Das heißt, bei uns ist alles etwas gemächlicher verlaufen und hat trotzdem schon zu gewaltigen sozialen und politischen Verwerfungen geführt. Und insofern ist es eher erstaunlich, dass es zwar immer wieder Probleme auch größere Probleme in China gibt, aber dass es relativ stabil geblieben ist. Und es scheint so, als ob die chinesische Führung eher daran interessiert ist, dieses schwierige Gleichgewicht zwischen Modernisierung, Internationalisierung auf der einen Seite und Berücksichtigung von lokalen Gegebenheiten auf der anderen Seite zu wahren."

    Und, von wegen rückschrittliches China, schimpft Michael Friedrich. Wenn chinesische Delegationen das sinologische Institut besuchen, staunen die über den Mangel an Geräten und vorsintflutliche Technik. In China ist man, zumindest was den Bildungsetat betrifft, weitaus besser aufgestellt. Sicher gibt es da zu einem 100. Geburtstag auch ein auch Geschenke vom Staat. Michael Friedrichs Institut hat bislang noch keine bekommen.

    "Sie sehen, es ist eine Zeit in der von Geschenken sehr selten die Rede ist. In der Regel nimmt man uns in diesen Tagen eher etwas weg."