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100 Lebenskünstler in Kasernen

Die dänischen Erbseninseln liegen 20 km von der Insel Bornholm entfernt und sicherten als Flottenstützpunkte seit dem 17. Jahrhundert Dänemarks Grenzen. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein: strikter Naturschutz und Denkmalschutz bewahren die Erbseninseln vor dem Eindringen der Zivilisation. Die knapp 100 Inselbewohner leben in dieser Abgeschiedenheit - ohne Hunde, Autos oder Katzen.

Von Hildburg Heider |
    "Wir steuern ungefähr Nord. Das machen wir jeden Tag.

    Welche Geschwindigkeit?

    Ungefähr 9 Knoten."
    Am östlichsten Punkt Dänemarks hat vor anderthalb Millionen Jahren ein Granitsockel die Nase aus dem Meer gestreckt und sie von einem Gletscher falten und polieren lassen. Das Ergebnis: ein paar winzige Inseln mitten in der weiten See, wie Erbsen, die aus einer Tüte gekullert sind. Daher haben sie auch ihren Namen: Erbseninseln, auf dänisch "Ertholmene".
    Käptn Hans steuert das weißlackierte Postschiff "Peter" von Svaneke auf Bornholm zu den Erbseninseln. Anderthalb Stunden braucht das betagte Schiff für die Überfahrt. Es befördert die Tagesausflügler, zweimal monatlich auch den Pfarrer und bringt den Inselbewohnern alles, was man zum Leben braucht.

    "Das Schiff schaukelt viel. Weil wir viel Westwind haben und Ostwind. Immer so quer, dann rollt das Schiff."

    Eine frische Brise zerreißt die Schleierwolken am blassblauen Himmel.

    "Wir fahren jeden Tag auch im Winter eine Tour. Wir hatten Eis in den 80er Jahren. Da liegen wir stille. Wir können nicht im Eis fahren. Da kommt ein Hubschrauber von Rönne mit Post nach Christiansö. "

    "Was ist denn mit dem Trinkwasser, wenn es friert?

    Die trinken dann Milch und Bier."

    Wir nähern uns den beiden Felsbuckeln, die den Naturhafen der Hauptinsel Christiansö flankieren. Den Schiffsanleger bewacht ein runder Turm. Eine dicke rostige Kanone ist direkt auf unser Schiff gerichtet.

    Am Fuße des Großen Turms liegt der Wohnsitz des Inselverwalters. Er ist als eine Art Bürgermeister dem Verteidigungsministerium unterstellt und verfügt über einen Jahresetat von anderthalb Million Euro - die Hälfte davon schlucken die Löhne der 30 Angestellten in Arzt Schule, Hafen oder Elektrizitätswerk.

    "Elektrizität bekommen wir von einem kleinen Kraftwerk. Da sind wir autark. Hier wäre ein idealer Platz für eine Windmühle - denn Wind haben wir hier rund um die Uhr. Aber dürfen hier nichts bauen, alles steht unter Natur - und Denkmalschutz."

    Das eiförmige Christiansö ist 700 Meter lang und über 400 Meter breit; das wesentlich kleinere Frederiksö schmiegt sich in der Form eines Seepferdchen an den großen Nachbarn an, mit einer eisernen Verbindungsbrücke dazwischen. Im Kleinen Turm von Frederiksö ist das Heimatmuseum untergebracht. Hier gibt uns Kjell Stigman anhand eines hölzernen Modells einen Überblick über die Erbseninseln. Doch auch mit bloßen Auge ist diese kleine Welt überschaubar. Hinter den blühenden Fliederbüschen der Nachbarinsel versteckt sich ein Sammelbecken für Regenwasser. Seit ein Geologe 2006 Wasser in den Felstaschen entdeckte, versorgt eine 50 Meter tiefe Bohrung die Erbseninseln nun auch in heißen Sommern mit Trinkwasser - eine spürbare Entlastung des Gesamtbudgets!

    Die empfindliche Natur auf den Erbseninseln zwingt zu äußerster Rücksichtnahme. Windsurfen, Blumenpflücken, Steineklauen ist verboten. Aber auch die Einwohner wünschen sich manchmal mehr Schutz ihrer Intimsphäre.

    "Wenn da 900 oder 1000 Touristen am Tag kommen, wird es hier ganz schön voll. Aber dann zieht man sich in sein Versteck zurück. Abends kommt man dann wieder raus und trifft sich mit den anderen Inselbewohnern zum Plaudern. Wenn das Schlimmste vorbei ist. Mehr als 1000 passen nicht auf die Schiffe, also ist die Zahl zum Glück begrenzt. Und bei schlechtem Wetter kommt gar keiner. Das ist prima!"
    Die Festungsmauer mit ihren Bastionen schützte einst eine Garnison von 450 Mann, die Dänemark gegen Schweden und andere Feinde verteidigten und freche Überfälle auf englische Handelsschiffe unternahmen. Der Große Turm aus dem Jahr 1684 diente sogar als erster vorgelagerter Flottenstützpunkt weltweit und besaß ab 1805 Dänemarks erstes Spiegelleuchtfeuer. Knapp 200 Jahre währte die glorreiche Zeit der Erbseninseln. Bis moderne Waffentechniken die alten Verteidigungsanlagen überflüssig machten. Kasernen, Pferdeställe und Werkstätten verfielen. Nur die Fischer blieben. Schließlich entdeckten die Künstler das Idyll in der Ostsee.

    Die Spuren der wehrhaften Vergangenheit wirken heute malerisch: In der ehemaligen Hauptwache ist der Kramladen untergebracht, im Haus des Kommandanten der Dorfkrug. Hier empfängt uns Marit Starn zum Inselrundgang. Auf ihrem dunklen Strubbelkopf hat sie ein Büschel Petersilie befestigt.

    "Das ist unsere Nationalpflanze hier auf Christiansö. Eine Kreuzung von zwei Petersiliensorten. Und wächst hier das ganze Jahr, auch wenn Schnee ist. Das ganze Jahr."
    Marit ist eine von den 95 Inselbewohnern. Die meisten sorgen als Handwerker für die Erhaltung der Hafenanlage und der Gebäude. Bisher litt das Gemeinwesen an Überalterung - nun sind drei junge Familien mit insgesamt 11 Kindern zugezogen, und Marit forderte mit Gleichgesinnten im Inselrat, dass nur noch Familien mit Kindern ein Zuzugsrecht bekommen sollten. Eine Ärztin und zwölf Feuerwehrleute garantieren für die Sicherheit, drei Lehrer unterrichten die Kinder in drei Räumen bis zum 14. Lebensjahr. Zur Weiterbildung müssen sie dann nach Bornholm oder aufs Festland ins Internat. Nur noch ein Fischerboot liegt vor der Insel - Fischfang hat seit den 80er Jahren einen rasanten Niedergang erfahren.
    Zwei Reihen gelbgestrichener Häuser - die früheren Kasernen - bieten heute Platz für 45 Wohnungen. Stühle und Tische vor den Eingängen ersetzen die Terrasse. Hinter dem Haus hat man Fliesen gelegt, damit die Kinder radfahren lernen. Briefkästen gibt es nicht - der Bote legt die Post einfach vor die Tür.

    Südliches Flair strahlt das Inselchen aus: ein hoher Feigenbaum im satten Grün wirft seinen Schatten auf einen Hühnerkäfig. Vor der Mauer flattert die Wäsche im Wind. Über uraltes Pflaster steigen wir die sogenannte "Italienische Treppe" hinauf.

    Marit schließt uns den privaten Kommandantengarten auf. Am Eingang ein alter Maulbeerbaum. Um den Teich blaue Glockenblumen. Und dann die Souvenirs der weitgereisten Soldaten: echte Palmen, ein Feigenbaum mit Früchten, ein Ginko und ein Affenbrotbaum. Hier hat Marit einmal das dänische Herrscherpaar bewirtet.

    "Königin und Prinz kommen her und trinken Kaffee, essen Rhabarberkuchen auf nichtoffiziellen Besuch. Dann setzen sie hier unter den Walnussbaum und sprechen mit dem Administrator. Ich habe Kaffee serviert und Rhabarbertorten. Sehr süße Leute und ruhige, gemütliche Leute."

    In einem Tümpel mit Seerosen haben sich die Frösche zu einer Massenpaarung versammelt. Kein Säugetier - mit Ausnahme des Igels - wird auf den Inseln geduldet. Doch alles, was Federn hat oder Froschschenkel, ist herzlich willkommen!

    Hinter dem Froschteich befindet sich das östlichste Haus Dänemarks: in diesem gelben Fachwerkhaus wohnt die Inselärztin, die rund um die Uhr Bereitschaft hat. Schwerkranke und Gebärende kann sie nicht betreuen. Das war in alten Zeiten anders, wie uns die Ausstellungsstücke im Inselmuseum beweisen:

    "Auf diesem kleinen Operationstisch haben die Frauen vor ungefähr 70 Jahren ihre Kinder entbunden. Ich würde da nicht liegen wollen - das sieht ja schrecklich aus. Auch die chirurgischen Instrumente von damals wirken ein bisschen wie Folterinstrumente."

    Leben und Tod liegen auf den Erbseninseln dicht beieinander. Wenn ein Bewohner stirbt, wird er aufgebahrt und alle wechseln einander in der Totenwache ab. Einer übernimmt dann die Aufgabe, den Toten auf dem Inselfriedhof zu bestatten, denn einen Totengräber gibt es nicht. Gewöhnlich sind Gespräche über Krankheit, Sterben oder Scheidung Tabu auf den Erbseninseln.

    "Wir können nicht sprechen darüber, weil es tut so weh in die Herzen."

    "Im Frühling bricht das Leben hervor, wenn alles aus dem Winterschlaf erwacht. Da sind noch nicht so viele Leute hier. Da kann man die Natur wirklich genießen. Daher kommen viele Naturbeobachter hierhin. Viele Zugvögel auf ihrem Flug nach Schweden und Norwegen machen hier Station. Deswegen gibt es im Frühling und Herbst hier besonders viele verschiedene Vogelarten."

    Kjell führt uns hinter einen duftenden rosa Wildrosenbusch zu einer zweistöckigen Natursteinhütte. Hier verbringt der Fernsehjournalist Rolf Jonshöj seinen Sommerurlaub. Ohne jeden Komfort - vollkommenes Sommerglück!

    "Das ganze Insel ist mein Lieblingsplatz in Dänemark. Dies kleine Häuschen hier ist besonders wunderbar. Hier ist man ist ganz für sich selber. Keine Touristen kommen hierhin. Es ist ein bißchen versteckt. Das ist gut für mich. 49'58 "Ich bin ...hier mit meinem Segelboot gekommen 1980. Ich hab gefunden: es war charmant. Und das nächste Jahr haben wir das Glück gehabt, so ein kleines Sommerhaus leihen zu können. Und ...nachher sind wir fast jedes Jahr wieder zurückgekommen. Wir kennen fast alle Leute hier. Unsere Kinder kennen die Kinder der Fischer und der Handwerker hier auf dieser Insel. Wir sind hier zuhause."

    Selbstverständlich hat er auf seinem Akkordeon Inselmelodien einstudiert

    "Es ist schon sehr eigenartig hier zu leben. So weit weg vom Rest der Gesellschaft. Man muss schon eine besondere Natur haben, die Einsamkeit vorübergehend gut ertragen können. Bei schlechtem Wetter kann man nirgendwohin ausweichen."

    "Wir haben nicht Autos, und wir brauchen unsere Beine, und wir müssen uns selbst unterhalten hier. Und dann haben wir eine speziell Christiansö-Musik mir Bass und Akkordeon und Gitarre. Und dann spielen drei Männer, und wir tanzen: Kinder und Alte und dazwischen. Wir tanzen in unserem Versammlungshaus, der Mond. Dann haben wir viel Spaß. Und die großen Kinder lernen die kleinen Kinder tanzen. Wir haben einen speziellen Walzer, der heißt Inselwalzer. Wir gehen draußen, bei Regen und Schneewetter. Wir bewegen uns draußen."

    "Das Gemeindehaus namens "Der Mond" liegt auf der kleinen Insel Frederiksö."

    "Wir sehn dieselben Köpfe die ganze Jahr. Aber kennen einander. Und wir sind eine große Familie auf Freuen und Sorgen."

    Trotzdem kann es auch mal richtig krachen.

    "Dann redet man offen miteinander und einigt sich. Normalerweise verträgt man sich. Hier gibt es keine grundsätzlichen Feindschaften, höchstens mal kleinen Ärger."

    "Wir helfen einander. Ich kann Lederarbeit. Und mein Nachbar kann stricken. Wir versammeln uns einmal wöchentlich im Winter - nur die Damen - und dann lernen wir und lachen und finden viel Spaß. Wir machen einen Flohmarkt im Frühling. Wir mieten einen Tanzlehrer, junge Leute und alte."

    Nicht weit vom "Mond" ist das ehemalige Gefängnis mit dem Haus des Henkers. Es war das erste politische Gefängnis in Dänemark, errichtet speziell für Dr. Jakob Jakobsen Dampe. Er war Demokrat, also brandgefährlich. 1819 bekam er Redeverbot, fünf Jahre saß er im Kopenhagener Gefängnis, weitere 16 Jahre verbrachte er auf Christiansö. In einer Vitrine sieht man die Kopie des Steins, in dem er seine Kassiber nach draußen schmuggelte. Dampes Schriften werden heute in der Königlichen Bibliothek verwahrt. Fünf der sechs Gefängniszellen werden heute als Gästezimmer vermietet.

    Wir gehen über die schmale Eisenbrücke zurück nach Christiansö bis zum Ende der Welt. So heißt wirklich der Fußballplatz, auf dem einst die Soldaten exerzierten. Daneben ist ein kleiner Zeltplatz für unerschrockene Naturliebhaber. Ein paar Schritte weiter wohnt unsere Begleiterin Marit.

    "In meinem Haus lebe ich zwischen dem Weltende und dem Mond."

    Unser Schiff nach Bornholm wartet am Landungssteg. Marit schenkt mir Petersiliensamen zum Abschied. Eine Spezialzüchtung. Ob sie wohl bei uns wachsen wird?

    Alle Touristen müssen die Insel wieder verlassen, bis auf die wenigen, die eines der sieben Hotelzimmer gebucht haben. Auch der ganze Müll kommt mit nach Bornholm, die Post und der Fischfang. Das Schiff nimmt Fahrt auf Bornholm. Noch sehe ich Marit die rot-weiße dänische Flagge schwenken. Dann schrumpft auch der Große Turm, und wieder fahren wir lange Zeit übers bleigraue Meer.