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100 Tage schwarz-grüne Koalition in Hamburg

In den ersten 100 Tagen hat sich die schwarz-grüne Koalition in Hamburg nach Einschätzung der zweiten Bürgermeisterin, Christa Goetsch, "recht ordentlich" geschlagen. Man habe wie schon in den Koalitionsverhandlungen einen fairen Umfang miteinander gepflegt und insbesondere bei der Schulpolitik einen Weg in der "goldenen Mitte" gefunden, sagte die Grünen-Politikerin.

Jürgen Liminski im Gespräch mit Christa Goetsch | 14.08.2008
    Jürgen Liminski: Heute ist die 100-Tage-Frist vorbei, in der man mit Fehlern, Krach oder Unstimmigkeiten in einer neuen Koalition hätte ein Nachsehen haben können. Aber die schwarz-grüne Koalition in Hamburg hat kein Aufsehen erregt. Es scheint, ruhig anzugehen an der Elbe. Gibt es keine Fettnäpfe oder Kann-Bruchstellen? Wie steht es mit der Energiepolitik, wie mit der Schulpolitik? - Zu diesen Fragen begrüße ich die zweite Bürgermeister der Hansestadt. Sie ist auch Senatorin für Bildung und Schule, Christa Goetsch von den Grünen. Guten Morgen, Frau Goetsch.

    Christa Goetsch: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Frau Goetsch, 100 Tage schwarz-grün. Wie sieht Ihre erste Bilanz aus?

    Goetsch: 100 Tage sind kurz, aber das ist eine recht ordentliche Situation und so, wie wir in den Koalitionsverhandlungen ja einen fairen Umgang miteinander gepflegt haben, ist das so. Wir haben uns ein mächtiges Arbeitsprogramm bei den Koalitionsverhandlungen auferlegt und daran arbeiten wir.

    Liminski: Nun schwimmen oder treiben sie im breiten Strom des Beginns. Die erste Klippe dürfte die energiepolitische Frage um das Kohlekraftwerk Moorburg werden. Wäre das eine Soll- oder Kann-Bruchstelle?

    Goetsch: Moorburg ist sicherlich eine sehr wichtige Frage, die viele umtreibt. Aber wir treiben nicht in der Elbe, um unseren Fluss hier zu benennen, sondern es ist hier im Verfahren. Das heißt die wasserrechtlichen Genehmigungsverfahren werden geprüft. Das ist in Arbeit und juristischen Verfahren kann ich nicht vorgreifen. Da werden wir die Entscheidung abwarten.

    Liminski: Aber hier gibt es auch eine politische Variante. Gerade der Krieg im Kaukasus hat uns die Abhängigkeit vom Öl noch einmal vor Augen geführt - den Deutschen übrigens mehr als anderen, weil wir auf Kernkraft verzichten wollen, während überall sonst in Europa die Atomkraft eine Renaissance erlebt. Können wir es uns leisten, auf die Atomkraft zu verzichten, oder stellen Sie sich diese Frage in Hamburg einfach nicht?

    Goetsch: Na ja, das wäre ein bisschen verantwortungslos. Wir brauchen natürlich eine vernünftige Energieversorgung. Wir halten am Atomkonsens, also am Ausstieg fest, also an den entsprechenden Laufzeiten, und wir haben ja auf Bundesebene als Grüne entschieden, keine neuen Kohlekraftwerke zu bauen. Ich denke, dass das eine vernünftige Haltung ist, und alle, die erzählen, uns gehen dann die Lichter aus, das ist einfach falsch. Sie wissen auch sicherlich aus den neuesten Studien, dass 20 Milliarden Terawatt Strom überproduziert wird für den Export. Alle die dort schreien, die Lichter gehen aus oder die Energieversorgung ist nicht gewährleistet für gewisse Schwerindustrien, das halte ich für wirklichen Unsinn. Deshalb werden wir auf die Energien setzen, die wir hier geplant haben. Das zum einen, aber Moorburg selbst eben ist eine juristische Frage.

    Liminski: Zur Bildungsreform. Das scheint das Paradestück der neuen Koalition zu werden. Gibt es dort keine Widerstände aus der Bürgerschaft?

    Goetsch: Natürlich gibt es Widerstände. Gegen Neues und Ungewohntes gerade für deutsche Verhältnisse, die wir ja immer noch nicht auf europäischem Standard in der Schulpolitik sind, ist es natürlich so, dass es sich teilweise polarisiert. Wir haben zwei Volksinitiativen. Das heißt die eine ist schon ein Volksbegehren. Die einen wollen die Schule für alle. Denen geht unsere Reform "längeres gemeinsames Lernen bis zur sechsten Klasse" nicht weit genug. Und die anderen sagen, es soll alles so bleiben wie es ist. Die grundständigen Gymnasien müssen erhalten bleiben, weil sonst der Untergang des Abendlandes angesagt ist. Wir sind in der goldenen Mitte und machen eigentlich nichts anderes, als was europäischer Standard ist. Deutschland hat immer noch diese Sondersituation, zehnjährige Kinder nach der Klasse vier zu trennen. Aber wie gesagt: Es geht nicht nur um Strukturen, sondern es geht auch um eine bessere Unterrichtsqualität, um Individualisierung des Unterrichts, um wirklich die Talente nicht zu verschenken. Wir brauchen alle Fähigkeiten der Kinder, und deshalb ist der Unterricht, die Rahmenbedingungen für den Unterricht und die Fortbildung der Lehrer eine zentrale Frage in unserer Reform.

    Liminski: Dazu kommen wir gleich. Stützen Sie sich bei Ihrem neuen Modell auf Erfahrungen im Ausland? Die individuelle Betreuung ist ja eines der Geheimnisse des PISA-Siegers Finnland.

    Goetsch: Zum einen sind sicherlich die skandinavischen Länder Vorbilder, aber auch die Schweiz und die Niederlande. Ich sagte eben schon: europäischer Standard. Gerade die Niederlande und die Schweiz haben sehr, sehr gute Erfahrungen mit guten Ergebnissen, und auch dort ist zum Beispiel nicht das humanistische Gymnasium untergegangen. Wir werden hier natürlich auch in diesen sechs Jahren eines nicht machen wie in Berlin, dass wir nicht auch Gymnasiallehrer unterrichten lassen und entsprechende Fremdsprachenangebote machen. Also es geht darum, nicht nur in eine Richtung zu fördern, sondern eben auch ein anspruchsvolles Angebot für die Stärkeren, für die Schnelleren zu haben.

    Liminski: Ihr Modell ist personalintensiv, mithin auch kostenträchtig. Wie viele neue Lehrer brauchen Sie, und was machen Sie mit den alten, die das neue System nicht kennen?

    Goetsch: Die alten Lehrer werden ein sehr, sehr attraktives Fortbildungsprogramm bekommen. Wir haben Gott sei Dank in den Koalitionsverhandlungen ein gutes Ergebnis, was die Lehrerzahl angeht. Wir werden für einen zweistelligen Millionenbetrag jedes Jahr neue Betriebsmittel bekommen, so dass wir in der Lage sind, die Klassen zu verkleinern, neue Lehrer einzustellen. Wir haben jetzt schon zum 1.8. 100 neue Lehrer eingestellt, und jetzt zum Doppelhaushalt werden es noch mal eine ganze Reihe mehr, weil das einfach nötig ist. Sie können nur in kleineren Klassen individualisiert arbeiten. Das ist das eine. Ich glaube, man kann auch mit über 50 noch etwas Neues lernen. Wie gesagt, ich halte es auch für eine kluge Entscheidung, eine Personalentwicklung zu betreiben, wo die verschiedenen Schulformen, das Personal der Schulformen zusammenarbeitet und voneinander lernt, zum Beispiel auch die Methodenkompetenz, um individualisiert zu fördern.

    Liminski: So eine Reform, Frau Goetsch, ist auf lange Zeit angelegt. Denken Sie auch koalitionspolitisch über die Legislatur hinaus?

    Goetsch: Also ich bin keine Prophetin. Bildungsreformen sind sicherlich nicht in Legislaturen zu denken. Das ist immer etwas schwierig. Das dauert länger. Aber wir sind, denke ich - das zeigen alle Studien -, auf dem richtigen Weg. Auch selbst in den Ländern, wo es noch sehr stark ideologisiert in die Dreigliedrigkeit geht, auch da denkt man schon, ich sage mal, unter der Hand nach, dass man das aufbrechen muss, weil wir einfach hier in Deutschland hinterherhinken im europäischen Vergleich.

    Liminski: Wo ist das der Fall?

    Goetsch: Na ja, Sie wissen, dass die südlichen Bundesländer da immer noch sehr starr an der Dreigliedrigkeit festhalten. Aber ich konnte selbst mit eigenen Augen vor einigen Wochen sehen, dass jetzt in Bayern ein Hauptschulsterben einsetzt. Da sind wir hier ja schon einen ganzen Schritt weiter, muss man sagen.