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12.1.1829 - Vor 175 Jahren:

Wer kennt nicht eine romantische Idee von der Liebe, diese alte Sehnsucht nach Verzauberung, die sowohl ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat wie auch zugleich das Erlebnis des Freiseins, des Traums nach Erlösung von solcher Bindung, in sich trägt? In der deutschen Literatur ist vor allem Friedrich Schlegels 1799 erschienener Roman Lucinde als beispielhafter Ausdruck dieser romantischen Liebesidee gelesen worden:

Von Christian Linder | 12.01.2004
    So schaut das Auge in dem Spiegel des Flusses nur den Widerschein des blauen Himmels, die grünen Ufer, die schwankenden Bäume und die eigne Gestalt des in sich selbst versunkenen Betrachters. Wenn ein Gemüt voll unbewusster Liebe da, wo es Gegenliebe hoffte, sich selbst findet, wird es von Erstaunen getroffen. Doch bald lässt sich der Mensch wieder durch den Zauber der Anschauung locken und täuschen, seinen Schatten zu lieben. Dann ist der Augenblick der Anmut gekommen, die Seele bildet ihre Hülle noch einmal. Und atmet den letzten Hauch der Vollendung durch die Gestalt. Der Geist verliert sich in seiner klaren Tiefe und findet sich wie Narcissus als Blume wieder. Liebe ist höher als Anmut und wie bald würde die Blüte der Schönheit fruchtlos welken ohne die ergänzende Bildung der Gegenliebe! Nicht der Hass, wie die Weisen sagen, sondern die Liebe trennt die Wesen und bildet die Welt, und nur in ihrem Licht kann man diese finden und schauen.

    Der hohe romantische Ton, der Schlegels Roman durchzieht, hat die zeitgenössischen Leser nicht davon abgehalten, auf den direkten autobiographischen Hintergrund des Buches zu achten, das auch unverschlüsselte Schlafzimmereinblicke gewährte, und der Skandal war da. Erst spätere Generationen haben das Buch als Programmschrift der Romantiker gelesen und verstanden. Ein offenes Buch ohne durchgehende Handlung, aus Ideenfragmenten zusammengesetzt, radikal neu poetisch, ein Roman, der in sich die Theorie des Romans ausbreitet. Er sei der Oberpriester, bescheinigte Novalis seinem Freund Schlegel, er habe durch ihn "Himmel und Hölle kennen gelernt und von dem Baum der Erkenntnis gekostet". Zu dem Zeitpunkt galt Schlegel bereits als einer der faszinierendsten Köpfe in der deutschen Literatur. Geboren am 10. März 1772 in Hannover als jüngstes von sieben Kindern eines evangelischen Pastors, war Friedrich Schlegel ein zur Depression neigendes Kind. Der Vater schickte den Jungen, um ihm festen Boden unter den Füssen zu geben, in eine Banklehre nach Leipzig. Doch der Junge brach bald aus und studierte, zunächst an der Seite seines später ebenso berühmten Bruders August Wilhelm, in Göttingen Jura, dann Klassische Philologie. Friedrich Schlegels provokative Überlegungen und nicht zuletzt sein Formuliertalent machten aus ihm bald einen modernen Typ des europäischen Schriftstellers: er war Kulturhistoriker wie Literaturkritiker, selber freier Schriftsteller, lange Zeit auch – nach seiner Habilitation – Professor unter anderem an der Universität Köln. Er schrieb viel und Verschiedenartiges: neben Prosa theoretische Essays zur alten und neuen Literatur, glänzende, vor allem in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Athenäum veröffentlichte Aperçus, in denen es von geistreichen intellektuellen Manövern und Pointen wimmelt: so wenn er Homers "Odyssee" als "das älteste romantische Familiengemälde" feierte und Goethe einen "poetischen Kant mit Grazie" nannte. Schlegel träumte die romantische Poesie als eine "progressive Universalpoesie".

    Ihre Bestimmung ist nicht bloss, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen ... Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen.

    Von Goethe, dem Freund, hat Friedrich Schlegel sich später abgewandt und dessen "Heidentum" polemisch angegriffen. Da war Schlegel konvertiert und hatte sich in den Schoss der katholischen Kirche begeben – aus dem Provokateur von einst, dessen Werk Novalis als "Versprechen des Aufbruchs" gewürdigt hatte, war für viele ein Mann der Restauration geworden, der sich in Wien in den Dienst Metternichs stellte und altdeutschen Kaiserträumen nachhing. In der Nähe Metternichs konnte er jedoch nicht ganz reüssieren, und er zog sich wieder nach Deutschland zurück, lebte zuletzt in Dresden und sortierte seine Manuskripte, um seine Gesamtausgabe vorzubereiten. Gestorben ist Friedrich Schlegel, der sich seit 1815, nachdem er geadelt wurde, "von" Schlegel nennen durfte, am 12. Januar 1829 nach einem Schlaganfall. Viele seiner romantischen Ideen haben überlebt und sind von späteren Theoretikern wie Adorno und Gadamer eingelöst worden, während das Konzept einer offenen, mit romantischer Ironie spielenden Literatur von Schriftstellern wie Thomas Mann oder Robert Musil vollendet wurde.