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12.5.1939 - Vor 75 Jahren

Tragisch war ihr Leben und ihre Philosophie von den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts überschattet. In diesem Sinn sind sie exemplarisch. Agnes Heller, die l978 in den Westen ging und heute in New York und Budapest lebt, hat nicht zufällig die Ethik und die Philosophie der Geschichte in den Mittelpunkt ihres philosophischen Fragens gestellt. Eine der Soziologie und Anthropologie nahe Philosophie. Emphatisch, immer mit Bezug auf den Menschen in der Alltagssituation seiner Bedürfnisse, Probleme und Konflikte. (Mit Buchtiteln wie "Der Mensch in der Renaissance", "Alltag und Geschichte", "Theorie der Gefühle" und "Ist die Moderne lebensfähig?")

Von Ariane Thomalla | 12.05.2004
    Es war am l9. März l944, als sich das Leben der fünfzehnjährigen Geige spielenden Tochter aus jüdisch-assimiliertem Haus schlagartig änderte. An einem schönen Sonntag-Nachmittag aus einem Schönberg-Konzert kommend, stieß sie draußen auf die deutschen Panzer. Die Terrorkommandos der Pfeilkreuzler begannen ihre Jagd auf die Juden. Da sei ein leidenschaftlicher Lebenswille in ihr "aufgelodert", erzählt sie in ihrer Biografie. So sei sie mehrfach überraschend entkommen. Zum Beispiel, als sie aus einer Gruppe zur Deportation eingesammelter Juden, in der auch der vierzehnjährige Imre Kertesz marschierte, auf eine Straßenbahn sprang. Die auf dem Trittbrett hängenden Menschen hätten blitzschnell die Reihe geschlossen. Zweimal entrann sie dem Blutbad an der Donau.

    Als ich bei der Donau stand und wartete, ob man mich hineinschießt oder nicht, habe ich doch an die Möglichkeit gedacht, mich in die Donau zu werfen, um schwimmen zu können.
    Ein Jahr später, l945, waren die meisten Verwandten und Freunde tot. Auch der Vater. Wie nach der Hölle gegen die Holocaust-Neurose angehen? Man habe einen totalen Erlösungsglauben gebraucht. Zuerst versuchte sie es mit dem Zionismus. Danach mit dem Kommunismus. Dass sie, die zeitlebens so kritisch war, so lange Kommunistin blieb, hatte mit jenem Tag l948 zu tun, da die 18jährige Chemie- und Physik-Studentin zu einer Philosophie-Vorlesung mitgeschleppt wurde. Da saß am Redepult ein kleiner, leiser, Geistigkeit und unabhängige Großbürgerlichkeit ausstrahlender Mann.

    Ich habe Lukacz gehört, ich habe überhaupt kein Wort verstanden. Aber eins verstand ich, dass dies die wichtige Sache ist und dass ich das verstehen muss und soll. Und dass mein ganzes Leben darüber gehen wird.

    Aber:

    Man konnte nicht ein Lukacz-Schüler werden, ohne ein Kommunist zu sein.

    Sie wurde seine Studentin, Assistentin,Vertraute. Eine steile Universitätskarriere, die l956 jäh endete, als die Sowjetarmee den ungarischen Volksaufstand niederschlug.
    1956 war und ist das größte politische Ereignis in meinem Leben gewesen. Die symbolische Geste der Zertrümmerung der Stalinstatue, der Zerstückelung der Diktatur, der Tyrannei - haben mein zukünftiges Leben bestimmt.

    Danach schien das Land, so ihre Worte, "in der Dunkelheit eines endlosen Tunnels" begraben zu sein. "Das Schicksal hatte mich in eine Grube geworfen". Sie wurde aus der Partei ausgeschlossen. Berufsverbot und Schreibverbot folgten. l965 überlistete Agnes Heller die Partei und fuhr zur Sommeruniversität ins jugoslawische Korcula, wo sie Iring Fetscher, Leszek Kolakowski und Jürgen Habermas traf und sich an der Vielfalt der Facetten des Marxismus begeisterte, auch wenn sie sich später radikal abkehrte. In Korcula war es auch, dass sie und ihre Freunde - die "Budapester Schule" - l968 auf offener Bühne gegen den Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei protestierten. Eine für sie gefährliche Aktion:

    Und da kommt Ernst Bloch, der Alte, der Doyen des linken Denkens und umarmt mich und küsst mich – und das war doch ein wunderbares Moment.

    1978 emigrierte sie mit ihrem Mann, dem Philosophen Ferenc Feher, nach Australien, um in Melbourne Soziologie zu lehren. Neun Jahre später trug man ihr den Hannah-Arendt-Lehrstuhl in New York an. Gern spricht sie darüber, warum sie sich so leidenschaftlich auf die Ethik und die Philosophie der Geschichte geworfen habe.

    Weil ich glaubte, dass ich eine Verantwortung zu meinen Toten trage. Ich wollte imstande sein, darüber etwas zu sagen, warum und weswegen sie getötet wurden.

    Ihr ganzes Leben sei wie ein Umweg gewesen, nötig durch Auschwitz und durch den GULAG. Erst heute könne sie Bücher schreiben wie "Der Begriff des Schönen".