Samstag, 20. April 2024

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125. Geburtstag von Sergej Jessenin
Der Pop-Poet der Zarin

Sergej Jessenin war ein Popstar im Moskau der 1920er-Jahre. Das weibliche Publikum einschließlich der Zarin riss sich um den Lyriker, dessen Gedichte mit ihrer emotionalen Wucht bis heute in Russland präsent sind. Vor 125 Jahren wurde er geboren.

Von Christian Linder | 03.10.2020
    schwarz-weiß Portätaufnahme von Sergei Alexandrowitsch Jessenin der russische Lyriker, der zu den besten und zugleich volkstümlichsten Dichtern Russlands gezählt wird. starb durch Suizid im Alter von 30 Jahren.
    Sergei Alexandrowitsch Jessenin 1915 (imago stock&people)
    Das spektakuläre Ende von Sergej Alexandrowitsch Jessenins stürmischem Leben und Schreiben löste in seinen Lesern ein inneres Erdbeben aus: Erst dreißig Jahre alt, erhängte er sich am 28. Dezember 1925 an einem Heizungsrohr im Zimmer Nummer 5 des Hotels "Angleterre" in Leningrad. Vorher hatte er sich, in Ermangelung von Tinte, mit einer Rasierklinge den Unterarm aufgeritzt, die Feder ins Blut getunkt und sein letztes Gedicht geschrieben. Paul Celan hat es später ins Deutsche übersetzt und auch öffentlich vorgetragen. Die ersten Zeilen lauten:
    "Freund, leb wohl. Mein Freund, auf Wiedersehen. / Unverlorner, ich vergesse nichts. / Vorbestimmt, so wars, du weißt, dies Gehen. / Da’s so war: ein Wiedersehn versprichts."
    Selbststilisierung als "letzter Dorfpoet"
    Der frühe Tod und seine Umstände nähren bis heute die Legende um Sergej Jessenins Person. Geboren am 3. Oktober 1895 in dem bei Rjasan gelegenen Dorf Konstantinowo, gab er sich später in Moskau oder Sankt Petersburg als »letzter«, romantisierender »Dorfpoet« und erzählte von seiner Kindheit und Jugend an den Ufern des Oka-Flusses und dem Leben in Feldern, Wiesen und Wäldern:
    »Stickereien überm Walde, / goldner Wolken leichter Schaum, / hör die Fichten von der Halde / flüsternd leis in meinem Traum. Ich vergaß der Menschen Kummer / schlafend auf dem Reisigbeet, / geh zum Bach nach tiefem Schlummer, / Morgenrot ist mein Gebet.«
    Gern gesehen bei der Zarin und im Roten Kreml
    Es war der freie Fluss der Sätze und die Emotionalität der Bilder in diesen volksliedhaft klingenden und später oft vertonten Gedichten, die den Lesern gefielen. Lesungen des Autors besaßen die Aura von Auftritten heutiger Popstars. Ein Beau mit blonden Haaren, blauen Augen und einem sinnlichen Mund, lag ihm vor allem das weibliche Publikum buchstäblich zu Füßen.
    Die Zarin ließ sich sogar von dem ruhmumstrahlten 21-Jährigen privatissime vorlesen. Später, nach der von Jessenin begrüßten Revolution, die Auftritte im Kreml, aber zum Parteigänger fühlte er sich nicht berufen. Er blieb der anarchische und widerspruchsvolle Individualist, der vom »Bauernparadies« träumend zugleich in den vornehmen Salons wie ein Dandy in elegantester Kleidung auftrat und gern von seinen – schon in frühesten Gedichten bekundeten – Ausschweifungen in seinem Liebesleben erzählte:
    »Kommst auf abendlichem Weg mir entgegen scheu, / setzen uns bei Nachbars Haus gleich ins frische Heu. Muss dich küssen heiß im Rausch … Weg wirfst du das seidne Tuch, endlich mein zu sein, / trag dich, Liebste, bis es tagt, ins Gesträuch hinein.«
    Grand Tour durch die Welt und Moskaus Kneipen
    Eine besonderes Aufsehen erregende, seiner zahlreichen, allesamt gescheiterten Ehen schloss Jessenin 1922 im Alter von 26 Jahren mit der weltberühmten, 44-jährigen amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan und reiste mit ihr durch halb Europa und Amerika. Dieses Unterwegssein lehrte ihn vor allem eines:
    »Das Große zeigt sich aus der Ferne.« Das Große war Russland, und dorthin allein zurückgekehrt, schrieb er Gedichte über das »Moskau der Kneipen«. Im Schlepptau seine treue Fangemeinde, weiteten sich die realen Kneipen-Streifzüge immer mehr aus, so dass manche Sanatoriumsaufenthalte notwendig wurden. Sein Ton verdunkelte sich zunehmend. Verse eines knapp 30-jährigen:
    »Keine Klage mehr, kein Ruf …/ War ich jung? Es ist vorbei.« Bald darauf das Ende und das letzte Gedicht. In der Übersetzung Paul Celans und seinem Vortrag lauten die Schlusszeilen:
    » Sterben – nun, ich weiß, das hat es schon gegeben; / doch: auch Leben gabs ja schon einmal.«