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138 Stunden Kolonialgeschichte

Das "Institut national de l´audiovisuel" hat dem algerischen Fernsehen Kopien von insgesamt 1862 Ton- und Filmaufnahmen aus der Zeit von 1940 bis 1962 überlassen. "Algérie, une mémoire restituée", "Algerien, eine wiederhergestellte Erinnerung", heißt die Sammlung, eine gewaltige Dokumentation der Geschichte des Maghrebstaates.

Von Kersten Knipp | 18.02.2008
    Szenen eines Traums und eines Traumas. In den frühen 60er Jahren demonstrieren die Algerier für ihre Unabhängigkeit. Und die französische Kolonialmacht gibt am Ende klein bei. Sie zieht sich aus dem Land zurück. Gut 45 Jahre später können die Algerier diese Szenen dank einer großzügigen Schenkung noch einmal erleben. Man solle die französisch-algerischen Beziehungen nicht neu schreiben, hatte Präsident Nicolas Sarkozy kurz nach seinem Amtsantritt gemahnt. Gegen diese Position wurden vor allem in Algerien, aber auch in Frankreich Stimmen laut. Dennoch wird auch die jetzt erfolgte Schenkung die französisch-algerisch Vergangenheit nicht in neuem Licht erscheinen lassen. Denn die Herrschaft der Franzosen, so der algerische, an der Sorbonne lehrende Kulturwissenschaftler Mourad Yelles, hatte gleichermaßen gute wie schlechte Konsequenzen.

    "Die Algerier sahen sich ideologischen, kulturellen und politischen Herausforderungen gegenüber, die sie selbst nicht geschaffen hatten. So existierte etwa die Idee politischer Parteien vor dem Kolonialismus überhaupt nicht. Heute hingegen gibt es viele politische Parteien in Algerien. Und die Eliten des Landes lernten die Philosophie der Aufklärung kennen, die sie sehr bewunderten. Natürlich brachte der französische Kolonialismus dem Land auch ungeheuren Schaden. Aber insgesamt kann man sagen, dass wir mit dem Kolonialismus in das Zeitalter einer vielfältigen Moderne getreten sind."

    Es ist geschafft. Algerien ist unabhängig. Ben Bella, der ehemalige Freiheitskämpfer und erste Präsident des Landes, erläutert seine Vorstellungen zu Politik und Ökonomie. Unter seiner Herrschaft schlägt das Land einen sozialistischen Kurs ein - und spiegelt damit, so der Maghreb-Historiker Benjamin Stora, die Vielfalt politischer Strömungen jener Zeit. Denn entgegen heute weit verbreiteter Annahmen war die Religion nur ein ideologischer Faktor unter mehreren.

    "Man kann die Religion auf verschiedene Art deklinieren. Sie kann Grundlage der Identität oder Kennzeichen nationaler Zugehörigkeit sein, sie kann der politischen Mobilisierung dienen. Sie ist etwas Wichtiges. Aber es gibt auch Prozesse um die Politik zu säkularisieren. Die Religion ist keinesfalls der einzige Faktor für die Herausbildung des algerischen Nationalismus sehen. Es gibt auch andere Faktoren: den Kemalismus, der arabische Nationalismus, die Ideale der französischen Revolution. Und als 1954 die Nationale Befreiungsfront gegründet wurde, flossen dort ganz verschiedene Faktoren mit ein. Sie kamen aus dem Nahen Osten, aus Europa, aus dem europäischen Nationalismus. Erst später dann setzte sich die Religion als wesentlichste Referenzpunkt durch."

    Wüste, Palmen, Kamele - die Orientromantik wird auch in den 50er Jahren noch nach Kräften bedient. Auch das dokumentiert die Sammlung. So bezeugt sie neben nüchterner Kolonialpolitik auch die Faszination des Fremden, die die Franzosen seit spätestens seit Napoleons Ägyptenfeldzug empfanden. Die entsprechenden Klischees, meint Mourad Yelles, hat Algerien bis heute nicht restlos überwunden.

    "Die Europäer, die Reisenden und Künstler haben uns in die gewaltige Rubrik der Eingeborenen gesteckt. Wir galten fortan als Orientalen, und es hat uns große Mühe gekostet, dieses Klischee zu überwinden - das Klischee des Beduinen auf seinem Kamel, der eine unverständliche Sprache spricht. So haben diese Künstler den Franzosen zwar ein Bild von uns vermittelt, das auch später, durch Filme wie etwa Casablanca, weiter gepflegt wurde. Es ist aber ein falsches Bild, mit dem wir uns auch heute noch sehr oft herumschlagen müssen."

    Derzeit macht sich Frankreich für eine vor allem wirtschaftlich ausgerichtete Mittelmeerunion stark. Die Übergabe der Ton- und Filmdokumente sowie der Plan, in naher oder ferner Zukunft ein von den Anrainerstaaten des Mittelmeeres gemeinsam betriebenes Internetportal einzurichten, könnten den kulturellen Auftakt zu dieser Union bilden. Als solcher scheint er Bereitschaft zum Dialog auf Augenhöhe zu signalisieren. Denn den Anspruch auf Deutungshoheit über die Vergangenheit hat Frankreich mit dieser Schenkung aufgegeben.