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150 Meter breit, 23 Meter tief

Europas größter Wasserfall, der Rheinfall bei Schaffhausen, stellte für die Schifffahrt lange ein ärgerliches Hindernis dar, denn er blockierte eine wichtige Handelsroute. Das freute die Schaffhausener, die mit dem notwendigen Verladen von Waren ihren Wohlstand und die hübschen Bürgerhäuser finanzierten.

Von Hans-Peter Frick |
    Den besten Blick auf den Rheinfall hat der Besucher von den Rhenania-Terrassen. Der Park in Hügellage ist das Einzige, was vom einstigen Grandhotel "Schweizerhof" übrig geblieben ist. Von dort sieht er, wie das Wasser 23 Meter in die Tiefe stürzt. Mittendrin zwei schlanke Kalkfelsen, an denen sich die Wassermassen teilen und schäumend vorbei donnern. An manchen Tagen kippt der Rhein 600.000 Liter in der Sekunde über die Felsenkante. Dieses Volumen ist in Europa einmalig.

    Die Wassermassen ergießen sich in ein breites Becken, beruhigen sich und fließen dann Richtung Westen weiter nach Basel.

    Die Rhenania-Terrassen liegen nördlich des Katarakts, gehören also zum Kanton Schaffhausen. Die andere Flussseite, wo das Schloss Laufen auf einem Felsen thront, liegt im Kanton Zürich. Der Wasserfall grenzt also zwei Schweizer Kantone ab. Aber auch die beiden deutschen Landkreise Waldshut im Westen und Konstanz im Osten liegen nur wenige Kilometer entfernt.

    Im Motorboot von Thomas Mändli haben 30 Touristen Platz. Der Fährmann bringt seine Gäste direkt an die Unterkante des mächtigen Wasserfalls, in Tuchfühlung mit dem nassen Naturereignis.

    "Der Rheinfall hat ja in der Mitte einen Felsen, den kann man besteigen. Der ist nur mit diesem Schiff erreichbar. Ich fahre von beiden Rheinseiten hier in die Mitte, wo die Leute aussteigen können. Dann gehen die Leute hoch, 30 Meter, hat superschönes Panorama über die Rheinfälle."

    Mändli steuert das Boot mit hoher Konzentration gegen die Wucht des herabstürzenden Rheines an.

    "Man muss die Strömung kennen. Mit Kraft ist nichts zu wollen. Es ist wie auf der Kirmes. Manchmal schaukelt es extrem. Gewisse Leute haben es nicht gerne, manche mögen es zu schätzen. Für uns ist schon die Zeit nach der Schneeschmelze die schwierigste Zeit. Der Rheinfall hat heute ca. 290 Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Nach der Schmelze kann er so auf 600 Kubikmeter anschwellen. Dann ist er schon sehr heimtückisch."

    Wer auf der schmalen Metalltreppe auf die Felsennadel hochklettert, sieht, wie der Rhein über Stromschnellen und durch die steinernen Bögen einer alten Eisenbahnbrücke auf die Felskante zuströmt. Oben bewegen sich die Wassermassen noch auf einer Kalksteinplatte, unterhalb des Falls setzt der Rhein seinen Weg in einem eiszeitlichen Schotterbett fort.

    Europas größter Wasserfall ist erdgeschichtlich gesehen ein Baby. Er hat seinen Verlauf erst vor etwa 15.000 Jahren eingenommen. Davor war der Rhein durch Nachbargebiete mäandriert.

    Die Kalksteinkante bei Schaffhausen blieb auch für die Schifffahrt lange Zeit ein Hindernis. Der Rheinfall blockierte eine Handelsroute, die im Mittelalter von Österreich kommend bis Basel führte. Zwischen dem Bodensee und Basel verkehrten Lastkähne mit Ladungen an Getreide, Wein, Tuchen und vor allem mit Salz. Der pensionierte Geschichtslehrer und ehemalige Fremdenführer Robert Pfaff schildert, wie die Waren von Schaffhausen ins benachbarte Neuhausen, wo der Rheinfall eigentlich liegt, gelangten:

    "Die Schifffahrt Bodensee-Basel wurde unterbrochen durch den Rheinfall. Folglich mussten sie in Schaffhausen die Waren ausladen, sie wurden gestapelt. Das war ein wichtiger Grund für die Entstehung der Stadt. Und dann musste die Ware mit Fuhrwerken weiter an den Rheinfall transportiert werden. Durch Neuhausen, die Stadt hindurch. Erst hinaus auf die Höhe und dann hinunter. Beim Schlösschen Wörth hatte es einen kleinen geschützten Hafen und Platz, um die Waren zu stapeln."

    Schaffhausen profitierte schon ab dem 11. Jahrhundert von dieser Lage. Davon zeugen noch heute die die prachtvollen Bürgerhäuser mit ihren Erkern und Fresken, die hübschen Zunfthäuser und das ehemaligen Kloster Allerheiligen. Es beherbergt heute das Museum für Kunst, Archäologie und Geschichte beherbergt.

    Neuhausen dagegen, unmittelbar am Rheinfall, entwickelte sich zur Industriestadt. Der Katarakt trieb schon früh Mühlen, Schleifwerkstätten und Schmieden an. Im 15. Jahrhundert entstand eine erste Eisenmühle, für das Jahr 1630 ist der erste kleine Hochofen beurkundet.

    Kapitän Thomas Mändli fährt seine Gäste nicht nur an den Mittelfelsen des Rheinfalls, sondern bringt sie auch vom Schloss Wörth auf der Seite des Kantons Schaffhausen rüber in den Kanton Zürich zum Schloss Laufen. Über einen Felsenweg mit Vorsprüngen und kühnen Holzterrassen kommt der Besucher den herabstürzenden Wassermassen ganz nah. Die Haut spürt die Feuchtigkeit, Brillengläser werden nass.

    Auf der Lauffener Seite muss der Gast für seinen Rheinfallbesuch Eintritt bezahlen. Dafür kann er sich seit Kurzem eine Dauer-Ausstellung anschauen. In diesem Historama wird unter anderem über die allerersten prominenten "Touristen" am Rheinfall im 16. Jahrhundert informiert:

    "Manche Menschen kommen von weither angereist, um das Naturschauspiel zu bestaunen. Zum Beispiel Kaiser Ferdinand I. mit seiner riesigen Entourage. Aber auch der Graf Michel de Montaigne mit seinem kleinen Tross. - Some people have come from far away to wonder at the spectacle of the Rhine Fall. "

    Der Habsburger Ferdinand I. kam 1562 mit einer Entourage von 700 Personen in diese Gegend. Der französische Philosoph Montaigne beließ es bei einem knappen Dutzend Begleitpersonen.

    Die erste Blütezeit des Tourismus setzte mit den Bildungsreisenden im 18. Jahrhundert ein. In der Romantik galt die Schweiz als Musterland der Freiheit und landschaftlichen Schönheit. Eine Reise in die Eidgenossenschaft gehörte zum festen Programm für begüterte und gebildete Kreise aus England, Russland oder Deutschland.

    Auch Johann Wolfgang von Goethe zog es 1797 an den Rheinfall. Schon morgens um halb sieben drängte es den Schriftsteller an die Sehenswürdigkeit:

    "Die Höhen waren mit Nebeln bedeckt, die Tiefe war klar, und man sah das Schloss Laufen halb im Nebel. Der Dampf des Rheinfalls, den man recht gut unterschieden konnte, vermischte sich mit dem Nebel und stieg mit ihm auf."

    Nach Tagesspaziergängen ging Goethe am Abend ein weiteres Mal zu dem Katarakt.

    "Die untergehende Sonne färbte einen Teil der beweglichen Massen gelb, die tiefen Strömungen erschienen grün und aller Schaum und Dunst war lichtpurpur. Auf allen Tiefen und Höhen erwartete man die Entwicklung eines Regenbogens. Leichte Windstöße kräuselten lebhafter die Säume des stürzenden Schaumes, Kunst schien mit Dunst gewaltsamer zu kämpfen, und indem die ungeheure Erscheinung immer sich selbst gleich blieb, fürchtete der Zuschauer dem Übermaß zu unterliegen und erwartete als Mensch jeden Augenblick eine Katastrophe."

    Die Anlieger stellten sich allmählich auf die zunehmende Besucherzahl ein. Am Felsen des Schloss Laufen wurde Ende des 18. Jahrhunderts eine erste hölzerne Schaubrücke gebaut. Louis Bleuler, der Pächter des Schlosses, fing an, "Eintrittsgeld" zu verlangen. Bleuler war auch ausgebildeter Landschaftsmaler und richtete deshalb im Schloss eine Malwerkstatt ein. Dieser Raum ist jetzt Teil des "Historama" und bietet einen direkten Blick auf den Wasserfall. Hier fertigten Bleuler und seine Mitarbeiter serienmäßig Landschaftsansichten an, sogenannte "Veduten". Heimatforscher Pfaff:

    "Das sind Landschaftsdarstellungen von lateinisch 'veduto', gesehen, vor allem auch für die Fremden. Diese Veduten waren entweder Kupferstiche, die nachher koloriert wurden, oder Aquarelle oder aber auch Ölgemälde. Er hatte gute Künstler angestellt. Aber auch Koloristen, die es nur handwerklich machten. Es war also immer eine Spannung zwischen Kunst und Kommerz."

    Die Veduten als handgefertigte Vorläufer der Postkarte.

    Parallel zu der wachsenden Zahl an Touristen entwickelte sich am Rheinfallbecken aber auch die Industrie. Der Schwabe Johann-Georg Neher baute 1810 ein bestehendes kleines Eisenwerk nach englischem Vorbild aus. Die Fabrik umfasste mehrere Hochöfen, eine Gießerei, eine Schmiede sowie Tischler- und Drechslerwerkstätten. Nehers Nachfahren gründeten ein paar Jahrzehnte später die "Schweizerische Waggonfabrik". Sie entwickelte sich später als "Schweizerische Industriegesellschaft", kurz SIG, zu einem der bedeutendsten eidgenössischen Unternehmen überhaupt.

    Mit dem Bau von Eisenbahnwaggons lag die SIG voll im Trend des 19. Jahrhunderts. 1857 wurde die erste schweizerische Eisenbahnlinie zum Rheinfall und nach Schaffhausen gebaut. Wenige Jahre später folgte eine badische Linie. Dies beflügelte auch den Tourismus. Es gab sogar Sonderzüge direkt von Paris nach Neuhausen.

    Auf den Südhängen des Rheinfallbeckens entstanden etliche "Grand Hotels".
    Die Gäste kamen für mehrere Tage, logierten in edlen Zimmern und goutierten abends den Wasserfall, der im bengalischen Licht erstrahlte. Kein Wunder, dass auch gekrönte Häupter anreisten und das "erste Haus am Platz, den "Schweizerhof", aufsuchten.

    "1867 besuchte Kaiser Franz Josef I. mit Gattin Elisabeth, also die 'Sissi', das Hotel. Die haben hier logiert. Der Tagesaufenthalt für das Paar kostete damals 300 Franken. Ein Fünfgangmenü kostete 18 Franken. In der Industrie, zum Beispiel bei der SIG, verdiente ein Arbeiter bei 66 Arbeitsstunden in der Woche 18 Franken."

    Erbauliche Spaziergänge auf den Rhenania-Terrassen und stinkende Rauchfahnen aus den Kaminen der Industriebetriebe. Ein Konflikt, der sich noch ausweitete, als 1888 eine große Aluminiumfabrik aufmachte. Zum ersten Mal in Europa wurde in großem Stil mit dem neuen elektrotechnischen Verfahren des Franzosen Paul Héroult Aluminium hergestellt. Ein Teil des Wassers am Katarakt wurde für die energieaufwendige Produktion abgezweigt.

    Erst nach 1945 wurden die Fabriken allmählich geschlossen, gewann der Rheinfall wieder für die Touristen an Anziehungskraft. Mittlerweile sind es vor allem Tagesbesucher, die hier haltmachen. Den kompletten Rundgang um den Wasserfall schaffen Eilige in nur einer Stunde.

    Damit wenigstens diese Kurzgäste dem Naturschauspiel die Treue halten, wurden im zurückliegenden Winter die charakteristischen Felsnadeln für viele Millionen Franken restauriert und stabilisiert. Jetzt im August wird wieder ein Riesenfeuerwerk abgebrannt, begleitet von Musik, Schauspiel und Tanz auf einer Wasserbühne.

    So bleibt die Begeisterung für die schäumenden und tobenden Kaskaden erhalten: Mit knapp zwei Millionen Besuchern im Jahr zählt der Rheinfall immer noch zu den Top-Zielen in der Eidgenossenschaft.

    "Ich habe ihn noch nie so schön erlebt. Früher immer ein Muss, mit Schulausflug oder Hochzeit. Heute habe ich es besonders schön erlebt."

    "Ich komm aus Österreich: Es ist sehr imposant."

    " Die Wassermenge ist beeindruckend. Natürlich würde man sich mehr Natur wünschen, und dass es weniger touristisch vermarktet wird."

    "C'est excellent, il faut voir. On est devant quelque chose de plus forte que nous. Magnifique. Es ist wunderschön, das muss man gesehen haben. Man steht vor etwas, was stärker ist, als man selbst. Einmalig!"