Auch Cunningham selbst hat zur Erklärung seiner Ästhetik gelegentlich die moderne Physik bemüht.
In Cunninghams Choreographien zeigte sich das bis zu Beginn der neunziger Jahre darin, dass mit der Interpretation der Musik – Musik und Tanz sind bei ihm unabhängige Schichten - auch die weitgehend symmetrischen Formationen des klassischen Balletts abgeschafft waren. Wenn bei Cunningham zwölf oder 15 Tänzer auf der Bühne standen, bewegten sie sich weder synchron noch parallel, sondern absolut individualistisch: für den Zuschauer ein Prozess, für den seine Sehgewohnheiten sich ändern mussten.
Cunningham stammt aus dem Nordwesten der USA; am 16. April 1919, ist er in der Kleinstadt Centralia im Bundesstaat Washington geboren. "Ich bin kein Tänzer geworden, ich habe immer getanzt", hat er von sich gesagt. Aber natürlich hat er eine richtige Tänzerausbildung: Tanzschule in Centralia als Achtjähriger, Cornish School of Fine Arts in Seattle, Sommerkurse an der Bennington School of Dance in Oakland, Kalifornien, wo er Martha Graham traf, die ihn nach New York einlud.
Wichtiger noch als Cunninghams Begegnung mit Graham war seine lebenslange Freundschaft mit dem Komponisten John Cage, der für viele von Cunninghams Stücken die Musik schrieb und ihn geistig stark beeinflusste. Von Anfang an suchten die beiden den Kontakt mit den Nachbarkünsten. Sie verkehrten vor allem in Malerkreisen, und ihre persönlichen Bekanntschaften, etwa zu Robert Rauschenberg, wurden zur Basis jener künstlerischen Kollaborationen, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren Cunninghams Choreographien geprägt haben. Der Grund für des Choreographen Neigung zu Komponisten und Malern war einfach:
Jahrzehntelang war der Tänzer Cunningham der beste Interpret des Choreographen Cunningham. Heute macht ihm eine Arthritis nicht nur das Tanzen, sondern selbst das Gehen beinahe unmöglich. Aber noch immer schafft er choreographische Meisterwerke: seit Anfang der neunziger Jahre mit dem Computer und einer eigens für ihn entwickelten Software mit dem Namen "Live". Das hält ihn lebendig - hoffentlich noch lange.