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16.4.1919 - vor 85 Jahren

Der Mann ist ein Phänomen. Seit sich Merce Cunningham in den vierziger Jahren von der Martha Graham Dance Company trennte und, in den fünfziger Jahren, ein eigenes Ensemble gründete, hat er mehr Dinge in Bewegung gesetzt und ästhetische Trends ausgelöst als irgendein anderer in der Welt des Tanzes. Er hat den Tanz mit der Pop-Art vermählt und mit dem Happening, das Mixed-Media- und das Non-Ballett erfunden, den Tanz in die Erstarrung der Minimal Art getrieben und schließlich wieder herausgeholt, den Modern Dance zu einer neuen Klassik erhoben und die Arbeit mit dem Computer in die Choreographie eingeführt: eine Wasserscheide des Tanzes – nach ihm beginnt die tänzerische Postmoderne - und ein künstlerischer Wegweiser so sehr, dass sich beinahe alle jüngeren Kräfte des amerikanischen Tanzes, positiv oder negativ, durch ihr Verhältnis zu Cunningham als "Übervater" definieren: entweder wollten sie so arbeiten wie der Meister – oder sich signifikant von ihm unterscheiden.

Von Jochen Schmidt | 16.04.2004
    Der Weg auf den Sockel, auf dem sich Merce Cunningham heute als Monument präsentiert, war ebenso lang wie steinig. Seinen Zuschauern hat er es ebenso schwer gemacht wie sich selbst. In den siebziger Jahren hat er, bei einer Pressekonferenz in Paris, jenen Kritikern, die ihre Ablehnung seines Werks mit dessen Sprödigkeit und Schwerverständlichkeit begründeten, ins Stammbuch geschrieben, sie hätten sich seine Stücke gefälligst so oft anzuschauen, bis sie sie verstünden – kein einfacher Prozess, wenn die amerikanische Essayistin Susan Sontag recht hat. Schon 1965 kam Sontag in ihrem Essay "On Culture and the New Sensibility" zu dem Schluß: "Der Tanz Merce Cunninghams macht eine Schulung der Aufnahmefähigkeit notwendig, die, was Schwierigkeit und Langwierigkeit betrifft, mindestens vergleichbar ist mit den Schwierigkeiten, die einer Beherrschung der Physik oder des Ingnieurwesens im Weg stehen". Der Vergleich mag hinken; völlig falsch ist er nicht.

    Auch Cunningham selbst hat zur Erklärung seiner Ästhetik gelegentlich die moderne Physik bemüht.

    In Cunninghams Choreographien zeigte sich das bis zu Beginn der neunziger Jahre darin, dass mit der Interpretation der Musik – Musik und Tanz sind bei ihm unabhängige Schichten - auch die weitgehend symmetrischen Formationen des klassischen Balletts abgeschafft waren. Wenn bei Cunningham zwölf oder 15 Tänzer auf der Bühne standen, bewegten sie sich weder synchron noch parallel, sondern absolut individualistisch: für den Zuschauer ein Prozess, für den seine Sehgewohnheiten sich ändern mussten.

    Cunningham stammt aus dem Nordwesten der USA; am 16. April 1919, ist er in der Kleinstadt Centralia im Bundesstaat Washington geboren. "Ich bin kein Tänzer geworden, ich habe immer getanzt", hat er von sich gesagt. Aber natürlich hat er eine richtige Tänzerausbildung: Tanzschule in Centralia als Achtjähriger, Cornish School of Fine Arts in Seattle, Sommerkurse an der Bennington School of Dance in Oakland, Kalifornien, wo er Martha Graham traf, die ihn nach New York einlud.

    Wichtiger noch als Cunninghams Begegnung mit Graham war seine lebenslange Freundschaft mit dem Komponisten John Cage, der für viele von Cunninghams Stücken die Musik schrieb und ihn geistig stark beeinflusste. Von Anfang an suchten die beiden den Kontakt mit den Nachbarkünsten. Sie verkehrten vor allem in Malerkreisen, und ihre persönlichen Bekanntschaften, etwa zu Robert Rauschenberg, wurden zur Basis jener künstlerischen Kollaborationen, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren Cunninghams Choreographien geprägt haben. Der Grund für des Choreographen Neigung zu Komponisten und Malern war einfach:

    Jahrzehntelang war der Tänzer Cunningham der beste Interpret des Choreographen Cunningham. Heute macht ihm eine Arthritis nicht nur das Tanzen, sondern selbst das Gehen beinahe unmöglich. Aber noch immer schafft er choreographische Meisterwerke: seit Anfang der neunziger Jahre mit dem Computer und einer eigens für ihn entwickelten Software mit dem Namen "Live". Das hält ihn lebendig - hoffentlich noch lange.