Dienstag, 16. April 2024

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175. Geburtstag des Publizisten
Franz Mehring - Wanderer zwischen den Klassen

Mit dem Namen Franz Mehring wird heute kaum jemand mehr verbinden, als dass er sozialdemokratischer Publizist zur Zeit des frühen Kaiserreichs war. Das mag vor allem daran liegen, dass er schwer greifbar blieb und lange zwischen den Klassen und politischen Lagern zu oszillieren schien.

Von Rolf Wiggershaus | 27.02.2021
    Eine schwarzweiße Foto-Postkarte zeigt Franz Mehring mit langem, grauen Vollbart und Haupthaar und runder Metallbrille, nachdenklich das Kind auf eine Hand stützend
    Der Publizist und Politiker Franz Mehring auf einer Fotopostkarte von 1946 (picture alliance / akg-image)
    "Die Artikel der 'Berliner Zeitung' sind sicher von Mehring; wenigstens weiß ich keinen anderen in Berlin, der so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel Talent und einen offenen Kopf, ist aber ein berechnender Lump und von Natur Verräter; ich hoffe, man wird das im Gedächtnis haben, wenn er wieder zu uns kommt, was er sicher tut, sobald sich die Zeiten ändern."
    Was Friedrich Engels 1885 in einem Brief an August Bebel, den Führer der deutschen Sozialdemokratie, über den bürgerlich-demokratischen Journalisten Franz Mehring schrieb, klang, als ginge es um einen käuflichen Revolverhelden. Es war die Zeit von Bismarcks Kampf gegen die Arbeiterbewegung mit der Peitsche des Sozialistengesetzes und dem Zuckerbrot der Sozialgesetzgebung. Anerkennend und abweisend zugleich äußerte sich über Mehring auch Bebel. Wer war dieser Publizist, über den die beiden führenden Köpfe der deutschen Arbeiterbewegung sich mit solch gemischten Gefühlen äußerten?
    Eine Lange Nacht über Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 
    Im Januar 1919 verhört ein Freikorpsoffizier in Berlin zwei Gefangene: Es sind die prominenten Führer des Spartakus-Aufstandes. Generalstabsoffizier Pabst weist seine Begleitoffiziere an, die beiden zu töten – dieser Doppelmord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beendet die Revolte.
    Demonstranten stehen mit Bildern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht anlässlich des 99. Jahrestages ihrer Ermordung vor der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.

    Vom Liberalen zum Verteidiger der Arbeiterbewegung

    Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 im pommerschen Schlawe geboren. Schon während des Studiums wurde der Sohn eines höheren Steuerbeamten zum Publizisten. Mitte der 1870er Jahre war er Mitarbeiter der beiden bedeutendsten demokratischen Zeitungen: der "Frankfurter Zeitung" und der "Waage". Empört über die Verurteilung der sozialdemokratischen Politiker August Bebel und Wilhelm Liebknecht zu jahrelanger Festungshaft, wurde er zum Verteidiger der Arbeiterbewegung.
    Moralische Empörung war es wieder, die zu einem doppelten Bruch führte: mit dem Zeitungsverleger Leopold Sonnemann, dem Mehring Verwicklung in Spekulationsgeschäfte in der Gründerzeit Anfang der 1870er Jahre vorwarf, und mit den Sozialdemokraten, die sich mit dem ihnen wohlgesonnenen einflussreichen Verleger solidarisierten. Fortan attackierte Mehring die Partei. Doch schon 1880 meinte er in einem Beitrag für die Wochenzeitschrift "Die Gartenlaube":
    "Seitdem die Junker und Pfaffen in unseren Parlamenten das große Wort führen, scheint es, als ob unsere socialen Zustände mit Dampfkraft rückwärts revidirt, die besitzenden Classen auf Kosten der arbeitenden begünstigt werden sollen."

    Glaubwürdiger "Überläufer" ins proletarische Lager

    Während des folgenden Jahrzehnts entwickelte Mehring sich zu einem der schärfsten Kritiker Bismarcks und des Sozialistengesetzes. Als Chefredakteur der bürgerlich-liberalen Berliner "Volkszeitung" steigerte er die Auflage so deutlich, dass die Verleger es duldeten, wenn er in einer Artikelserie über die Hohenzollern schrieb: "Alle bisherige Geschichte war die Geschichte von Klassenkämpfen."
    Zur Entlassung kam es erst, als er dem kapitalistischen Pressewesen Korruption vorwarf. Das machte ihn zum glaubwürdigen "Überläufer" ins Lager des Proletariats. 1891 trat er der SPD bei, und für ein Vierteljahrhundert wurde er zum herausragenden Publizisten und mit einer vierbändigen "Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" und einer mehr als 500-seitigen Marx-Biografie auch zum herausragenden Historiker der Arbeiterbewegung.

    Lessing marxistisch gelesen

    Sein wirkungsgeschichtlich bedeutendstes Buch aber wurde "Die Lessing-Legende. Eine Rettung". Zu retten galt es für ihn in dieser Pionierarbeit einer ideologiekritischen marxistischen Literatursoziologie Gotthold Ephraim Lessing. Diesen "freiesten und wahrhaftigsten" unter den frühen Vorkämpfern bürgerlicher Emanzipation sah er verraten durch das Bürgertum des Deutschen Reichs, das sich mit dem preußisch-deutschen Dreiklassenstaat abgefunden hatte und den Lessing-Kult für vereinbar hielt mit dem Kult Friedrichs des Großen, des aufgeklärten Despoten und Verächters deutscher Literatur. Dem hielt Mehring als Vision und Diagnose entgegen:
    "Lessings Lebensarbeit gehört nicht der Bourgeoisie, sondern dem Proletariat. In der bürgerlichen Klasse, deren Interessen er verfocht, waren beide noch eins. Aber Wesen und Ziel seines Kampfes ist von der Bourgeoisie preisgegeben, von dem Proletariat aufgenommen worden."
    Mehring gehörte, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum linken Flügel der Sozialdemokratie. Während des Ersten Weltkrieges gehörte Mehring zu den Gegnern des "Burgfriedens", des Verzichts auf den parlamentarischen Parteikampf. Wegen seiner Beteiligung an der für eine Rätedemokratie eintretenden Spartakusgruppe kam er trotz angegriffener Gesundheit für vier Monate in Haft. Er starb am 28. Januar 1919 – zwei Wochen nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.