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19.5.1954 - vor 50 Jahren

Jetzt, wo Charles Ives mehr als zehn Jahre zuverlässig tot ist, schrieb ein Plattentexter, rühmen ihn alle als genuin amerikanischen, konventionsverachtenden Komponisten. Ganz so krass war der Übergang zur Berühmtheit nicht. 1947 bekam er den Pulitzerpreis, Henry Cowell brachte seine Werke nach Europa, Leonard Bernstein dirigierte ihn früh und beklaute ihn als Komponist. Aber in Amerika blieb Ives bis heute vielfach nur berühmt als erfolgreicher Versicherungsmakler, der in Yale studiert hatte. Er schrieb ein Handbuch, das noch heute als Standardwerk gilt. New Yorker Businessmen sind eher verblüfft, dass sich der komische Vogel in seiner Freizeit mit Musik beschäftigte.

Von Dietmar Polaczek | 19.05.2004
    Ives, in Connecticut 1874 als Sohn eines experimentierfreudigen Kapellmeisters geboren, verehrte die neuenglische Philosophenschule von Concord. In der ausufernden gleichnamigen Klaviersonate setzte er ihr ein Denkmal: die Sätze heißen Emerson, Hawthorne, The Alcotts und Thoreau. Ives war im Innersten ein skeptischer Anarchist. Das heutige Amerika verschweigt ihn eher wieder peinlich berührt, nach einem kleinen Boom in den siebziger Jahren, oder mißversteht Orchesterwerke wie "Three Places in New England" oder die "Variations on America" für Orgel als patriotische Erbauung. Doch seine Musik ist intransigent und verstörend. Stücke enden in einer anderen Tonart als sie anfangen, mehrere Tonarten gleichzeitig sind nicht selten. Gleichzeitig mit Alois Hába schrieb er Vierteltonmusik, lange vor John Cage bezog er den Zufall in die Musik ein, verwendete Volksmusik und Jazz - undogmatisch und ohne Avantgarde-Verkniffenheit. So frei und anarchisch er mit den Tönen umging, so großzügig neidlos förderte er andere Komponisten.
    Er lebte sommers in Redford, den Winter verbrachte er in New York. Im Herbst 1926 zog er in ein neues Haus in der 74. Straße. Mit Tränen, so erzählte später seine Witwe, kam er eines Tages die Treppe herunter und sagte: "Es scheint, ich kann nicht mehr komponieren".

    "Sunrise" war seine letzte Komposition. Der Sonnenaufgang führte ins Dunkel. Achtzehn Jahre lang schwieg er, sein eigener Nachlaßverwalter. Das Doppelleben, schreibt John Kirkpatrick, der Autor des Werkkatalogs, hatte seine Schaffenskraft erschöpft. Wenn man das Verzeichnis von 120 Instrumentalwerken und 150 Liedern sieht, fragt man sich, warum er nicht früher zusammenbrach. Heute vor fünfzig Jahren starb er, beinahe achtzig, an einem plötzlichen Schlaganfall.

    Die Fragen, die er als Komponist gestellt hat, sind noch aktuell, und noch immer unbeantwortet. "The Unanswered Question" heißt ein Orchesterstück von 1906, ursprünglich nannte Ives es "A cosmic landscape". Wie sich im Weltraum stellare Objekte zufällig begegnen, so hier zwei Orchestergruppen, eine schnelle und eine langsame. Leonard Bernstein dirigierte 1966, mit Seiji Ozawa als Assistent, das New York Philharmonic spielte.