Mindestens 177 Menschen kamen auf der Riesenbaustelle ums Leben, darunter auch Louis Favre, der verantwortliche Bauingenieur: ein gelernter Zimmermann aus Genf, der sich im Eisenbahnbau selbständig gemacht und erste Erfahrungen im Tunnelbau gesammelt hatte. Pläne für einen Gotthard-Tunnel gab es schon länger. 1869 erklärten sich Italien und Deutschland in einem Staatsvertrag mit der Schweiz bereit, sich an dem Mammutprojekt finanziell zu beteiligen - was Bismarck mit einem ganz ureigenen nationalen Interesse an einer Nord-Süd-Achse durch die Alpen begründete.
Die deutschen Interessen empfehlen es, zwischen Deutschland und Italien eine Verbindung zu schaffen, welche lediglich von dem neutralen Zwischenlande, der Schweiz, abhängig ist und nicht im Besitz einer der großen europäischen Mächte sich befindet.
Im April 1872 wurde das Projekt international ausgeschrieben. Sieben Angebote gingen ein. Favre, damals 46 Jahre alt, erwies sich als echter Draufgänger. Er machte das billigste Angebot und bekam den Zuschlag, obwohl sein Offerte drei Tage zu spät eingegangen war. Ein ruinöser Vertrag bürdete ihm sämtliche finanziellen Risiken auf. Insbesondere auch jene Risiken,
welche sich in Folge der Beschaffenheit des Gesteins oder des Gebirges überhaupt, in Folge außerordentlich starken Wasserandranges, in Folge von Elementarereignissen oder aus ähnlichen Gründen irgendwelcher Art ergeben möchten.
Im September 1872 ging es los. Probleme gab es nahezu mit dem ersten Spatenstich. Es kam zu Wassereinbrüchen, die Tunneldecke stürzte ein, ein Streik der erschöpften Bauarbeiter wurde blutig niedergeschlagen. Favre verlor sein gesamtes Vermögen. Als ein 200 Meter langes, fast fertiges Tunnelstück aufgegeben werden musste, weil sich abzeichnete, dass sich die von beiden Seiten aufeinander zustoßenden Röhren sonst um dreißig Meter in der Höhe verfehlen würden, erlitt er seinen ersten Herzanfall. Am 19. Juli 1879 sackte er tief im Berg - während eines nächtlichen Kontrollgangs nach kilometerlangem Fußmarsch - plötzlich in sich zusammen.
Halten Sie meine Lampe
sollen seine letzten Worte gewesen sein. Sieben Monate später, am 28. Februar 1880, war es vollbracht. Der Tunnel war durchstochen. Durch einen kleinen Spalt schob man eine Blechbüchse mit einem Bild von Louis Favre, auf der Rückseite stand in französischer Sprache:
Wer wäre würdiger, als erster hindurch zu gehen. Er war unser Meister, Freund und Vater. Viva il Gottardo!
Tags drauf wurde die letzte noch verbliebene Wand weggesprengt. Ein zeitgenössischer Bericht spiegelt die allgemeine Erregung wider:
Der Krach ertönt, das Gestein poltert und kollert umher, der Qualm lichtet sich, und über die Steintrümmer drängen sich von beiden Seiten Ingenieure und Arbeiter; man fällt sich um den Hals, man weint vor Freude, man schreit auf und jubelt. In diesem Jubel ging manches herbe Gefühl, das während der Gotthardkämpfe wach geworden war, unter, und manche bittere Erfahrung wurde dadurch versüßt.
1882 wurde der Tunnel in Betrieb genommen. Ein Jahr später wurden schon 250.000 Fahrgäste gezählt. Der Rekord wurde Karfreitag 1973 erzielt, als alle drei Minuten und 42 Sekunden ein Zug durch das Nadelöhr fuhr. Mit der Eröffnung der Autobahn durch den Gotthard wurde es 1980 im Eisenbahntunnel ruhiger. Nach dem verheerenden Feuer im Straßentunnel im Oktober 2001 wurde ein Teil des Autoverkehrs noch einmal auf Autoreisezüge verlagert. Nun klingt die ruhmreiche Geschichte des alten Eisenbahntunnels langsam aus. Denn wieder wurde im Gotthard der Bohrer angesetzt. Bis 2012 soll ein neuer, 57 Kilometer langer Eisenbahntunnel fertig sein: das Herzstück eines europäischen Bahnsystems, mit dem Menschen und Güter die Alpen künftig im Hochgeschwindigkeitstakt durchqueren können. Von Zürich nach Mailand in zwei Stunden: Bequemer geht’s kaum.