Was war am Ersten Weltkrieg schön, fragt man sich unwillkürlich, wenn man Peter Englunds Buchtitel liest. Vor über 90 Jahren hatte der konservative Schriftsteller Ernst Jünger auf diese Frage eine ideologisch einflussreiche Antwort gegeben. In seinen Kriegserinnerungen "In Stahlgewittern" stilisierte er 1920 den heroischen Kampf zu einem sinnlich berauschenden Erlebnis. Zum Beispiel in solchen Sätzen.
Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes.
Ernst Jünger feierte elitär den starken Einzelnen, der den Krieg als biologisch-existenzielle Grenzerfahrung zu bewältigen weiß. Peter Englunds Buch "Schönheit und Schrecken" liest sich dazu wie eine späte Antwort, wie ein demokratisches Gegenepos. Gegen die heroische Attitüde des Einzelnen setzt Englund die Vielfalt der Perspektiven. Der schwedische Historiker, Journalist und Kriegsreporter hat die Kriegstagebücher und Briefe von 19 Personen ausgewertet, die unterschiedlichen Nationen, Schichten und ideologischen Zusammenhängen entstammen. Anhand ihrer persönlichen Dokumente vergegenwärtigt er das Denken und Fühlen dieser Personen zwischen 1914 und 1918. Zum Beispiel das des hoch dekorierten belgischen Kampffliegers Willy Coppens. Bei ihm tritt die von Ernst Jünger gefeierte sinnliche Lust am Kampf im Verlauf des Krieges immer stärker in den Hintergrund. Nachdem Coppens erfolgreich mehrere feindliche Aufklärungsballons abgeschossen hatte, schreibt er zum Beispiel in sein Tagebuch:
Solange ich flog, waren ein solcher Erfolg und das Gefühl, der Gefahr entgangen zu sein, erregend, doch sobald ich gelandet war und zurück in der Gemeinschaft des Geschwaders, verlor dieser Kampf, der mich eben noch mit solcher Spannung erfüllt hatte, viel von seiner Bedeutung. Die Freude erstarb und der Überdruss trat an ihre Stelle.
Englund zeigt, wie anfänglich kriegsbegeisterte Menschen im Verlauf des Ersten Weltkriegs immer mehr desillusioniert waren. Dabei bettet er die unmittelbaren Kampferlebnisse in ein Gesamtpanorama des Krieges ein, wodurch ihre Bedeutung nahezu von selbst relativiert wird. Englunds Buch macht den 1. Weltkrieg als eine soziale Macht erfahrbar, die das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen insgesamt beeinflusst. Es lässt Mediziner zu Wort kommen, die Kriegsneurosen und neue Verletzungsformen analysieren müssen. Es schildert das Befinden von Krankenschwestern und Soldaten während des Fronturlaubs. Es zeigt die Hoffnungen und Ängste des Schulmädchens Elfriede und die schleichende Macht, mit der der Krieg in Deutschland immer stärker in den Alltag eingreift.
Der Herbst ist gekommen. Die meisten Straßenlaternen sind wegen Gasmangels gelöscht. Kartoffeln gibt es nicht mehr. Elfriedes Großmutter ist an Grippe erkrankt und liegt die meiste Zeit auf dem Sofa. Der Bruder einer Nachbarsfrau wurde gerade ein Bein amputiert. Elfriedes Bruder ist zum Dienst in einer Schreibstube abgestellt worden.
Man ist bei der Lektüre immer wieder erstaunt, wie lakonisch genau Peter Englund Stimmungen und Situationen zusammenfassen kann. Noch erstaunlicher ist die sprachliche Kraft, mit der sich seine Protagonisten in ihren Dokumenten artikulieren. So schreibt etwa der italienische Soldat Paolo Monelli, der als Gebirgsjäger in den Dolomiten gegen die Österreicher kämpft:
Das ist der Krieg. Nicht die Gefahr, zu sterben, nicht das rote Feuerwerk der Granaten, die blind machen, wenn sie mit einem Heulen herunterkommen und einschlagen, sondern das Gefühl, eine Marionette in den Händen eines unbekannten Puppenspielers zu sein, und dieses Gefühl lässt zuweilen das Herz erkalten, als habe der Tod schon zugegriffen.
Eine "Anti-Geschichte" des Ersten Weltkriegs habe er schreiben wollen, die die Gefühlswelt des Einzelnen in den Vordergrund stellt. So erläutert Peter Englund dem Leser in einem kurzen Vorwort sein Vorhaben. Das Buch ist ihm aber vor allem auch deshalb so gut gelungen, weil er die geschichtliche Realität des Krieges keineswegs unter den Tisch fallen lässt. Englund vermittelt auch die nötigen historischen Informationen. Der Leser erfährt, in welche militärischen Situationen und Strategien die Protagonisten des Buches verwickelt sind. Welche besonderen Probleme die osmanischen Streitkräfte mit der Organisation hatten. Und wie sich die Aufstände der deutschen Matrosen am Kriegsende entwickelten. Insofern löst Englunds Buch Geschichte nicht in Gefühle und subjektive Perspektiven auf, sondern ergänzt und vertieft sie um diese Dimension. Zum Beispiel, wenn Englund die so genannte "Freiheitsoffensive" russischer Truppen an der deutschen Ostfront im Jahr 1917 schildert. Er verbindet das fließend mit der Gefühlswelt der englischen Krankenschwester Florence, die in der russischen Armee arbeitet.
Zu diesem Zeitpunkt ist "die Freiheitsoffensive" bereits zusammengebrochen, der letzte verzweifelte Versuch der neuen Regierung, den Krieg fortzusetzen. Florence' (englisch, M.H.) Einheit gehört zur 8. Armee, der es anfangs tatsächlich gelungen war, die feindlichen Linien südlich des Dnjestr zu durchbrechen, die dann aber, nachdem sie nur drei Meilen vorgerückt war, zum Stillstand gekommen ist, weil der Nachschub stockte und die Soldaten entmutigt waren. Desertionen häufen sich und treten jetzt ganz offen zutage. Zum allerersten Mal hat Florence Angst vor den eigenen Soldaten.
Was kann ein solches Buch lehren? Glücklicherweise verzichtet Englund auf aufgesetzte Kommentare und ein moralisierendes Fazit, er lässt seinen Stoff selber sprechen. Etwa indem er den Amerikaner Vinzenzo D'Aquila zitiert. Im Krieg wahnsinnig geworden und deshalb ins Lazarett eingeliefert, halluziniert dieser einen Kampf und schreibt sein inneres Erleben nieder.
Mit erhobenen Händen signalisierte ich den Soldaten, dass sie aufhören sollten zu schießen. Als Nächstes spürte ich einen scharfen Schmerz in meiner rechten Seite, wo mich eine feindliche Kugel getroffen hatte. Ganz ruhig zog ich die Kugel heraus und hielt sie in die Höhe, um den Kämpfenden zu zeigen, dass ich unverwundbar war. Das Schießen hörte sogleich auf, die Männer warfen ihre Waffen auf den Boden, umarmten einander und riefen "Der Krieg ist aus".
Der Macht des Krieges scheint nur in der Fiktion überwindbar zu sein, wenn der Mensch zu Übermenschlichem in der Lage ist. Peter Englunds Buch enthüllt nichts Neues über die politische Dimension des Ersten Weltkriegs. Aber es führt die absurde Macht des Krieges auf neue und beeindruckende Weise vor Augen. Der Krieg zwingt seine Logik auch denen auf, die gegen ihn sind, bis hin zur Verzweiflung. Ernest Hemingway und Erich Maria Remarque stellten in ihren berühmten Erste Weltkriegsromanen "In einem anderen Land" und "Im Westen nichts Neues" bereits Ähnliches dar, als sie die Kriegstraumata einer "verlorenen Generation" beschrieben. Sie jedoch verwandelten Kriegserlebnisse in Literatur. Peter Englunds historisches Panorama dagegen ist so lesenswert, weil es das Drama des 1. Weltkrieges direkt aus der Perspektive derer dokumentiert, die es erlitten haben.
Peter Englund:
Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt, 704 Seiten, 34,95 Euro
ISBN: 978-3-871-34670-5
Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung von schwerem, unerträglichem Druck. Das ist die Wollust des Blutes.
Ernst Jünger feierte elitär den starken Einzelnen, der den Krieg als biologisch-existenzielle Grenzerfahrung zu bewältigen weiß. Peter Englunds Buch "Schönheit und Schrecken" liest sich dazu wie eine späte Antwort, wie ein demokratisches Gegenepos. Gegen die heroische Attitüde des Einzelnen setzt Englund die Vielfalt der Perspektiven. Der schwedische Historiker, Journalist und Kriegsreporter hat die Kriegstagebücher und Briefe von 19 Personen ausgewertet, die unterschiedlichen Nationen, Schichten und ideologischen Zusammenhängen entstammen. Anhand ihrer persönlichen Dokumente vergegenwärtigt er das Denken und Fühlen dieser Personen zwischen 1914 und 1918. Zum Beispiel das des hoch dekorierten belgischen Kampffliegers Willy Coppens. Bei ihm tritt die von Ernst Jünger gefeierte sinnliche Lust am Kampf im Verlauf des Krieges immer stärker in den Hintergrund. Nachdem Coppens erfolgreich mehrere feindliche Aufklärungsballons abgeschossen hatte, schreibt er zum Beispiel in sein Tagebuch:
Solange ich flog, waren ein solcher Erfolg und das Gefühl, der Gefahr entgangen zu sein, erregend, doch sobald ich gelandet war und zurück in der Gemeinschaft des Geschwaders, verlor dieser Kampf, der mich eben noch mit solcher Spannung erfüllt hatte, viel von seiner Bedeutung. Die Freude erstarb und der Überdruss trat an ihre Stelle.
Englund zeigt, wie anfänglich kriegsbegeisterte Menschen im Verlauf des Ersten Weltkriegs immer mehr desillusioniert waren. Dabei bettet er die unmittelbaren Kampferlebnisse in ein Gesamtpanorama des Krieges ein, wodurch ihre Bedeutung nahezu von selbst relativiert wird. Englunds Buch macht den 1. Weltkrieg als eine soziale Macht erfahrbar, die das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen insgesamt beeinflusst. Es lässt Mediziner zu Wort kommen, die Kriegsneurosen und neue Verletzungsformen analysieren müssen. Es schildert das Befinden von Krankenschwestern und Soldaten während des Fronturlaubs. Es zeigt die Hoffnungen und Ängste des Schulmädchens Elfriede und die schleichende Macht, mit der der Krieg in Deutschland immer stärker in den Alltag eingreift.
Der Herbst ist gekommen. Die meisten Straßenlaternen sind wegen Gasmangels gelöscht. Kartoffeln gibt es nicht mehr. Elfriedes Großmutter ist an Grippe erkrankt und liegt die meiste Zeit auf dem Sofa. Der Bruder einer Nachbarsfrau wurde gerade ein Bein amputiert. Elfriedes Bruder ist zum Dienst in einer Schreibstube abgestellt worden.
Man ist bei der Lektüre immer wieder erstaunt, wie lakonisch genau Peter Englund Stimmungen und Situationen zusammenfassen kann. Noch erstaunlicher ist die sprachliche Kraft, mit der sich seine Protagonisten in ihren Dokumenten artikulieren. So schreibt etwa der italienische Soldat Paolo Monelli, der als Gebirgsjäger in den Dolomiten gegen die Österreicher kämpft:
Das ist der Krieg. Nicht die Gefahr, zu sterben, nicht das rote Feuerwerk der Granaten, die blind machen, wenn sie mit einem Heulen herunterkommen und einschlagen, sondern das Gefühl, eine Marionette in den Händen eines unbekannten Puppenspielers zu sein, und dieses Gefühl lässt zuweilen das Herz erkalten, als habe der Tod schon zugegriffen.
Eine "Anti-Geschichte" des Ersten Weltkriegs habe er schreiben wollen, die die Gefühlswelt des Einzelnen in den Vordergrund stellt. So erläutert Peter Englund dem Leser in einem kurzen Vorwort sein Vorhaben. Das Buch ist ihm aber vor allem auch deshalb so gut gelungen, weil er die geschichtliche Realität des Krieges keineswegs unter den Tisch fallen lässt. Englund vermittelt auch die nötigen historischen Informationen. Der Leser erfährt, in welche militärischen Situationen und Strategien die Protagonisten des Buches verwickelt sind. Welche besonderen Probleme die osmanischen Streitkräfte mit der Organisation hatten. Und wie sich die Aufstände der deutschen Matrosen am Kriegsende entwickelten. Insofern löst Englunds Buch Geschichte nicht in Gefühle und subjektive Perspektiven auf, sondern ergänzt und vertieft sie um diese Dimension. Zum Beispiel, wenn Englund die so genannte "Freiheitsoffensive" russischer Truppen an der deutschen Ostfront im Jahr 1917 schildert. Er verbindet das fließend mit der Gefühlswelt der englischen Krankenschwester Florence, die in der russischen Armee arbeitet.
Zu diesem Zeitpunkt ist "die Freiheitsoffensive" bereits zusammengebrochen, der letzte verzweifelte Versuch der neuen Regierung, den Krieg fortzusetzen. Florence' (englisch, M.H.) Einheit gehört zur 8. Armee, der es anfangs tatsächlich gelungen war, die feindlichen Linien südlich des Dnjestr zu durchbrechen, die dann aber, nachdem sie nur drei Meilen vorgerückt war, zum Stillstand gekommen ist, weil der Nachschub stockte und die Soldaten entmutigt waren. Desertionen häufen sich und treten jetzt ganz offen zutage. Zum allerersten Mal hat Florence Angst vor den eigenen Soldaten.
Was kann ein solches Buch lehren? Glücklicherweise verzichtet Englund auf aufgesetzte Kommentare und ein moralisierendes Fazit, er lässt seinen Stoff selber sprechen. Etwa indem er den Amerikaner Vinzenzo D'Aquila zitiert. Im Krieg wahnsinnig geworden und deshalb ins Lazarett eingeliefert, halluziniert dieser einen Kampf und schreibt sein inneres Erleben nieder.
Mit erhobenen Händen signalisierte ich den Soldaten, dass sie aufhören sollten zu schießen. Als Nächstes spürte ich einen scharfen Schmerz in meiner rechten Seite, wo mich eine feindliche Kugel getroffen hatte. Ganz ruhig zog ich die Kugel heraus und hielt sie in die Höhe, um den Kämpfenden zu zeigen, dass ich unverwundbar war. Das Schießen hörte sogleich auf, die Männer warfen ihre Waffen auf den Boden, umarmten einander und riefen "Der Krieg ist aus".
Der Macht des Krieges scheint nur in der Fiktion überwindbar zu sein, wenn der Mensch zu Übermenschlichem in der Lage ist. Peter Englunds Buch enthüllt nichts Neues über die politische Dimension des Ersten Weltkriegs. Aber es führt die absurde Macht des Krieges auf neue und beeindruckende Weise vor Augen. Der Krieg zwingt seine Logik auch denen auf, die gegen ihn sind, bis hin zur Verzweiflung. Ernest Hemingway und Erich Maria Remarque stellten in ihren berühmten Erste Weltkriegsromanen "In einem anderen Land" und "Im Westen nichts Neues" bereits Ähnliches dar, als sie die Kriegstraumata einer "verlorenen Generation" beschrieben. Sie jedoch verwandelten Kriegserlebnisse in Literatur. Peter Englunds historisches Panorama dagegen ist so lesenswert, weil es das Drama des 1. Weltkrieges direkt aus der Perspektive derer dokumentiert, die es erlitten haben.
Peter Englund:
Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt, 704 Seiten, 34,95 Euro
ISBN: 978-3-871-34670-5