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1926. Ein Jahr am Rand der Zeit

Seitdem der Geschichtsschreibung das Zutrauen in die "großen Erzählungen" abhanden kam, haben sich ihre Gegenstände ins Unabsehbare vervielfältigt. Was in Michel Foucaults Geschichten des Wahnsinns, des Wissens und der Sexualität mit dem theoretischen Anspruch einer "Diskursanalyse" seinen Anfang nahm, hat sich in der Folge zu einer theoretisch eher anspruchslosen Kulturgeschichte des Kleinen und Peripheren zurückentwickelt. Kaum ein Ding ist sicher vor dem Zugriff von Historikern, denen der Alltag offenbar alle die Fragen beantwortet, die die großen Geschichtserzählungen nie gestellt haben. Die neue kulturhistorische Bescheidenheit hat freilich ihren Preis. Eine Geschichtsschreibung, die auf lauter Nebensachen fußt, muss damit rechnen, dass ihre Funde für das genommen werden, was sie sind: Anekdoten, Episoden, Bagatellen.

Christoph Bartmann | 06.05.2001
    Nun sind in diesem Jahr zwei Bücher erschienen, von denen Impulse für die Kulturgeschichtsschreibung zu erhoffen sind. Beide wenden sich einem uralten und ganz neuen Gegenstand zu: dem Jahr. Zuerst erschien Felix Philipp Ingolds Buch "Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913" und nun in deutscher Übersetzung die bereits 1997 in den USA erschienene Arbeit des in Stanford lehrenden Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht "1926. Ein Jahr am Rand der Zeit". Die Titel machen deutlich, dass die Autoren auf Verschiedenes hinauswollen. Ingold hat 1913 gewählt, weil es, für Russland, ein besonderes Jahr war, Gumbrecht hat 1926 ausgesucht, weil es für Amerika und die Welt eben kein besonderes, kein "Epochenjahr" war. Sondern "ein Jahr am Rand der Zeit". Worum geht es also in Gumbrechts "1926"? Nicht um die Annalen dieses Jahres, also um eine Ereignis-Chronik; es geht, wie Gumbrecht in seiner "Gebrauchsanweisung" schreibt, darum

    wenigstens einige der Leser während der Lektüre vergessen zu machen, dass sie nicht im Jahre 1926 leben. Mit anderen Worten: Es geht darum, manche der Welten von 1926 heraufzubeschwören, sie im Sinne einer neuerlichen Vergegenwärtigung zu re-präsentieren. Es geht darum, dies mit der größtmöglichen Unmittelbarkeit zu erreichen, die für einen historiographischen Text (im Gegensatz etwa zu Photographien, Tondokumenten oder materiellen Gegenständen) zu schaffen ist. Der Autor musste zwar für jeden Eintrag eine besondere Textform erfinden, doch der Erfolg des Buches als Ganzes beruht auf dem Anspruch, dass es nicht "erfunden" wurde. (...) Und worum geht es nun nicht? (...) Um irgendwelche Versuche, die Welten von 1926 zu interpretieren oder zu verstehen (sei's aus der Innenperspektive oder aus Früherem oder Späterem). Schließlich wäre der Autor gar nicht sonderlich enttäuscht, wenn er erführe, dass die Welten von 1925 oder 1927 (und so weiter) gar nicht so verschieden waren von jenen Welten, die er für das Jahr 1926 rekonstruiert hat.

    Was sind nun also die "Welten" des Jahres 1926? Gumbrecht hat literarisches und journalistisches Material dieses Jahres - namentlich aus den USA, aus Deutschland und aus Lateinamerika - durchkämmt, um auf die Spur lebensweltlicher Praxis- und Motiv-Felder zu kommen, die er mit Foucault "Dispositive" nennt. Sie nehmen den ersten und breitesten Teil des Buches ein. "Amerikaner in Paris" sind so ein Dispositiv, und zwar, da Gumbrecht enzyklopädisch verfährt, das erste. Es folgen Einträge wie "Ausdauer", "Bergsteigen", "Boxen", "Fernsprecher", "Fließband", "Hungerkünstler", "Ingenieure", "Mumien", "Ozeandampfer", "Pomade", "Revue", "Sechstagerennen", "Streik", "Tanz" und "Völkerbund" und natürlich das "Automobil". Was sagt uns das Automobil über 1926, und was sagt uns 1926 über das Automobil?

    Obzwar die hohen schlanken Reifen nach und nach von den aus dem Trittbrett emporwachsenden Kotflügeln bedeckt werden, stellen die Automobile ihre Anatomie eher als technische Konstruktion zur Schau. Die Achsen sind sichtbar, die Scheinwerfer ragen aus dem Rumpf hervor, und viele Wagen haben noch eine Anlasserkurbel. Martin Heidegger greift ein anderes Beispiel des Automobils - nämlich den Winker - als paradigmatischen Bezugsgegenstand, um an diesem Beispiel den Gebrauch und die Deutung von Zeichen zu erörtern: (...) "Dieses Zeichen ist ein Zeug, das nicht nur im Besorgen (Lenken) des Wagenführers zuhanden ist. Auch die nicht Mitfahrenden - und gerade sie - machen von diesem Zeug Gebrauch.

    Genügt nicht schon die Liste solcher Dispositive, um im Leser die Welten von 1926 heraufzubeschwören, Welten, die er nicht aus eigenem Erleben, aber aus der zweiten Hand der Wochenschauen zu kennen glaubt? Wer sind die Helden des Jahres 1926? Josephine Baker zum Beispiel, das neunzehnjährige Revuegirl aus Paris, das in jenem Jahr das Berliner Publikum verzückt und Harry Graf Kessler zu der sehr 1926-typischen Bemerkung hinreißt, ihr Tanz sei "ultramodern und ultraprimitiv", "ein Mittelprodukt zwischen Urwald und Wolkenkratzer". Zwei andere Helden von 1926 sind Gene Tunney und Jack Dempsey, die vor 120.000 Zuschauern im Regen von Philadelphia und vor 15 Millionen Radiohörern um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht boxen. 1926 ist das Jahr, in dem Roald Amundsen und Umberto Nobile mit dem Luftschiff "Norge" erstmals den Nordpol überfliegen. Es ist das Jahr, in dem Arnold Fancks Film "Der Heilige Berg" mit Leni Riefenstahl in der Hauptrolle in Berlin Premiere hat. 1926 ist ein Jahr, in dem Technik und Unterhaltung eine fiebrige und optimistische Allianz eingehen. Ein weltgeschichtlich neues Phänomen ist zu besichtigen, die "Freizeit". 1926 ist das Jahr der "Angestellten" - so heißt nicht nur ein Eintrag in diesem Buch, sondern auch Siegfried Kracauers berühmte Studie aus dem selben Jahr. Die Lebenswelten des Jahres 1926, wie Gumbrecht sie arrangiert hat, haben ihr Gravitationszentrum im Typus des Angestellten, in seiner unbedingten Hingerissenheit von allem, was, um erneut Graf Kessler zu zitieren, "ultra" ist.

    Allein in Deutschland gibt es über 3, 5 Millionen Angestellte, darunter über 40 Prozent Frauen (...). Auf der Führungsebene des Geschäftslebens haben zur gleichen Zeit Schreib- und Rechenmaschine weite Verbreitung gefunden, und es hat einen Wechsel gegeben von maßgeschneiderten Anzügen zur Konfektionskleidung. Daraus ergibt sich, dass die von Frauen am häufigsten bekleideten Positionen die der Sekretärin und die der Verkäuferin sind. (...) Bestimmte Statussymbole, die mit diesen Berufen einhergehen, verleiten die Öffentlichkeit dazu, den trennenden Abstand zwischen Angestellten und Lohnarbeitern weit zu überschätzen. Aus diesem Blickwinkel stellt sich die Lage der Angestellten und des Verkaufspersonals in den Vereinigten Staaten als viel bewundertes Musterbeispiel dar. Diese Angestellten erhalten im Gegensatz zu den wöchentlich entlohnten Arbeitern Monatsgehälter; sie arbeiten nur acht Stunden pro Tag; und in ihrer Freizeit können sie in immer höherem Maße den gleichen Beschäftigungen nachgehen wie der Mittelstand, was beinhaltet, dass sie selbst wieder für die von anderen Angestellten erbrachten Dienstleistungen bezahlen können.

    Anstatt sich freilich gegen die 15 Prozent unter den Gehältern der Männer liegende Bezahlung zu wehren, legten, so Gumbrecht, "die weiblichen Angestellten jenen ‚Willen zum Glück' an den Tag, der nach D. H. Lawrence die ‚meisten modernen Menschen' auszeichnet". "Der Wille zum Glück", so könnte man die sozialpsychologische Lage des Jahres 1926 betiteln. Aber Gumbrecht will nicht interpretieren, sondern die synchronen Fakten für sich sprechen lassen. 1926 erscheint Hitlers "Mein Kampf", und im selben Jahr erscheint posthum Franz Kafkas Roman "Das Schloß", und so unendlich unähnlich die beiden Bücher einander sonst auch sein mögen, so konvergieren sie doch in ihrem Interesse an der Bürokratie. Es sind solche Parallel-Befunde, in denen sich die Stärke von Gumbrechts Ansatz erweist. Wer wie er alles liest, ohne sich schon vorab für Ideen- oder Literatur- oder Sozialgeschichte entschieden zu haben, dem geht auch mehr ins Netz. Aber ist mit der bloßen Vergegenwärtigung des Jahres 1926 der Ehrgeiz von Gumbrechts Projekt schon befriedigt?

    Natürlich nicht. Die scheinbare Naivität, mit der der Autor in seiner Gebrauchsanweisung verkündet, er habe nichts "erfunden" und wolle weiter nichts als die Vergangenheit dem heutigen Leser zu "re-präsentieren", war strategisch. Schließlich ist "Erfinden" ein Lieblings- und "Repräsentieren" ein Reizwort jener Art Geschichtsschreibung gewesen, die unter dem Namen "New Historicism" in den letzten Jahrzehnten vor allem in den USA Triumphe feierte. Der Neue Historismus pflegt die Rede von der "Krise der Repräsentation", weil für ihn die Linse der historischen Methode trübe geworden ist. Was der Meta-Historiker durch sie zu sehen bekommt, ist nur noch er selbst: mit seinen Voreinstellungen, seiner Rhetorik und seinen "Erfindungen". Wie andere Strömungen der neueren Geisteswissenschaft lud der Neue Historismus in eine Schule des Selbst-Verdachts ein. Gumbrechts "1926" will, ganz im Geiste von 1926, ein Signal des Optimismus in einer Situation geben, die von Schwäche geprägt scheint:

    Wir können uns nicht des Eindrucks erwehren, dass die derzeitige Situation in den Geisteswissenschaften (...) einen vergleichsweise schwachen Eindruck macht. (...) Auf jeden Fall ist die Gegenwart anscheinend ein Augenblick großen Raffinements, wenn es um die Behauptung geht, dass bestimmte Gewissheiten und Voraussetzungen ‚nicht mehr funktionieren' - und noch größer ist das Widerstreben, wenn es darum geht, die von den verschwundenen Gewissheiten und Voraussetzungen zurückgelassenen Lücken auszufüllen. (...) Der Marxismus ist bloß noch eine wehmütige oder peinliche Erinnerung, vor allem in seinen neuerdings wieder auferstandenen und reinkarnierten Formen. Der Dekonstruktivismus wirkt entweder abgestanden oder sektiererisch, oder er ist von der allgemein herrschenden Stimmung des Interpretierend und des hermeneutischen Vorgehens absorbiert worden. Der Zauber und der Schwung des Neuen Historismus sind allzu rasch verwelkt. Und so weiter. Außerdem hat der Autor- was die Sache noch schlimmer macht - das Gefühl, seine Generation stehe unter erheblichem Druck, etwas Neues vorzulegen, das nicht ausschließlich skeptischer Art ist. (...) Der Möglichkeit des Scheiterns unerachtet, ist dieses Buch einstweilen das Beste, was er als Reaktion auf diese selbstgesetzten Erwartungen anzubieten vermag.

    Das also ist der ehrgeizige Vorsatz, den Gumbrecht mit diesem Buch gefasst hat: nichts Geringeres als ein Schritt zur Ehrenrettung seiner akademischen Generation soll "1926" sein, ein Buch, um den von Zweifeln angekränkelten Humanwissenschaften den Weg ins Freie zu weisen. Nachdem Gumbrecht im ersten Teil das Jahr in lauter Einzelheiten und beinahe sinnlicher Greifbarkeit vor dem Leser hatte erstehen lassen, startet er sein Thema im zweiten von drei Teilen noch einmal neu. Hier geht es zwar wieder um Pomade und Feuerbestattung, Uhren und Dachgärten, aber nur insofern, als solche Phänomene sich mit bestimmten "Codes" wie "Authentizität versus Künstlichkeit", "Männlich versus weiblich" oder "Sachlichkeit versus Überschwang" in Verbindung bringen lassen. Zwischen Anschauung und Begriffen herrscht bei Gumbrecht überhaupt ein reger Pendelverkehr. Hypertextartige Verweise sorgen dafür, dass man sich an jeder Stelle in die Lektüre einschleusen und dennoch sicher in ihr navigieren kann. So wird man im Kapitel über "Männlich versus weiblich" Querverweise auf die Dispositive "Tanz", "Ausdauer" , "Angestellte", "Eisenbahn", "Automobil" und "Pomade" finden.

    Wie steht es nun beispielsweise um den Code "Männlich versus weiblich" anno 1926? Heinrich Mann, berichtet Gumbrecht, hat für den Bubikopf etwas übrig und konstatiert die Annäherung der Geschlechter im Zeichen der Kameradschaft. Gleichzeitig treten im Sport und manchen Berufen Frauen und Männer erstmals als Konkurrenten auf. Der Anzeigenteil des Berliner Tagblatts läßt eine steigende Nachfrage nach Frauen in Führungspositionen erkennen. Eine Zeitschrift in Buenos Aires schreibt über Frauen als Polizeibeamte und Taxifahrerinnen. In Deutschland wird heftig über die Legalisierung der Abtreibung diskutiert. Das alles bedeutet nicht, dass 1926 die Gleichheit der Geschlechterrollen schon verwirklicht würde. Im Frauen-College Mount Holyoke in Massachusetts müssen beim Abendspaziergang "um den oberen See (...) Gruppen von nicht weniger als sechs Studentinnen gebildet werden; ist Herrenbegleitung vorhanden, müssen wenigstens zwei Paare zusammen gehen.". Gerhart Hauptmann lässt in seinem Schauspiel "Dorothea Angermann" unsympathische Figuren chauvinistische Dinge über Frauen sagen. Adolf Hitler ekelt sich noch 1926 vor den Prostituierten, die ihm in seinen Jugendjahren in der Wiener Leopoldstadt begegnet sind. Und Fritz Lang trifft in seinem Film "Metropolis" im selben Jahr die klassische Unterscheidung zwischen Madonna und Hure.

    Was lehren nun alle diese selbstlos referierten Lesefrüchte zum Geschlechter-Thema über Bestand und Geltung eines Codes namens "Männlich versus Weiblich" im Jahre 1926? Nicht allzu viel, möchte man vorsichtig antworten. Im Grunde setzt das Kapitel "Codes" bloß die materialreiche, aber begriffsscheue Empirie der "Dispositive" fort. Was aber bei den "Dispositiven" methodisch gewollt und, da von nichts als Phänomenen die Rede war, sachlich gerechtfertigt war, erweist sich bei den "Codes" als sachliche und methodische Schwäche. Es gäbe über Geschlechterverhältnisse um 1926 viel Interessanteres zu sagen, als es Gumbrecht aus seinen Romanen, Zeitungen und Jahrbüchern zusammenträgt, und es gibt überdies keinen triftigen Grund, die Analyse von "Codes" ausgerechnet auf ein Kalenderjahr zu beschränken. Codes müssen nicht atmosphärisch vergegenwärtigt werden; es kommt vielmehr darauf an, sie zu erkennen, und das heißt zunächst: von anderen zu unterscheiden. Aber wie schon bei den Dispositiven weiß man auch bei Gumbrechts Codes nie, ob er uns nur eine subjektive Auswahl präsentiert oder aber die vollständige Liste - wenn es sie denn gäbe.

    Gumbrecht wäre nicht der gewitzte Philologe, als der er bekannt ist, wenn er sich mit den dürren Abstraktionen der "Codes" zufrieden gäbe. Also startet er seinen Durchlauf durch das Jahr 1926 noch einmal neu, diesmal unter der Überschrift "Zusammengebrochene Codes". Wo bei den Codes das Wörtchen "versus" stand, regiert nun das Gleichheitszeichen. Authentizität hat sich mit Künstlichkeit im Begriff des "Lebens" vereinigt, Handeln mit Ohnmacht im Zeichen der "Tragik", Individualität mit Kollektivität unter dem Diktat eines "Führers". Falls alle diese Codes im Jahre 1926 zusammengebrochen sein sollten, dann hätte dieses Jahr, was Gumbrecht bestreitet, wohl doch den Status eines "Epochenjahres" gehabt. Man kann erneut die Probe aufs Exempel machen: was geschieht mit dem Code "Männlich versus weiblich"? Die Geschlechterrollen werden, so Gumbrecht, "problematisch". Es fällt ihm nicht schwer, bei Autoren wie Valle-Inclán, Brecht, Egon Erwin Kisch, Thomas Mann und García Lorca das kaum latent zu nennende Interesse am Thema männlicher Homosexualität sichtbar zu machen. Alles was Gumbrecht zitiert, ist 1926 geschrieben worden, und alles, was er zitiert, deutet auf problematische Geschlechterrollen. Aber nichts deutet darauf hin, dass 1926 für das Problematischwerden von Geschlechterrollen ein, wie Foucault es nannte, "historisches Apriori" darstellt. Sind nicht die Geschlechterrollen vielleicht schon viel früher problematisch geworden, waren sie überhaupt jemals nicht problematisch, und könnte es nicht auch sein, dass sie um 1926 nur in manchen Weltgegenden problematisch wurden, und anderswo, etwa im sozialistischen Russland, das Gumbrecht weitgehend ignoriert, zwar revolutioniert, aber keineswegs problematisiert wurden? 1926 ist eben nicht nur ein "Jahr am Rand der Zeit", was immer diese Formel genau bedeuten mag, es ist auch und vor allem ein Jahr in seiner Zeit. Gumbrecht hat es mit der scharfen Klinge der Gleichzeitigkeit aus seiner zeitlichen Umgebung gelöst, zuerst nur, um den Leser auf eine unterhaltsame Zeitreise zu ein paar Dispositiven mitzunehmen, dann, um ihm die Reiseziele erneut, und zwar als binäre Abstraktion, und ein weiteres Mal, um sie ihm als Ruinenlandschaft "zusammengebrochener Codes" nahezubringen. Hinter welchem Reiseleiter steckt nun, fragt man sich, der wahre Gumbrecht?

    Ganz am Ende seines Buches bietet der Autor "Hilfe" an, und zwar, wie er schreibt, "in dem Sinne, in dem sie auf dem Computer-Bildschirm angeboten wird." Wer sich bis hierher fragen mochte, was das eigentliche Motiv hinter Gumbrechts eiserner Theorie-Abstinenz gewesen sein könnte, erhält Antworten aus zwei Abhandlungen, die "Rahmen" heißen. Die erste trägt den Titel "Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war" und plädiert mit Schwung dafür, das Fenster zur Vergangenheit geöffnet zu halten, statt es aus erkenntniskritischen Skrupeln für geschlossen zu erklären. Das Eintauchen in vergangene Lebenswelten könne das sinnliche Vergnügen an der Geschichte wiedererwecken. Und was wäre das sinnliche Vergnügen an der Geschichte anderes als ihre erneuerte Präsenz, ihre Re-präsentation? Begriffe, die von den geistigen Moden der Gegenwart mit Verachtung gestraft werden, setzt Gumbrecht mit einigem Vergnügen wieder ins Recht. Als ein Experiment will er sein Buch verstanden wissen, in dem die üblicherweise für die Geschichtserzählung leitenden Kategorien "Kausalität" und "Sequentialität" ausgeblendet bleiben, damit ein Jahr in der überwältigenden Fülle von Gleichzeitigem in Erscheinung tritt. Was immer man gegen Gumbrechts Ansatz einwenden kann: das Experiment ist gelungen, denn wir, die Leser, haben uns eine Lektüre lang in den Welten von 1926 bewegt - und in denen von 2001 sowieso.