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20 Jahre liberale Rabbinerausbildung in Deutschland
Ein selbstbewusstes Judentum

Seit 1999 bildet das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam und Berlin Rabbiner und Kantoren aus, Frauen und Männer aus vielen unterschiedlichen Ländern. Es hat sich zu einer der führenden jüdischen Ausbildungsstätten weltweit entwickelt. Vor 20 Jahren hatte das noch kaum jemand vermutet.

Von Carsten Dippel | 14.08.2019
Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka, Direktor des Abraham Geiger Kollegs der Universität Potsdam im jüdischen Gemeindezentrum Beit Tikwa in Bielefeld, 31.8.2015
Walter Homolkas Wirken ist eng mit dem Abraham Geiger Kolleg verknüpft (Abraham Geiger Kolleg / Robert B. Fishman, ecomedia)
Walter Homolka: "Ich habe mich als junger Mensch schon sehr intensiv mit theologischen und philosophischen Fragen beschäftigt und erstaunlicherweise fand ich das Judentum als beste Antwort auf meine Fragen."
Aufgewachsen ist Walter Homolka in einem katholisch-evangelischen Elternhaus. Mit 17 konvertierte er schließlich zum Judentum. Es sei vor allem die persönliche Begegnung mit den beiden Rabbinern Walter Jacob und Ernst Stein gewesen, die prägend für ihn war.
"Die Zuversicht und die Erwartung und das Vertrauen, dass die Leute, die sich interessieren und anbieten, dass man die auch in die Lage versetzt, zu wachsen. Und dann auch etwas wieder ins Judentum hineinzugeben. Also, man braucht jemand, der einem sagt, ich glaube an dich. Das hat mich getragen durch mein Leben hindurch und das versuchen wir Menschen heute auch zu sagen."
"Das Kolleg ist eine zentrale Einrichtung geworden"
Walter Homolka gehörte zu einer Generation jüdischer Studenten, die erst ins Ausland gehen mussten, wenn sie Rabbiner werden wollten. Und dort dann auch meist blieben. Kaum einer seiner Generation sei damals, Ende der 1980er-Jahre, auf den aberwitzigen Gedanken gekommen, als ausgebildeter Rabbiner nach Deutschland zurückzukehren. Die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik fristeten ein eher kümmerliches Dasein. An ein blühendes jüdisches Leben, das nach vorne schaute, war nicht zu denken. Rabbiner und Kantoren wurden nicht gebraucht.
Walter Homolka kam schließlich doch zurück – und gründete 1999 in Potsdam und Berlin das Abraham Geiger Kolleg. Wenn er heute in seinem engen Büro, die Wand voller Zertifikate und Auszeichnungen, auf diese Geschichte zurückblickt, muss er selbst staunen.
"Das ist mittlerweile in 20 Jahren zu einer sehr zentralen wissenschaftlichen, aber auch geistlichen Einrichtung geworden. Das hätte ich am Anfang nie vermutet."
Diversität und Vielsprachigkeit gehören dazu
Mit dem unerwarteten Zustrom an Kontingentflüchtlingen aus der Sowjetunion zu Beginn der 1990er-Jahre hatte sich die Situation verändert. Die Zahl der Gemeindemitglieder schnellte von knapp 29.000 auf über 100.000 nach oben. Jetzt wurde qualifiziertes Kultuspersonal benötigt.
"Ich glaube, es ist wichtig, dass Rabbiner da ausgebildet werden sollen, wo sie später auch dienen sollen. Es ist eben nicht genug, wenn man nach Amerika oder Israel geht, es sind völlig andere Gemeindestrukturen, völlig andere Erfordernisse. Insofern gibt es auch einen Raum für die Vorstellung, dass ein europäisches Rabbinat auch eine zutiefst europäische Prägung haben muss."
Heute herrscht auf den Fluren des Abraham Geiger Kollegs in der Berliner Kantstraße reger Betrieb. Die Kanzlerin des Kollegs, Anne Brenker, war von Anfang an dabei.
"Ja, das ist ein vielsprachiger Eindruck, den man hier gewinnt, wenn man auf den Fluren unserer Institution rumläuft: Das geht hier in Spanisch und in Hebräisch und in Englisch und manchmal auch in Russisch und gelegentlich auch auf Deutsch. Das sind Studierende, die aus unterschiedlichen Hintergründen kommen, die ganz verschiedene Zugänge zum Judentum, aber auch völlig verschiedene zum Leben an und für sich haben."
"Wichtig ist, dass man Menschen gerne mag"
Die Studentinnen und Studenten, derzeit sind es 29, kommen aus aller Welt. Sie absolvieren in Berlin und Potsdam ihre Rabbinats- oder auch Kantorenausbildung. So wie Isak Aasvestad, der aus Oslo kommt und Rabbiner werden möchte. Heute haben sie eine besondere Übung gemacht.
"Im Synagogengottesdienst wird die Tora rezitiert nach einem bestimmten Muster und Melodie, das haben wir heute geübt. Es ist schwierig, auch weil man von der Tora-Rolle vorliest, da gibt es keine Vokalzeichen und auch keine Gesangszeichen, man muss es mehr oder weniger auswendig lernen."
Studentin Nitzan Stein-Kokin im Halacha-Seminar. Rabbiner Stephen L. Fuchs, Präsident eremitus der World Union for Progressive Judaism, unterrichtet Rabbinerstudierende am Abraham Geiger Kolleg.
Seit 20 Jahren bildet das liberale Kolleg Rabbinerinnen und Rabbiner aus (Tobias Barniske)
Die Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg beruht auf zwei Säulen: der akademischen an der School of Jewish Theology in Potsdam, wo es um klassische rabbinische Texte, die Bibel, jüdisches Denken, Philosophie und Religionsgeschichte geht, und der praktischen für das geistliche Amt. Neben der Gottesdienstlehre und Fragen zur Seelsorge legt die Rabbinatsausbildung auch großen Wert auf Kommunikationsfähigkeiten und Führungsqualitäten. Die Anforderungen sind komplex, sagt Rabbiner Homolka:
"Wichtig ist, dass man Menschen gerne mag, dass man Menschen auch begleiten kann in den frohen und in den traurigen Momenten des Lebens. Es gehört sicher ein gutes Organisationsgeschick dazu. Und auch die Gestaltung des Gottesdienstes erfordert ein gewisses ästhetisches Geschick. Also mit dem Wissen allein ist es noch nicht getan."
Anfangs gab es Zweifel am Standort Deutschland
Bescheiden hatte es angefangen vor 20 Jahren in einem kleinen Büro am Berliner Savignyplatz. Inzwischen zählt das Abraham Geiger Kolleg zu den führenden Ausbildungsstätten weltweit. Es bietet neben dem Leo Baeck Institut in London die einzige liberale Rabbinerausbildung in Europa an. Im Jahr 2008 kam eine Kantorenausbildung hinzu.
Das Abraham Geiger Kolleg knüpft an die reiche Tradition aus der Zeit vor 1933 an. Denn Deutschland war die Wiege der Wissenschaft des Judentums und der Rabbinerausbildung, die Absolventen gingen in die ganze Welt. Mit dem Nationalsozialismus fand all das ein jähes Ende. Dass je wieder Rabbiner in Deutschland ordiniert würden, daran mochten selbst die kühnsten Optimisten nicht glauben. So gab es anfangs durchaus skeptische Stimmen, erinnert sich Homolka:
"Wie kann auf der Asche der sechs Millionen ein Rabbinerseminar entstehen in Deutschland? Also, das ist ja auch eine nachvollziehbare Überlegung. Und da gab es auch damals keine Antwort. Es war wahrscheinlich der Ansporn, es zum Gelingen zu bringen und zu zeigen, dass Deutschland in Europa eigentlich der beste Ort für ein Rabbinerseminar ist."
"Ein Judentum, das offen ist"
Rabbiner zu sein bedeutet, für die jüdische Gemeinschaft zu arbeiten, dazu beizutragen, dass die jüdische Tradition weiterlebt, sagt Isak Aasvestad. Er hat sich ganz bewusst für die liberale Ausbildung entschieden:
"Ich glaube, das Reformjudentum bietet die beste Möglichkeit, authentisch jüdisch zu leben in unserer Zeit. Es ist ein Judentum, das mit der Moderne lebt und mit der Gesellschaft lebt. Und es ist ein Judentum, das offen ist für - also es gibt keine Fragen, die man nicht stellen darf."
Svetlana Kundish: "Irgendwie kamen jiddische Lieder zurück und ich habe irgendwann gespürt, das ist genau, was ich machen muss. Das ist, wo mein Herz wirklich liegt, was mir gut passt und wo ich wirklich sehr viel Spaß habe."
Ihre ersten Worte auf Jiddisch hat Svetlana Kundish bei ihrer Großmutter gelernt. In Owrutsch, im Norden der Ukraine, einst ein blühendes Shtetl. Auch wenn sie später klassischen Gesang studierte – die jiddische Liedkultur hat sie nie mehr losgelassen. Und so ist Svetlana Kundish heute beides: jiddische Sängerin und Kantorin der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig – ausgebildet am Geiger Kolleg. Sie sieht ihr Amt auch als eine Aufgabe:
"Ich muss sagen, Diskriminierung habe ich innerhalb der jüdischen religiösen Welt mehr erfahren als irgendwo anders. Weil, als eine Frau in einer religiösen jüdischen Welt zu sein und noch dazu eine Kantorin werden wollen und diese Musik zu studieren und dann in einer Synagoge stehen und die Gebete zu leiten, das akzeptiert nicht jeder."
Betreuung über das Studium hinaus
Walter Homolka sieht in jedem Absolventen, in jeder Absolventin des Geiger Kollegs einen Wegbereiter für ein neues, selbstbewusstes Judentum in Europa. Das Seminar ist auch Ausdruck seiner persönlichen Beharrlichkeit und von politischem Geschick, zur richtigen Zeit, die richtigen Leute von seiner Idee überzeugt zu haben. Wozu nicht zuletzt auch die finanzielle Absicherung des Seminars durch Stipendien und Förderungen zählt.
"Das gibt mir die Zuversicht, dass aus jedem was werden kann, wenn er diese Förderung erfährt. Die einzige Frage ist, was hat der oder die für ein Potenzial. Sind wir auch bereit, dieses Risiko auf uns zu nehmen, dass wir jemanden in eine Laufbahn entwickeln, wo wir natürlich auch dafür zuständig sind, dass die da in Lohn und Brot kommen. Das heißt, meine Arbeit ist nicht beendet, wenn die ihr Studium absolviert haben, sondern wenn eine Gemeinde einen Arbeitsvertrag mit denen schließt, dann ist meine Arbeit zunächst mal beendet."