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Orthodoxes Judentum in Deutschland
"Freiheit wie in kaum einem anderen Land in Europa"

Rabbiner Joel Berger sieht die Demokratie in Deutschland nicht in Gefahr. Antidemokratische Gesinnungen würden von "der überwiegenden Mehrheit" abgelehnt, sagte der ehemalige Landesrabbiner für Württemberg im Dlf. Und das orthodoxe Judentum in Deutschland? Wie geht es weiter?

Joel Berger im Gespräch mit Andreas Main |
    Joel Berger im Anzug mit Hut
    Der orthodoxe Rabbiner Joel Berger - der Titel eines seiner Bücher: "Der Mann mit dem Hut" (Klöpfer & Meyer / Burkhard Riegels)
    Andreas Main: Vor einigen Monaten bekam ich einen etwas aufgebrachten Anruf von einem Rabbiner. Der Rabbiner war etwas aufgebracht, wie gesagt, weil er ein Gespräch gehört hatte, das ich mit einem anderen Rabbiner geführt hatte, mit Walter Homolka. Für Nicht-Insider muss gesagt werden, Homolka ist Professor, Rektor des von ihm mitgegründeten Abraham-Geiger-Kollegs und engagiert im liberalen Judentum. Der Anrufer, daraus machte er keinen Hehl, war orthodox. Die Argumente gingen hin und her. Aus einem anfangs etwas holprigen Gespräch wurde ein heiteres und für hoffentlich beide Seiten, auf jeden Fall für mich, inspirierendes Gespräch. Damals haben wir uns versichert, wir klären die offenen Fragen in dieser Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Und vor allem: Wir wollten uns gegenübersitzen und uns in die Augen schauen. Jetzt sitzen wir uns gegenüber bei einer Aufzeichnung beim Südwestrundfunk in Stuttgart. Ich spreche mit Joel Berger, Rabbiner Joel Berger. Zuletzt war er Landesrabbiner für Württemberg. Guten Morgen, guten Tag, Herr Berger.
    Joel Berger: Guten Morgen, Herr Main.
    Main: Bevor es ans Eingemachte geht, lassen Sie uns ein wenig teilhaben an Ihrem langen Leben. Wenn das einschlägige Internetlexikon Recht hat, sprechen Sie Ungarisch, Deutsch, Russisch, Englisch, Schwedisch, Hebräisch und Jiddisch. In welcher Sprache träumen Sie?
    Berger: Schwäbisch, nach einer Weile schon, ich bin fast 25 Jahre in Stuttgart tätig. Jetzt kommen mir manche Träume schwäbisch vor.
    "Ungarn wurde uns nie Heimat"
    Main: Sie sind 1937 in Budapest geboren. Sie waren sieben Jahre alt, als das nationalsozialistische Deutschland Ihre Heimat besetzt hat. Was sind Ihre frühesten Erinnerungen an die Ausgrenzung des jüdischen Jungen?
    Berger: Dass dieses Land Ungarn uns nie Heimat wurde, in keiner Zeit, unter keiner Herrschaft, nicht unter den Faschisten, ungarischen Faschisten, die schon älter waren als die deutschen, und nicht unter den Kommunisten, die nach dem Krieg an die Regierung kamen. Wir waren immer Bürger, wenn überhaupt, letzter Klasse. Unter den Nazis als Juden, aus rassistischen Gründen - und unter den Kommunisten aus wirtschaftlich-politischen Gründen gehörten wir zu den Ausbeutern, also Sonderklasse.
    Main: Sie haben anders als viele Ihrer Familie die Shoa überlebt. Sie haben nach der Befreiung eine Feinmechaniker-Lehre gemacht. Dann haben Sie studiert, Geschichte unter anderem, Jura und Pädagogik. Was war dann der Auslöser für Sie, dass Sie dann oben drauf noch eine Ausbildung als Rabbiner gesetzt haben?
    Berger: Die Reihenfolge ist etwas verkehrt durch die politische Situation. Zur Feinmechaniker-Lehre kam ich nach dem Abitur deshalb, weil ich bürgerlicher Abstammung war und noch dazu als Jude nicht zum Universitätsstudium zugelassen wurde. Also hat man mir gesagt, wenn du in der Arbeiterklasse Eintritt dir verschaffst, dann kannst du mal mit einem Studium dich anfreunden. Ich durfte dann in Szeged, in Süd-Ungarn, Jura anfangen, aber wie die Geschichte mit mir spielte, brach die Revolution aus.
    Ich gestehe Ihnen, ich war nicht in dieser Revolution beteiligt, aber ich wollte aus diesem Land weg und die Russen haben mich an der Grenze erwischt und die haben mich eingesperrt, vorbestraft, also keine Universitätsmöglichkeit und nach einer Weile habe ich mit dem Studium im Rabbinerseminar angefangen.
    "Viktor Orbán ist ein raffinierter Gauner"
    Main: Wie sehen Sie Ungarn heute? Lassen Sie uns einen Sprung machen. Einmal abgesehen von anderen Politikfeldern, Ministerpräsident Viktor Orbán setzt stark auf Ressentiments gegen Juden. Ist die aktuelle Situation so dramatisch wie oft beschrieben - oder sind Sie weniger skeptisch, was das heutige Ungarn betrifft?
    Berger: Sie müssen unterscheiden. Orbán ist ein Aushängeschild, ein gewiefter Politiker, der weiß, wofür er von wem gewählt wurde. Er ist in meinen Augen weder Antisemit noch Rassist, aber seine Leute, die Wähler, 80 % dieses Landes sind seit eh und je Feinde der Minderheiten, Juden wie andere Minderheiten ebenso. Aus dem Grunde ist Orbán jemand, der diese Leute bedient.
    Dieses Land ist in der Europäischen Gemeinschaft fehl am Platze. Damals hat es Verheugen durchgesetzt, dass sie aufgenommen werden. Das war ein fataler Fehler. Und Sie werden noch erleben, das wird der Europäischen Gemeinschaft noch bittere Stunden geben.
    Viktor Orbán (Fidesz-Partei) mit seinem Team und Unterstützern während einer Ansprache nach der gewonnenen Wahl.
    Joel Berger: Viktor Orbáns Ungarn "ist judenfeindlich". (dpa / Darko Vojinovic)
    Orbán ist ein raffinierter Gauner. Er weiß haargenau, dass die Paragraphen der EU keine Chance für Sanktionen gegen ihn oder gegen Ungarn erlauben. Infolgedessen macht er alles, was ihm gefällt, wobei ich nicht verschweigen möchte, dass die jüdische Gemeinschaft - es gibt inzwischen schon drei Gemeinden - die stehen sozusagen nicht im Vordergrund seiner Gegner. Nur: Das Land ist judenfeindlich. Die meisten Leute im Lande wollen keine Juden haben, so wie sie auch keine Migranten haben wollen.
    Main: Herr Berger, jetzt einmal zu unserem eigentlichen Thema, jetzt Butter bei die Fische, was haben Sie gegen liberale Juden oder gegen Reformjuden?
    Berger: Ich habe nichts gegen sie, nur ich habe gelernt und ich habe mich daran gewöhnt, dass selbst liberale Juden, dass sie ein jüdisches Wissen haben, eine jüdische Einstellung haben und etwa die jüdischen Werte einhalten. Ob liberal oder Reform, das ist überhaupt kein Problem.
    "Blanker Unfug"
    Main: Sie haben ein Problem offensichtlich mit dem, was Sie als bestimmte Polemik verstehen oder bezeichnen. Ich zitiere einmal aus dem besagten Interview, das am 30. Oktober vergangenen Jahres an dieser Stelle ausgestrahlt wurde, eben mit Ihrem Rabbinerkollegen Walter Homolka. Er sagte damals wörtlich: "Das orthodoxe Judentum ist jünger als das liberale Judentum. Denn das liberale Judentum versuchte, sozusagen die jüdische Tradition in die Moderne hinüber zu retten. Und diese Veränderungen führten dann sozusagen zu einer Reaktion von denjenigen, die Änderungen ablehnten." Was halten Sie dagegen?
    Berger: Also, zuerst einmal, was er hier gesagt hat, ist blanker Unfug. Diese zeitliche Einstellung, dass die liberale Bewegung älter ist als die Orthodoxe, das trifft einfach historisch nicht zu, weil vielleicht die Bezeichnung, der Begriff "orthodox", diese Bezeichnung mag sein als Antwort auf die liberale. Aber die traditionelle jüdische Lebensform ist die weit ältere als die liberale.
    Main: Ich halte jetzt einmal dagegen: Er meint ja wohl offensichtlich, dass das liberale Judentum im 19. Jahrhundert et cetera in der Lage war, sich an die Moderne anzupassen, was immer im Judentum geschehen ist. Da würden Sie ja wohl kaum widersprechen, und dass es deswegen sozusagen genuin diese Tradition verfolgt, während die Orthodoxie sich in eine Gegenbewegung verschanzt.
    Berger: Also, ich sehe die liberale Bewegung als Gegenbewegung. Verzeihen Sie, für meine Begriffe gab es einen Rabbiner in Pressburg, Moses Sofer, der ist sozusagen derjenige, der die Wege und die Lebensformen, Lebenseinstellung der jüdischen Gemeinschaft festgelegt hat und gerade aufgrund der Assimilation und aufgrund der Emanzipation hat er gesagt, "bei diesem traditionellen Weg zu bleiben, nicht rechts und nicht links, und ich bin Nachfahre derjenigen, die man aus dem Heiligen Lande vertrieben hat, und ich befinde mich im Ausland, um nicht zu sagen in der Gola, in der Diaspora, und ich warte sehnsüchtig darauf, bis wir heimkehren dürfen."
    Diese traditionelle gesetzestreue Einstellung geht davon aus, dass Juden, die mit ihrem Glauben, mit ihrer – wenn Sie so wollen – Religion verbunden sind, sich wie im Ausland befinden, das ist die Haltung der gesetzestreuen Juden bis zum heutigen Tage. Der gesetzestreue Jude steht auf dem Standpunkt der Gesetzgebung, der Tora, und der nachbiblischen rabbinischen Literatur beziehungsweise Schulchan Aruch, Gesetzeskodexe, die seinen Lebenslauf von morgens bis abends bestimmen.
    Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs, spricht am 01.12.2016 bei der Rabbinerordinationsfeier in der Synagoge der Liberalen Juüdischen Gemeinde in Hannover.
    Der Potsdamer Rabbiner Walter Homolka (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Und ein liberaler oder Reformrabbiner - à la Homolka - glaube ich, ist nur theologische Schwärmereien oder solche Schöngeister... Ich glaube nicht, dass die 612 Gebote, wie Homolka Ihnen gesagt hat, etwas für ihn bedeuten. Er hat gesagt, sie sind sowieso eine Fiktion.
    Überlegen Sie sich: Ein Rabbiner Homolka sagt, dass dieses eine Fiktion ist. Also wie kommt der Mensch dazu, mein Leben als Fiktion zu bezeichnen? Oder sagt er: Ist denn die Orthodoxie wirklich der Meinung, so Homolka, dass das, was am Berg Sinai offenbart worden sei, dass das allgemein gültig ist? Um Himmels Willen, da will der Mann die Zehn Gebote wegradieren.
    Main: Wie viele der 612 Gebote haben Sie in den letzten vier Wochen befolgt?
    Berger: Ich habe nicht nachgezählt, aber so viele, wie es nur möglich war, nach bestem Wissen und Gewissen, um nach Art und Weise der gesetzestreuen Juden hierzulande einzuhalten.
    Main: Wie viele sind nicht einzuhalten? Wie viele sind unmöglich einzuhalten?
    Berger: All diejenigen, ich werde mich zahlenmäßig nicht genau festlegen, aber diejenigen, die mit der Tempelgesetzgebung, mit priesterlicher, levitischer oder sonstigen Reinheitsgebote, mit Tempelopfer und auch was mit Israel, also mit dem jüdischen Land in Verbindung steht, die ist in der Gola nicht einzuhalten.
    Aber das, was ein Jude, ein gesetzestreuer Jude in der Diaspora zu befolgen hat, Sabbat, Kaschrut, also rituelle Speisengesetzgebung, Feiertage und was die Lebensführung betrifft, das ist bei uns selbstverständlich - nicht nur bei mir, auch bei meinen Kindern und Kindeskindern. Wenn wir bei uns zu Hause Sabbat feiern, da ist ein Geist drin. Da tun wir das, was Juden in aller Welt am Sabbat tun. Das ist der jüdische Geist.
    "Jesus war kein Christ"
    Main: Aber es gab ja einen Juden, relativ berühmt, ein Wanderprediger, in Nazareth geboren, ich meine Jesus, den Juden Jesus. Da ist dieser Konflikt ja schon angelegt, vor 2000 Jahren: einer, der sich mehr in den Geist dieser jüdischen Gesetze, die er befolgt hat, reingedacht hat. Also, ich denke, das ist ein Menschheitsthema, was wir gerade besprechen.
    Berger: So ist es, Sie haben vollkommen Recht. Lieber Herr Main, wenn wir mit Jesus beginnen, dann würden wir ein Extragespräch führen. Denn dann müsste ich Ihnen Punkt für Punkt nachweisen, dass Jesus kein "Yota" verändert hat, wie er gesagt hat. "Yota " hat er bestimmt nicht gesagt, weil es ein griechischer Buchstabe ist. Das hebräische J ist viel kleiner, dass er nicht einmal ein J von der hebräischen Bibel und Talmud weggegangen ist und dass Jesus nichts Christliches gesagt hat, dass Jesus kein Christ war, so wie seine Nachfahren.
    Main: Er hat auch nicht Weihnachten gefeiert.
    Berger: Bestimmt nicht, bestimmt nicht, Neujahrsfest auch nicht, weil das ist der Tag seiner Beschneidung.
    Main: Dass Jesus ein Jude war und dass er das Gesetz befolgt hat, ist eindeutig. Der Punkt ist doch der, ob nicht letzten Endes, so wie christliche Theologen über 2000 Jahre lang immer versucht haben, Jesus möglichst weit dem Judentum zu entreißen, ob sich diese Bewegung nicht womöglich auch im Judentum abspielt und somit vielleicht liberale Juden so etwas sind wie – oh Gott, ich möchte es gar nicht aussprechen, aber so wie leicht christianisierte Juden? Ist das sozusagen Ihr Vorwurf?
    Berger: Christianisiert sind sie nicht, entjudaisiert, weil, verzeihen Sie, was sie tun oder wie sie das tun, das entfernt sie vom klassischen jüdischen Boden und von jüdischen Lebensformen. Ich bin ein Kind von Überlebenden der Shoa, wo 40 meiner Angehörigen in der Shoa ermordet worden sind. Aus dem Grunde lebt bei uns der Zweifel ständig mit. Und ich habe in dieser Gemeinde in Stuttgart meine Tätigkeit angefangen, wo die Mehrheit KZ-Überlebende waren. Die meisten waren, was ihr Gottesverständnis betrifft, zerstört. Das heißt, wir haben ein skeptisches Gottesverständnis und nicht etwa so ein theologisches Gottesverständnis, gradliniger Glauben à la Luther.
    "Wir müssen uns auf einen gemeinsamen Nenner einigen"
    Main: Herr Berger, es gibt in Deutschland die Einheitsgemeinde.
    Berger: Ja, vollkommen richtig.
    Main: So, Sie wollen die auflösen?
    Berger: Nein, um Gottes Willen, verzeihen Sie, ich bin doch nicht verrückt. Ich bin pragmatisch. Die Einheitsgemeinde ist eine Konstruktion, die nach der Shoa die einzige jüdische Gemeindeform bildet und ermöglicht, wo alle zusammen unter einem Dach leben können. Die Orthodoxie, also die gesetzestreue wie die liberale, wir müssen uns nur auf einen gemeinsamen Nenner einigen.
    Main: Herr Berger, ist es nicht auch ein wenig der Knackpunkt, dass Sie, der Sie eben erinnert haben an Ihre Gemeinde, an den Zweifel, an die tiefen Narben, auch psychischer Art, in Ihrer Gemeinde, dass sich aber auch Gemeinden ändern, dass es eben auch Gemeinden gibt, in denen – Zuflucht suchen möchte ich nicht sagen, aber in denen ihren Ort finden: homosexuelle Juden, konvertierte Juden, linkspolitisch engagierte Juden … Die brauchen auch einen Ort. Also, warum sind Sie da nicht ein wenig gnädiger?
    Berger: Ich bin sehr gnädig. Für mich sind alle Juden, ob homosexuell oder - wie sagten Sie, welche?
    Main: Konvertierte.
    Berger: Konvertierte, die ehrlich, redlich, aufrichtig diese Konversion gemacht haben, aus ehrlicher Überzeugung, und führen ein jüdisches Leben, sind zweifelsohne Juden. Ich gebe zu, dass ich kein großer Freund von Konversionen bin, weil ich häufig Erfahrungen damit gemacht habe - und nicht positive, wenig positive. Aber Jude ist, wer sich dazu bekennt, der diese Lebensform, diese Einstellung übernimmt, und mit uns auf den Weg zu gehen bereit ist, wenn das auch manchmal pathetisch klingt.
    "Ich bin mit Israel verbunden"
    Main: Rabbiner Berger, wir haben persönlich begonnen, lassen Sie uns persönlich auch enden. Sie tragen eine dunkelblaue Basecap. Ich tippe, darunter ist die Kippa.
    Berger: Hier nicht, aber zu Hause habe ich keine Basecap, nur die Kippa.
    Main: Versuchen Sie uns doch zu erklären, warum es für Sie wichtig ist, für Sie persönlich.
    Berger: Die Kopfbedeckung ist keine biblische. Kein Tora-Gebot. Nur: Es ist in der jüdischen Tradition nach der Aussage des Talmuds, dass ein Gelehrter, ein mit der Lehre verbundener Mensch geht nicht einmal vier Schritte ohne Kopfbedeckung. Das ist eine Tradition geworden, und seitdem wollen alle Gelehrte sein.
    Main: Wie oft, eine weitere persönliche Frage, wie oft reisen Sie, Sie sind nicht mehr ganz jung, noch in jenes Land, das im Februar frühlingshafte Temperaturen hat und im November auch, also nach Israel?
    Berger: Nach besten Möglichkeiten, wenn ich mir die Zeit dazu freinehmen kann, dann reise ich meistens mit meiner Frau. Ich bin mit diesem Land verbunden, Tag und Nacht, ob Nachrichten von Medien oder von Meinungen, die ich hier anhören muss, und bei jeder Gelegenheit, wo ich es machen kann, fahre ich hin.
    Meine Enkelin ist gerade von einer Reise mit ihrer Schulklasse aus Antwerpen aus Israel zurückgekehrt nach zehn Tagen. Das ist etwas, wofür man nicht dankbar genug sein kann, dass meine Enkelkinder, wo wir 2000 Jahre sehnsüchtig erwähnt haben, Rückkehr nach Zion, den Wiederaufbau Jerusalems in den Mittelpunkt unserer Gebete gestellt haben und jetzt, meine Enkelkinder beiderseits sprechen alle Hebräisch. Da ist irgendein Geist drin.
    "Ich habe 30 Jahre in diktatorischen Staaten gelebt"
    Main: Sie werden aber in diesem Leben nicht mehr nach Israel auswandern?
    Berger: Ich glaube, der Zug ist abgefahren, um ehrlich zu sein. Als ich 1956 Ungarn verlassen wollte, wollte ich dahin, aber der kommunistische Staat hat mich daran gehindert, eingesperrt und gedemütigt - und da ist der Zug abgefahren.
    Main: Das impliziert aber auch, dass Sie Deutschland nicht an einem Punkt sehen, dass Sie es noch in diesem Leben erleben müssen, dass Sie auswandern müssen?
    Berger: Nein, im Gegenteil, ich bin der Meinung, hier in diesem Lande herrscht eine Demokratie. Ich bin froh und dankbar, dass es mir vergönnt wurde, in Deutschland zu leben mit einer Sprache, mit der ich nach meiner Geburt groß geworden bin und in einem Staat, der ein demokratischer, aufgeklärter, moderner, toleranter Staat ist, was ich nicht mehr gehofft habe, erleben zu können. Ich fühle mich hier als Bürger dieses Staates, ich fühle mich hier in diesem Lande verstanden und fühle mich zu diesem Lande hingezogen aus mehreren Gründen.
    Main: Welche sind besonders wichtig für Sie?
    Berger: Die Freiheit, die Freizügigkeit, die Rechtssicherheit, die Toleranz anderen Menschen, anderen Gedanken gegenüber - das ist in Europa in kaum einem anderen Land so geboten wie hier. Und das kann nur jemand begreifen, der 30 Jahre seines Lebens in terroristischen, diktatorischen, undemokratischen Staaten gelebt hat, wo man tagein tagaus ausgesetzt war irgendeiner Schikane und irgendeinem neuen Regierungsprogramm, das uns nur eine Gefahr bedeuten konnte.
    Mehrere Teilnehmer der Solidaritätskundgebung «Berlin trägt Kippa» der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tragen eine Kippa. Anlass ist der Angriff auf einen Mann mit Kippa in Prenzlauer Berg. 
    Joel Berger: "Antisemitismus herrscht dort, wo Regierungen und Behörden judenfeindlich handeln." (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Main: Und wenn ich jetzt Wasser in den Wein gieße und sage, dass zum altbekannten rechten Judenhass immer stärker linker Judenhass, auch muslimischer dazukommt, das stellt Ihr Bekenntnis nicht infrage?
    Berger: Nein, überhaupt nicht! Ich sage Ihnen, warum. Weil ich habe gelernt in meinem Leben: Antisemitismus herrscht dort, wo die Regierung, die Regierungsämter oder sonstige andere Behörden antisemitisch, judenfeindlich handeln. Das ist beileibe in Deutschland nicht geboten.
    In Deutschland regiert eine gewählte Bundeskanzlerin, die über die Staatsräson gesprochen hat in einer bestimmten Form, die mich sehr beeindruckt hat. Ein Land, wo die antidemokratische Gesinnung bei der überwiegenden Mehrheit des Landes Ablehnung findet, wenn ein Herr Gauland sagen kann, das ist "Fliegenschiss in der deutschen Geschichte"…
    Main: "Vogelschiss..."!
    Berger: "Vogelschiss" … dann gibt es einen Aufruhr. Und das gibt mir die Kraft, dass wir hier in diesem Lande die demokratisch grundsätzliche Achtung der Menschen, die Würde des Menschen weiterhin erleben werden.
    Main: Rabbiner Joel Berger, ich danke Ihnen ganz herzlich für diese Einschätzung, für Ihre offenen Worte und wünsche Ihnen erst einmal alles Gute.
    Berger: Ich danke Ihnen auch und ich hoffe, dass es nicht unser letztes Gespräch war.
    Main: Hoffentlich nicht, also danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.