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20 Jahre "OK Computer"
Eine Platte für die Ewigkeit

Es gilt als Meilenstein der Popmusik: Vor genau 20 Jahren erschien die Platte "OK Computer" von Radiohead. Ein Gitarrenalbum, mit dem sich die Band vom klassischen Songwriting verabschiedet hat. "Ganz große Kunst", meint Musikkritiker Andi Hörmann.

Von Andi Hörmann | 17.06.2017
    Thom Yorke bei einem Konzert mit seiner Band Radiohead in Paris am 23. Mai 2016 .
    Die Band Radiohead hat mit "OK Computer" Musikgeschichte geschrieben (imago/PanoramiC)
    Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 1997. Dies sind die Abenteuer der Band Radiohead, die sich mit ihren fünf Musikern wochenlang in ein englisches Landhaus zurückgezogen hat, um fremde Galaxien akustisch zu erforschen. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringen Radiohead damit in musikalische Sphären vor, die so noch kein Mensch zuvor gehört hat.
    "…Breathe, keep breathing / Don't lose your nerve…"
    Computerstimme: "Verspüren Sie bei dieser Musik ein leichtes Unbehagen? Empfinden Sie Euphorie? Beschleicht Sie ein Gefühl der Angst? Für Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt oder Apotheker."
    Die Vereinzelung des Menschen
    Vor genau 20 Jahren veröffentlichen Radiohead ihr drittes Studioalbum: "OK Computer". 12 Stücke, knapp eine Stunde Spielzeit, eine Platte für die Ewigkeit.
    "…In the next world war / In a jackknifed juggernaut / I am born again…"
    Die Digitalisierung steckt Mitte der 1990er Jahre noch in ihren Kinderschuhen. Das Internet macht die ersten Schritte: Noch gibt es keine Smartphones, keine Sozialen Medien. Und doch werden wir langsam zu von Maschinen gesteuerten Menschen.
    "Fitter, happier / More productive / Comfortable / Not drinking too much…"
    Die menschgewordenen Maschinen bestimmen immer mehr unser Leben. Und der Computer beginnt, uns zu dominieren. Radiohead komponieren dazu einen Kultur-Skeptizismus. OK Computer: Du versprichst Gutes, wir befürchten Böses. Datentransfer und Transitverkehr - alles ist in Bewegung, die Welt rauscht an uns vorbei. Die Vernetzung der Maschinen, die Vereinzelung des Menschen.
    "Calm, fitter, healthier and more productive / A pig in a cage on antibiotics"
    Ein Schwein im Käfig, vollgepumpt mit Antibiotikum. Die Welt ist grausam. Natürlich. Und Dein Leben ist klaustrophobisch. Oh ja, auch das.
    Mobil und morbide
    Unsere Existenz verkehrt sich zum "paranoiden Androiden". Wir halten uns die Ohren zu, ziehen eine Fratze zum stummen Geschrei. OK Computer. All dieser Lärm, diese Sehnsucht nach Ruhe, dieses Hühnergegacker in unseren Köpfen:
    "Please could you stop the noise, I'm trying to get some rest / From all the unborn chicken voices in my head / What's that…"
    "What's that?" Ja, was ist das nur für ein Album? Ok Computer: Du bist ganz große Kunst, die Künstlerseele im freien Fall, sensible Emotionen auf dem piksenden Nagelbett der Gesellschaft, Himmel und Hölle auf Erden.
    "…God loves his children, god loves his children / Yeah…"
    Die Kakofonie wird zur Katharsis. Der gläserne Mensch - mobil und morbide, von Ängsten gebeutelt, von Phobien geplagt, kurz vor dem Zusammenklappen. Verfall durch Fortschritt. Zurück bleibt eine Lücke - und die Melancholie. Sie kippt in Depression. Pessimismus ist im Landeanflug. OK Computer.
    "Transport, motorways and tramlines / Starting and then stopping / Taking off and landing…"
    "No surprises"
    Brit-Pop ist 1997 in aller Ohren: Blur und Oasis, Pulp und The Verve sind die smarten Bands der Stunde. Sie treten mit ihren Kompositionen das Erbe der Beatles an. Tony Blair setzt mit "New Labour" auf Wirtschaftswachstum. Pop und Politik werden im Slogan "Cool Britannia" vermarktet. Und Radiohead halten diesen Oberflächlichkeiten den Spiegel vor und scheuen sich nicht vor der Seelenschau: In Thom Yorkes melancholischen Gesangs-Kapriolen werden private Ängste zur politischen Agenda.
    "…This is my final fit / My final bellyache with / No alarms and no surprises…"
    "No Surprises" - keine Überraschungen. Macht und Politik im Vorgarten der Kleinbürgerlichkeit. Ohnmächtig gegenüber den Verhältnissen. Dazu das Kling-Klong des Glockenspiels, wie das Muster der Wolldecke auf Sigmund Freuds Couch.
    Und mit "Karma Police" veröffentlichen Radiohead auf "OK Computer" einen der besten Beatles-Songs, den die Fab Four nie geschrieben haben.
    "Karma police, arrest this man / He talks in maths / He buzzes like a fridge / He's like a detuned radio…"
    Musik aus Ängsten
    Und im letzten Stück auf "OK Computer" dann die Entschleunigung: Wir Idioten müssen endlich die Geschwindigkeit aus unserem Leben nehmen.
    "Hey man slow down, slow down / Idiot, slow down, slow down…"
    "OK Computer", Du gehörst längst zu unserem Leben. Danke, Radiohead! Ihr habt aus unseren Ängsten wundervolle Musik gemacht. Wir fühlen uns damit einfach weniger einsam. Ziemlich "OK Computer". Auch wenn Du uns immer noch sagst, wie wir leben sollen.
    Computerstimme: "Gesünder / Glücklicher / Die Produktivität steigern / Zurücklehnen / Nicht zu viel trinken / Regelmäßiges Fitnesstraining / Dreimal die Woche."