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20 Menschen, 10.000 Gänse

Der Frühling - wohl nirgendwo wird er sehnsüchtiger erwartet als auf der Hallig Nordstrandischmoor. 20 Einwohner zählt die kleine Insel, das Leben wird bestimmt vom Tidenhub. Im Frühjahr wird die sonst so ruhige Hallig laut, Zehntausende Ringelgänse lassen sich dort nieder, überall schwirrt und flirrt es. Lämmer werden geboren, die Nordsee scheint nicht mehr ganz so grau und trostlos. Und natürlich wagen sich nun auch wattwandernde Touristen auf die Insel. Viel zu sehen gibt es nicht, noch nicht einmal ein Lebensmittelladen existiert auf der Hallig. Johanna Kutsche konnte sich dennoch gut beschäftigen.

Von Johanna Kutsche |
    Es gab einmal einen Tatort mit Manfred Krug und Charles Brauer. Der Krimi verlief recht vorhersehbar. Am Anfang die Leiche, am Ende der gemeinsame Gesang. Nur dass die Leiche im Watt lag, mit gefesselten Händen. Aber nein. Auf der Hallig Nordstrandischmoor passiert bestimmt nichts dergleichen. Kilometerlang geht es durch den Cecilienkoog. Rechts und links Marsch, Windkraftanlagen, mal ein Bauernhaus. Und dann kommt die Piste. Schlaglochreich. Wenn jetzt hier das Auto ... lieber nicht zu Ende denken. Was sich wie eine schwarze Wand aus dem Dunkel erhebt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Deich. Als Deich mit Lorenbahnanschluss. Gastgeberin Ruth Hartwig-Kruse hat das Flutlicht angemacht und scheint in sich hinein zu schmunzeln. Muss auch ziemlich lächerlich aussehen, wenn eine Städterin mit hellen Turnschuhen angestiefelt kommt, den Blick ängstlich zu Boden gerichtet, um den Pfützen auszuweichen.

    Kinder, Gepäck und Städterin werden auf die Lorenbahn verfrachtet, die wie eine motorisierte Draisine aussieht. Und auf geht es. Erst den Deich hoch. Dann auf dem Damm zur Hallig. Und von der Lorenbahn auf den Traktor zur Norderwarft. Das bisschen Watt und die kalte Nordseeluft beginnen zu wirken. Meine Finger sind eiskalt. Aber mein Gemüt ganz ruhig. Und das bleibt auch die nächsten Tage so, sagt Ruth Hartwig-Kruse:

    "Es ist so, dass man auf der Hallig gerne leben muss, das ist ganz klar. Aber andererseits, ich erlebe das ganz oft, wenn wir Besuch haben, die sagen dann immer, mein Gott, bei Euch ist ja mehr los als bei uns. Das war immer so, wenn meine Schwiegereltern hier waren, die wohnen auf dem Dor..., also so, ja jwd., draußen aufm Feld mit ihrem Bauernhof und da sagt dann Schwiegermutter, bei Euch kommen ja mehr Leute als bei uns vorbei. Einfach im Sommer haben wir den Tourismus und auch sonst, es kommen immer mal wieder Leute einfach so übers Watt gelaufen, die dann zum Kaffee zu Besuch kommen. Es ist schön, wenn wir auch mal alleine sind. Es ist hier weiß Gott nicht einsam."

    Neben den Menschen sorgen dafür die zahlreichen Tiere. Am Morgen grasen rund um die Warft ein paar Schafe. Die Lämmer springen wild und ausgelassen umher, fast wie Fohlen. Lerchen zwitschern über den Wiesen, Austernfischer; Hobbyornithologen hätten ihre helle Freude. Die ersten Ringelgänse sind bereits da. Sie sind gut zu erkennen, dunkel, ungefähr so groß wie Enten und unglaublich schreckhaft. Ein einzelner Spaziergänger, der sich auf leisen Sohlen nähert, reicht bereits aus, um Hunderte von ihnen in die Flucht zu schlagen. Und dabei sollen sie sich doch dick und rund fressen auf der Hallig. Ihre Brutgebiete liegen in Sibirien, am Nordpolarmeer. Jedes Jahr legen sie zwischen den Winterquartieren auf den Britischen Inseln, der Raststation auf der Hallig und ihren Brutplätzen viele Tausende Kilometer zurück.

    "Wenn die Ringelgänse kurz vorm Abfliegen sind, dann werden die Tiere geholt. Für beide ist nicht so unbedingt immer zusammen was zu fressen da. Aber die Ringelgänse, das ist fast achtzig Prozent der Weltpopulation, die hier rastet, und ich denk, so wie wir das jetzt haben, dass wir also die Ringelgänse hier laufen lassen, dafür bekommen wir eine Entschädigung und damit können wir dann wieder Futter kaufen und so kann man sich arrangieren."

    Und so grasen eben nur ein paar Schafe auf der Warft. Mitte Mai werden die anderen vom Festland geholt, ebenso ein paar Rinder. Besonders gut verkaufen aber lassen sich die Schäfchen. Ein Lamm von der Hallig wird als biologisches Salzwiesenlamm vermarktet und gilt als Delikatesse. Überhaupt, Bio und artgerecht sind Begriffe, die hier überflüssig sind. Es dürfen sowieso nur so viele Tiere auf der Hallig sein, wie auch auf die Warften passen. Die Schafe würden sonst schlichtweg ertrinken, wenn bei Flut die Hallig überschwemmt wird. Nur die Warften ragen dann noch aus dem Wasser. Grüne Hügel mit roten Häusern obendrauf.

    Im Moment aber ist alles friedlich. Ich kann von der Norderwarft die gesamte Hallig überblicken. Die Schulwarft, dahinter die Neuwarft mit dem Halligkrog. Ein paar Hundert Meter entfernt steht die Halberwegwarft. Ein kleines rosa Wesen fährt mit Karacho die kleine Anhöhe zum Weg hinunter und radelt fröhlich weiter. Das muss Zoey sein, das Vorschulkind. Auch ich muss zur Schule.

    Die Schule sieht aus wie ein normales Wohnhaus. Nur dass die Anhöhe zur Warft hinauf von kleinen Fahrrädern gesäumt ist. Gut, eigentlich nur von vier Fahrrädern. Denn Lehrer Erk Lorenzen unterrichtet drei Schüler und eine Vorschülerin, die gerade draußen herumtoben:

    "Und wichtig ist natürlich, dass man selber dann persönlich so strukturiert ist, dass man auch Lust hat, das zu machen. Ich bin ja hier ganz alleine, ich bin ja hier Schulleiter, ich bin mein eigener Chef. Es gibt niemanden, der mir, bildlich gesprochen, in den Hintern tritt und dafür sorgt, dass ich eben das mache, was notwendig ist."

    Eine schwierige und unterschätze Aufgabe. Auf der Hallig wird schon gewitzelt, der Lehrer bekäme bald richtig viel zu tun, wenn zusätzlich zur Vorschülerin Zoey im nächsten Jahr auch die nächste Schülerin eingeschult wird. Fünf Schüler hätte er dann. Und dabei ist es eine heterogene Lerngruppe, die Lorenzen zu unterrichten hat. Während Erik Mathematikaufgaben der dritten Klasse löst, recherchieren Ann-Katrin, sechste Klasse und Hendrik, fünfte Klasse im Internet.

    "Die Normalsituation ist, ich bin der einzige in dieser Klassenstufe, ich habe meinen eigenen Lernplan und das hat alles seine Vor- und Nachteile. Der Nachteil ist eben, dass der Mitschüler fehlt, ich merke gar nicht, dass ich langsam bin, denn da ist ja keiner, der schneller ist als ich. Der Vorteil ist natürlich, dass die Lernprozesse passgenau sind. Insofern ist das Lernen an einer Halligschule häufig wesentlich effektiver."

    Das lästige 45-Minuten-Modell gibt es hier nicht. Manchmal lernen die Schüler zwei Wochen Biologie, bis der Abschnitt abgeschlossen ist und ein anderes Fach an die Reihe kommt. Das wiederum ist eine optimale Lernbedingung. Ach, irgendwie hat diese Hallig etwas von einer Idylle.

    "Lami." "Eines kleines Lama, nech, ein junges." "Eeeellefant. Kameeel. Und Giraffe." "Ja, richtig. Und wie heißt diese Kuh?" "Alma." "Alma ist das." "Das ist auch Alma. Lila. Bestimmt gibt sie lila Milch, hihi." "Hatte ich das da unten schon gelesen?" "Ja, hast du."

    So harmonisch das Schulleben wirkt, die Kinder können maximal den Hauptschulabschluss erreichen. Und was ist der heutzutage noch wert? Die Eltern haben für die Kooperation mit einer Realschule gekämpft. Alle paar Monate gehen die Halligschüler testweise zwei Wochen auf die Realschule, um dann mit 14 ganz zu wechseln.

    "Ich finde es wichtig, dass die Kinder erstmal von der Hallig runter sind, dass sie auf dem Festland eine Ausbildung machen und dann bewusst auch zurückkommen, weil ich denk, sonst hat man irgendwann das Gefühl, man hat was verpasst. Und das wäre das Schlimmste, was einem passieren kann."

    Die meisten Halligkinder wollen zurückkommen. Aber Raum und Arbeitsmöglichkeiten sind begrenzt, jeweils das älteste Kind übernimmt die Warft. Die Frauen kümmern sich um die Landwirtschaft und den Tourismus, die männlichen Halligbewohner arbeiten im Küstenschutz.

    "Das Wasser würde auch faktisch mit mehr Wucht und mehr Dynamik auf diese Seedeiche drauf brettern. Die kann man ja auch nicht beliebig hoch bauen. Dadurch, dass die Halligen da sind, gibt es auch nur eine begrenzte Wasserhöhe."

    Deshalb sind die Halligen so wichtig für den Küstenschutz, sie schützen das Festland. Das ist mehr denn je nötig, dank des Klimawandels steigt der Meeresspiegel. Neben der Arbeit der Küstenschützer aber spielt auch die Flut selbst eine Rolle. Erk Lorenzen:

    "Wir wollen das Wasser und die Überflutung haben, weil die Hallig nämlich auf diese Weise, durch die Sedimentierung, langsam, Stück für Stück, aus dem Wasser herauswächst. Es gibt also Untersuchungen, die Universität Göttingen führt das hier etwa durch, dass im Jahr etwa 0,5 cm pro Jahr Auftrag erfolgt."

    Wie es hier bei Sturmflut aussieht, kann ich mir gerade kaum vorstellen. Die Sonne ist rausgekommen, ich verlasse die Schulwarft und mache mich auf den Weg, die Hallig zu erkunden. Zehn Minuten bin ich unterwegs, dann stehe ich schon in der Nordsee. Noch einmal fünfzehn Minuten zurück und ich stehe wieder in der Nordsee. Die Sonne glitzert auf dem Meer. Die Hallig ist eben gerade einmal 800 Meter breit und zweieinhalb Kilometer lang. Im Herbst, bei Sturmflut, ist davon nicht mehr viel zu sehen.

    "´76 sind hier nämlich die Fenster eingeschlagen. Da in der Ecke hatten die Kinder ein Aquarium, da lagen die Fische auf dem Sofa, die waren aus dem Aquarium rausgespült. Also das war furchtbar, wie das hier aussah. Tja, da fängt man wieder von vorne an."

    Frieda Kruse ist 1926 geboren und hat ihr ganzes Leben auf der Hallig verbracht. Die Flut von ´76 war für die Hallig noch schlimmer als die große Flut 1962, als in Hamburg die Deiche brachen und über dreihundert Menschen starben. Auf Nordstrandischmoor ist bei den Fluten noch nicht einmal ein Schaf ums Leben gekommen. Die Einwohner kennen sich mit dem Meer und seiner Kraft einfach aus. Für Frieda Kruse sind die heutigen Verhältnisse sowieso Luxus:

    "Ich bin auch öfters an einem Tag nach Bredstedt zum Zahnarzt und wieder zurückgelaufen. Morgens denn los, dann war über Tag die Flut, und denn, wenn die Ebbe wieder war, nach Hause. Das sollte man heute mal einem jungen Menschen vorschlagen, zu Fuß nach Bredstedt und wieder zurück, der würde doch lieber sonst was, der würde lieber verhungern, glaube ich."

    Die Lorenbahn wurde zwar bereits 1933 gebaut, voll funktionstüchtig war sie aber nicht immer. Teilweise wurden die Loren mit einem Segel versehenen. Pech nur, wenn der Wind nicht aus der richtigen Richtung kam. Heute ist dank Motorlore und Gefrierschränken so manches einfacher.

    "Auf einer Hallig hält man schon Wintervorrat, damit man auch mal vierzehn Tage oder drei Wochen ohne Versorgung auskommen kann. Also Fleisch wird eingefroren, weil wir das auch aus unserer eigenen Produktion nehmen, da wissen wir wenigstens, wo es herkommt. Und, ja, Gemüse und so was hat man eben auch in der Truhe, also wir haben drei riesige Truhen, die immer gut gefüllt sind im Winter."

    Mein Vorrat dagegen geht zur Neige, es wird Zeit, wieder aufs Festland zu gelangen.