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200 Jahre Stadtmusikanten
Bremen feiert seine berühmte Tierpyramide

Die Bremer Stadtmusikanten sind längst zum Wahrzeichen der Hansestadt geworden. Vor genau 200 Jahren nahmen die Gebrüder Grimm die Geschichte über die vier tollkühnen Tiere in ihre Märchensammlung auf. Anlass genug für Bremen, Esel, Hund, Katze und Hahn den ganzen Sommer über zu feiern.

Von Ursula Menzer |
Ein Blick auf die Statue der Bremer Stadtmusikanten in der Innenstadt.
Berühmtestes Wahrzeichen der Hansestadt: die Bremer Stadtmusikanten (dpa / Mohssen Assanimoghaddam)
Vor uns das Bremer Rathaus mit seinen Arkaden, der reich geschmückten Backsteinfassade mit den großen Fenstern, Stifterfiguren und Schmuckgiebeln vor dem hohen, kupfergedeckten grünen Walmdach. Weserrenaissance nennt sich diese regionale Spezialität der nordischen Renaissance.
Wir interessieren uns für die Skulptur der Bremer Stadtmusikanten, die der Bildhauer Gerhard Marcks Anfang der 1950er Jahre in Bronze gegossen hat. Sie steht auf der linken Seite des Rathauses, dort wo der Schoppensteel zum Domshof führt. Seltsame Töne schallen durch die Altstadt.
Symposion zum Thema Stadtmusikanten in Vorbereitung
Heute kennt jeder die gestaffelten Tiere, die Kaskade vom Esel, auf dessen Rücken der Hund, auf dessen Rücken die Katze und auf deren Rücken der Hahn sich zu einem erschreckenden, furchteinflösenden Gebilde formieren und - so das Märchen - die Räuber im Wald aus ihrem Haus verjagen. Seit langem ist sie zum Symbol für Bremen geworden.
Der Germanist Dr. Brand-Kruth, der zur Zeit ein Symposion zum Thema Bremer Stadtmusikanten vorbereitet, hat sich in seiner Doktorarbeit mit dem Märchen und seiner Überlieferungsgeschichte, sowie dessen sozialen und kulturhistorischen Dimensionen beschäftigt.
"Es passiert ja in diesem Märchen Folgendes, dass der Hund, die Katze und der Hahn zwar wahrnehmen, dass sie getötet werden sollen, aber sie wehren sich überhaupt nicht. Und es kommt erst der Esel, der die Situation analysiert, sich dann klarmacht, welche Ressourcen er hat. Er weiß also, dass er in der Lage ist, sich auf einen längeren Weg zu machen. Er macht sich dann auf den Weg, also nimmt sich seine Unabhängigkeit, setzt sich ein wirksames Ziel, nämlich in Bremen Stadtmusikant zu werden. Und dann trifft er auf diese anderen Tiere, verbündet sich mit ihnen. Offensichtlich sieht er auch in der Vielfalt dieser Tiere eine Bereicherung und das bewahrheitet sich dann ja in der Tierpyramide, denn nur so, über diese Tierpyramide sind die Tiere gemeinsam in der Lage, in das Räuberhaus einzufallen."
Ausstellungen, Konzerte und Vorträge
Die Stadt Bremen feiert in diesem Jahr das 200-jährige Jubiläum des Märchens mit einem bunten Programm von Ausstellungen, Konzerten und Vorträgen. Während des ganzen Sommers führt eine Theatergruppe im Domshof für Kinder das Märchen der Bremer Stadtmusikanten auf.
Die Geschichte von Esel, Hund, Katze und Hahn, die sich zusammenschließen und auf den Weg nach Bremen machen, um Stadtmusikanten zu werden und ihr Leben gemeinsam zu bewältigen, erschien 1819 in der 2. Auflage der Kinder- und Hausmärchen, herausgegeben von den Juristen, Sprach- und Literaturwissenschaftlern Jacob und
Wilhelm Grimm, berühmt geworden unter dem Namen Gebrüder Grimm. Sie hatten Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen, Sagen und Märchen der mündlichen Überlieferungen aus allen Schichten der Gesellschaft zu sammeln und zu veröffentlichen.
Die Bronzeplastik der "Bremer Stadtmusikanten" des Bildhauers Gerhard Marcks, am Rathaus von Bremen
Die Bronzeplastik von Gerhard Marcks bei Tageslicht (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
Die Weise, wie sie die Erzählungen der oral history aufgezeichnet und stilistisch überarbeitet haben, prägt bis heute unsere Vorstellung von Märchen. Die Erstausgaben der Kinder- und Hausmärchen aus dem persönlichen Nachlaß der Familie Grimm erklärte die Unesco 2005 zum Weltdokumentenerbe.
In seinem Buch "Grimms Wörter" hat der Schriftsteller Günter Grass den Brüdern ein sehr zuwendendes Buch gewidmet. Darin bemängelt er aber auch, dass man sie zu sehr dem allgemeinen Geschmack angepaßt und als biedere Märchenonkel verharmlost hat.
Nicht selten fällt ihr politisches Gewissen aus dem Blick. Dabei gehörten sie der Gruppe der Göttinger Sieben an, deren kritische Protestaktion im Verfassungskonflikt von 1837 folgenreiches Aufsehen erregte, denn der Mut und die Zivilcourage schufen die Voraussetzung für die bürgerliche Revolution von 1848. Einige der sieben Professoren - darunter auch Jacob Grimm - ereilten Berufsverbote und sie wurden des Landes verwiesen.
Die Gründungsväter der Germanistik
Die Grimmbrüder zählen mit zu den Gründungsvätern der Germanistik und zu den bahnbrechenden Erforschern der deutschen Sprache. Ihr eigentliches Lebenswerk war - neben der Publikation von Sagen und Märchen - das Grimmsche Wörterbuch: ein philologisches Großprojekt, das sie offiziell 1838 begonnen, aber zu ihren Lebzeiten nicht annähernd fertigstellen konnten. Sie hatten die gewaltige Aufgabe unterschätzt.
Günter Grass zeichnet das Bild zweier Gelehrte, die in brüderlicher Zusammenarbeit unaufhörlich mit Wörtern, Zitaten und der deutschen Sprachgeschichte ringen. Er schreibt:
"Ich aber sehe sie als Doppelgespann lebenslänglich vor den stets überladenen Bücherkarren gesperrt. Wie sie in Schweinsleder gebundene Schwarten wälzen, Folianten stapeln, Mythen, Sagen, Legenden, verschollenen Manuskripten auf der Spur sind, schon in Marburg als Studenten und später anderenorts, wo immer sich Vergessenes abgelagert haben mochte."
Die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten ist eine Erzählung, die die Gabe vermitteln soll, Mitleid und Ungerechtigkeit zu empfinden. Da sind Tiere, die, wie es heißt, "aus dem Futter genommen" werden, denen ein Gnadenbrot oder gar eine Altersruhe verweigert wird. Es ist der Umgang mit sogenannten Nutztieren, der bis heute unsere Diskussionen und die Kritik bezüglich Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft bestimmt. Aber auch unsere Vorstellung von Alter und Sicherheit im Alter. Und tatsächlich sind genau betrachtet Lebensgefahr, Angst vor Hunger und Not, Alters-Diskriminierung zentrale Motive des Märchens. Unweigerlich fragt man sich, ob diese brutalen Motive für Kinder geeignet sind?
"Diese Märchen wurden dann eben an Haus und Hof erzählt. Und da ist es dann auch so gedacht, dass dann die Kinder auch mithören. Und wenn sie dieses Märchen mithören, dann erkennen sie relativ schnell, dass da eine Ungerechtigkeit in diesem Märchen vorkommt."
Wie das Motto aller Vertriebenen und Flüchtenden
Im Märchen heißt es: "Etwas Besseres als den Tod finden wir überall" und das klingt wie das universelle Motto aller Vertriebenen und Flüchtenden dieser Welt. "Also nur dadurch, dass die Tiere am Ende sich aufeinanderstellen, sind sie in der Lage, die Räuber zu vertreiben und damit ihre Autonomie zurückgewinnen. Und im Prinzip gilt das auch für Flüchtlinge. Also Flüchtlinge, wie sie sich sicher machen, die natürlich vom Hof getrieben werden, die keine Nahrung mehr zur Verfügung haben und auch keine Sicherheit. Was müssen die wiedergewinnen? Die müssen wieder einen Ort gewinnen, wo sie leben können, sie müssen wieder zu Nahrung kommen und sie müssen - das ist in den Stadtmusikanten auch beschrieben - sie müssen das Gefühl haben: hier bin ich sicher."
Letztlich ist es die trotz aller grausamen Umstände gemachte Erfahrung, gemeinsam stark zu sein und eine Lösung zu finden. Bei den 4 Tieren bedeutet dies, miteinander zu kooperieren, mit dem gemeinsamen Auftreten die Räuber zu vertreiben, die aktive Enteignung des Räuber-Hauses, in dem sie dann zusammen eine Seniorenwohngemeinschaft gründen und wo sie ihren Lebensabend verbringen wollen. Dort haben sie ihr Bremen gefunden und verzichten darauf, weiterzuziehen. Sie nie in Bremen angekommen.
Doch wie wurden sie zu einem Bremer Wahrzeichen? "Dass man sich ein Ziel wirksam setzt, dass man sich auf den Weg macht, aber man muss dieses Ziel nicht erreichen, wenn man vorher etwas gefunden hat, wo man seine Autonomie gewinnt, da gibt es keinen Grund weiterzuziehen. Und so ist es bei den Stadtmusikanten. Sie sind in dem Haus und fühlen sich da wohl. Warum die Stadt Bremen das für sich so angenommen hat, ist eine lange Entwicklung. Erst war das gar nicht so. Man hat zwar das Märchen auch hier in Bremen wahrgenommen und dann ist das irgendwann Anfang des 20. Jahrhundert so gewesen, dass man erste Skulpturen, Plastiken hergestellt hat.
Also so gibt es eine von Heinrich Möller, die ist 1898 entstanden und die ist dann auch hier im Ratskeller aufgestellt worden, aber es ist nie so in der Öffentlichkeit so gross gewesen. Bis dann 1953 man den Bildhauer Gerhard Marcks beauftragt hat, hier eine Stadtmusikantenfigur zu errichten und diese Aufstellung hat riesige Diskussionen hervorgerufen. Und man hat dich mit dem Inhalt des Märchens auch immer mehr beschäftigt.

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