Donnerstag, 25. April 2024

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200 neue alte Verse

Als einige der frühesten Überlieferungen des "Tristan und Isolde"-Stoffes galten bislang drei Fragmente aus dem 12. Jahrhundert. Nun hat die Alt-Germanistin Edith Feistner in der Kirchenbibliothek Regensburg 200 weitere Verse aus dieser Zeit entdeckt. Ein Gespräch mit der glücklichen Finderin.

Moderation: Holger Noltze | 23.06.2005
    Holger Noltze: Die Liebe im Mittelalter war bekanntlich eine streng geregelte Angelegenheit. So scheint es jedenfalls, wenn man liest, was blieb an Literatur der Zeit vor 800 Jahren: Minnelyrik, höfische Romane. Die Geschichte von Tristan und Isolde und dem katastrophalen Minnetrank, der die Liebenden gegen alle höfische Konvention zueinander zwingt, muss damals wie ein Blitz eingeschlagen sein. Eine kleine Blitzmeldung war auch die von der Entdeckung eines bisher unbekannten Stückchens eines Tristan-Romans - nicht dem von Gottfried von Straßburg, sondern dem noch früheren "Tristrant" eines sehr viel unbekannteren Kollegen, Eilhart von Oberg. Mehr dazu gleich im Gespräch mit der glücklichen Finderin.

    In einem guten Haushalt geht nichts verloren. Es wird wieder viel gefunden zurzeit - über ein bisher unbekanntes Autograph von Johann Sebastian Bach haben wir zuletzt berichtet; eben wurde eine verschollen geglaubte Partitur der ersten Oper auf Goethes Faust in Dresden entdeckt. Aber was ist das alles gegen zwei Blätter, über die ich jetzt mit der Regensburger Alt-Germanistin Edith Feistner sprechen möchte, aufgetaucht bei einer Katalogisierungsmaßnahme in der Kirchenbibliothek Regensburg? Denn hier haben wir wirklich alten Stoff, 800 Jahre alt. Fragmente eines Tristan-Romans, der aber nicht der hauptbekannte von Gottfried von Straßburg ist, sondern ein früherer. Frau Feistner, worum handelt es sich?

    Feistner: Ja, es handelt sich um den Tristan-Roman Eilhart von Obergs, der völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, wie ich denke, denn er ist anders als Gottfried, der ja sehr modern wirken kann auf uns und deshalb eben auch so bekannt ist, eine mittelalterliche Spielart dieses Stoffes. Und der besondere Kunstgriff bei Eilhart liegt darin, ja die ehebrecherische Liebesbeziehung zwischen Tristan und Isolde, die ja nicht mit den christlichen Moralvorstellungen des Mittelalters in Einklang steht, in Einklang mit diesen Moralvorstellungen bringen zu können ...

    Noltze: Es gibt irgendwie so eine Art von, na, Happy End wäre zu viel gesagt, aber eine Art von Vereinigung im Tod der Liebenden?

    Feistner: Eine Vereinigung im Tod, aber schon vor dem Tod oft eine Vereinigung, die er aber lizenziert, unser guter Eilhart, dadurch dass er alle Schuld dem Minnetrank zuschiebt und er immer wieder betont, Tristan und Isolde wollten sich gar nicht lieben.

    Noltze: Sie mussten. Mechanik des Trankes.

    Feistner: Es ist das Gift des Trankes und deshalb kann er sie ja durchaus positiv, mit großen Mitgefühl geradezu darstellen.

    Noltze: Der "Tristrant", so steht er ja auch im Lexikon, ist der älteste deutsche vollständige Tristan-Roman. Lernt man auch da ...

    Feistner: Ich darf noch ergänzen: Es ist sogar im europäischen Kontext gesehen der älteste vollständig überlieferte Tristan-Roman.

    Noltze: Aber auch er fußt auf einer französischen Quelle.

    Feistner: Er fußt auf einer französischen Quelle, die nicht erhalten ist. Die erhaltenen französischen Quellen, die älter sein mögen, sind nur fragmentarisch erhalten.

    Noltze: Jetzt kommen wir auf einen heiklen Punkt, denn der vollständige Eilhart-Text - also nicht Gottfried, sondern eben dieser frühere - ist vollständig eben nur in Handschriften aus dem 15. Jahrhundert, also sehr viel jünger, erhalten und aus dem 12. Jahrhundert gab es bislang nur drei Fragmente - und jetzt Ihres.

    Feistner: Also man muss dazu sagen, es handelt sich um eine Regensburger Handschrift aus dem Damenstift Obermünster, die im 19. Jahrhundert aufgetaucht ist und dann in verschiedene Richtungen zerstreut, nach München heute und nach Karlsruhe ...

    Noltze: Weil die auseinander gebaut wurden.

    Feistner: Wir sind in einer Goldgräberzeit im 19. Jahrhundert, die Säkularisation war da, man konnte sich Dinge auch in die Tasche stecken und mitnehmen. Und so ist es da passiert. Ein größerer und hervorragend erhaltener Teil dieser Fragmente ist in Regensburg aber geblieben. Dieser Teil ist zunächst sehr wohl wahrgenommen worden im 19. Jahrhundert in Regensburg, ist dann verschollen und in Vergessenheit geraten. Man hat auch geglaubt, infolge der Kriegswirren seien diese Fragmente womöglich ganz verloren.

    Noltze: Also ist Ihnen da eigentlich eine Wiederentdeckung gelungen.

    Feistner: Es ist eine Wiederentdeckung. Das ist eine Wiederentdeckung, die aber besonders wichtig ist, weil selbst die Editionen von Eilharts Texten nicht mehr auf das Original dieser Regensburger Fragmente zurückgreifen konnten.

    Noltze: Jetzt haben wir 200 Verse, etwas mehr, die wir vorher nicht hatten. Gibt es Textneuigkeiten?

    Feistner: Textneuigkeiten gibt es nicht. Es gibt aber die Besonderheit, dass diese Handschrift einige ganz interessante, auch optische Merkmale aufweist.

    Noltze: Joachim Heinzle, der Handschriftenspezialist, schätzt den Fund als bedeutend ein, heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das tut er durchaus nicht immer. Warum? Was ist so bedeutend an diesem Blatt, das Sie gefunden haben?

    Edith Feistner: Zum einen ist die Geschichte, die hinter dieser Handschrift steht, sehr interessant, denn wir sind ja in Regensburg und die Handschrift stammt aus dem Regensburger Damenstift Obermünster. Eilhart von Oberg stammt aus der Gegend zwischen Braunschweig und Hildesheim. Das ist ja ein ganz schöner Weg da dazwischen. Und ausgerechnet die Regensburger Handschrift kann als eine der ältesten, wenn nicht gar der älteste Textzeuge für das Werk überhaupt gelten. Und wir haben hier Eilharts Werk sozusagen in bayrischer Übersetzung in frühester Form greifbar.

    Noltze: Tristan kam bis nach Bayern. Professor Edith Feistner, Alt-Germanistin in Regensburg, über ihren bedeutenden Fund eines verloren geglaubten Stückchens aus dem frühesten deutschen Tristan-Roman. Und wir lernen: Der Trank war schuld.