Wir sind im Burgenland, dort wo die Gehöfte sich nur selten zu Dörfern verklumpen, wo die letzten Hügel sich in der pannonischen Ebene auflösen. Wenn in der Früh die Busse mit den Arbeitspendlern auf und davon sind, bleibt Stille zurück, manchmal auch das Geräusch von Traktoren.
"Der ist gleich durch mit seinem winzigen Wieserl da unten. Na, da hat er noch a Stück – ein kleines Stück hat er noch. ... also die zwei Felder da hab i verpachtet an einen Bauern und der baut Soja an, weil I ihm g'sagt hab: Kukuruz und Mais darf er nicht anbauen. Beim Mais erst a mal ist es sehr schlecht für den Boden, weil es den Boden sehr auslaugt."
Martin Pollack überquert das Gehöft, das er schon vor Jahrzehnten von einem alten Bauern gekauft hat - mit samt Möbeln, Truhen und Besteck im Küchenkasten. Pollack ist Frühaufsteher. Oft geht's schon hinüber in die Schreibwerkstatt, wenn der Tau noch auf der Wiese liegt.
"Das ist meine Bibliothek, die ich mir vor vier Jahren bauen ließ, von einem Freund, ein sehr bekannter Wiener Architekt, der bekannt ist für Bibliotheksbau, der hat in Wien zum Beispiel auch für Peter Sloterdijk die Bibliothek gebaut. Der ist selbst ein manischer Büchersammler, im Gegensatz zu mir."
48 Quadratmeter, vier mannshohe Fenster und Regale, die das Dach zu tragen scheinen. Kaum vorstellbar, das hier kein manischer Büchersammler zu Hause ist.
"Das ist ja nur eine Arbeitsbibliothek. Das ist ja kaum Belletristik. Das ist rein nur zum Arbeiten, das sind einmal die Wörterbücher, also zum Übersetzen."
Martin Pollack hat das Gesamtwerk von Ryszard Kapuściński übersetzt, Bücher von Henrik Grynberg, Daniel Odija oder Mariusz Wilk. Er selbst ist Autor und Herausgeber zahlreicher Romane. Es ist diese Bibliothek, die viel darüber verrät, wie Martin Pollack arbeitet.
"Also für jedes Buch habe ich dann ein Regal, auch mit dem Material. Das hier ist der "Kaiser von Amerika". Also, da ist einmal die Handbibliothek in verschiedenen Sprachen - zur Emigration, zu Galizien, Amerika. Dann gibt es eine große Sammlung von Bildmaterial, also ich illustriere normalerweise meine Bücher selbst mit alten Fotografien. Und dann ist hier unten in diesen Ordnern das Material aus Archiven und alten Zeitungen. Wobei ich sagen muss, dass die Bibliothek auch erweitert wird nach Beendigung des Buches."
So füllen allein die Recherchen zu den eigenen, mehr als zehn Büchern die Regale, dazu jene, die den aus dem Polnischen übersetzten Büchern vorbehalten sind. Sie umrahmen einen Schreibtisch, auf dem eine kleine Ansichtskarte liegt. Keine, die zwischen all den Papieren ins Auge fällt, ein eher karges Motiv – das Martin Pollack zur Arbeit an einem neuen Text inspirierte:
"Motiv aus Oberschützen. Von der Ortschaft ist nicht viel zu sehen, der Fotograf hat einen entfernten Standpunkt gewählt, ein etwas höher gelegenes Bauwerk, das die Aufnahme dominiert. Im Vordergrund zwei hohe, aus Natursteinen gemauerte Arkaden, durch die wir auf Oberschützen blicken. Im linken Bogen eine Kirche, von der ich annehme, dass es sich um die Katholische Filialkirche zum Heiligen Bartholomäus handelt, sonst sind nur verschwommene Umrisse auszumachen, Bäume, Dächer, ein weißer Fleck, das fensterlose Giebelfeld eines Hauses. Im linken, angeschnittenen Bogen ist mit einiger Fantasie eine zweite Kirche zu erkennen, halb verdeckt von einer hohen Pappel. Zwischen der Ortschaft und den steinernen Bögen liegen Felder, das Bauwerk steht also außerhalb des Ortes, auf einer sanften Erhebung. Die Aufnahme ist nicht datiert, vermutlich stammt sie aus den sechziger oder siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, jedenfalls aus der Zeit nach 1945. Aber zu welchem Gebäude die mächtigen Arkaden aus Bruchstein gehören, welchem Zweck es dient oder einst diente, erfahren wir nicht. Auf der Vorderseite steht nur: Motiv aus Oberschützen. Ein Motiv. Ein neutraler, nichtssagender Begriff, der alles Mögliche bezeichnen kann, ein Gotteshaus, einen Brunnen, Leute beim Kirchgang, spielende Kinder, arbeitende Menschen, ein Denkmal, einen Tempel. Und um einen solchen handelt es sich, denn die Steinbögen gehören zum Anschlussdenkmal von Oberschützen, einer tempelförmigen Anlage, errichtet kurz nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938. Dass der Text auf der Karte die ursprüngliche Bestimmung des Bauwerks verschweigt und sich mit der dürren Bezeichnung "Motiv aus Oberschützen" begnügt, erstaunt uns nicht weiter. Das war symptomatisch für die Art und Weise, wie man sich lange Jahre in Oberschützen, Unterschützen, in Ilz und wie die Orte in Österreich alle heißen mit der jüngsten Geschichte unseres Landes auseinandersetzte. Man zog es vor, nicht mehr darüber zu reden. Wir wollen die Dinge ruhen lassen. Wir wollen einen Schlussstrich ziehen. Wir wollen unsere Ruhe haben. Schweigen ist Gold, Verschweigen noch besser."
Stets baut Pollack aus solchen Fotos, Zeitungsausschnitten und akribischen Recherchen eine gedankliche Apparatur, die es ihm ermöglicht, hinter scheinbar friedlichen Motiven geschichtlich kontaminierte Landschaft sichtbar zu machen.
"Das ist eine Tatsache, dass man in unserem Raum, da meine ich jetzt Mitteleuropa. Ostmitteleuropa - wenn du in der Erde gräbst, hast du eine gute Chance, dass du auf irgendwelche Spuren der Vergangenheit stößt und damit meine ich nicht römische Münzen, sondern eher die jüngere Vergangenheit. Dass du auf irgendwelche 'Grauslichkeiten' kommst."
Neulich zog er aus seinem Salatbeet eine alte Essgabel. Als er sie reinigte, kamen eingeprägte SS-Ruhnen zum Vorschein. Der Stahl hatte in der Erde über 60 Jahre lang keinen Hauch von Rost angesetzt. Werden wir dieser Gabel vielleicht schon bald in einem seiner neuen Bücher wieder begegnen? Er braucht diese Dinge. Dinge zum Anfassen, zum Fühlen, Gegenstände die ihn an Orte erinnern.
"Also ich bin ein Mensch, sehr haptisch. Dann habe ich einen absoluten Tick, was Fundstücke angeht. Ich bin berüchtigt dafür, dass ich immer so mit dem Blick auf den Boden gehe, weil ich immer Münzen finde – immer, hier das sind meine Münzen. Und das ist für mich so ein bisschen Aberglaube, also bestimmte Münzen trag ich immer bei mir. Die hängen dann auch mit meinen Büchern zusammen."
Erst neulich fand er auf einem sandigen Weg in den polnischen Beskiden einen amerikanischen Cent und damit – vielleicht den Anfang einer typisch pollack'schen Geschichte. Ob Gabeln mit SS-Ruhnen, ein amerikanischer Cent oder Zitate, alles wird akribisch vermerkt, festgehalten. Wie ein Besessener notiert Martin Pollack Details auf Karteikarten, kaum weniger als 2000 sind es am Anfang eines Buches
"Da blockiert man sich dann auch selbst, wenn man weiß, es gibt ein Zitat, aber man findet es nicht. Und dann ist man total blockiert, weil man nicht weiterkommt."
Schreibblockaden entflieht Pollack auf ganz eigene Weise. Dann sinniert er bei Feld- und Waldarbeit darüber, wie er seine Geschichten über die Lebendigkeit der Geschichte im Hier und Jetzt fortspinnen könnte.
"Mit Mission fang ich wenig an. Also ich habe keine Mission – überhaupt nicht. Ich habe schon das Gefühl, aus meiner eigenen Familiengeschichte heraus, dass es Sinn macht, dass ich gewisse Geschichten erzähl. Und dass ich über gewisse Dinge offen spreche, das ist auch mein Anliegen. Wir müssen uns gegenseitig alles erzählen können. Weil da gibt es sehr viel, das nie gesagt wurde, was verschwiegen wurde, was zugedeckt wurde, was irgendwo ins Vergessen gedrängt wurde. Das halt ich für sehr schlecht. Also, ich glaube, es ist auch gut, wenn wir zum Beispiel einmal die Geschichte dieses Anschlussdenkmals von Oberschützen erzählen – nicht?"
"Der ist gleich durch mit seinem winzigen Wieserl da unten. Na, da hat er noch a Stück – ein kleines Stück hat er noch. ... also die zwei Felder da hab i verpachtet an einen Bauern und der baut Soja an, weil I ihm g'sagt hab: Kukuruz und Mais darf er nicht anbauen. Beim Mais erst a mal ist es sehr schlecht für den Boden, weil es den Boden sehr auslaugt."
Martin Pollack überquert das Gehöft, das er schon vor Jahrzehnten von einem alten Bauern gekauft hat - mit samt Möbeln, Truhen und Besteck im Küchenkasten. Pollack ist Frühaufsteher. Oft geht's schon hinüber in die Schreibwerkstatt, wenn der Tau noch auf der Wiese liegt.
"Das ist meine Bibliothek, die ich mir vor vier Jahren bauen ließ, von einem Freund, ein sehr bekannter Wiener Architekt, der bekannt ist für Bibliotheksbau, der hat in Wien zum Beispiel auch für Peter Sloterdijk die Bibliothek gebaut. Der ist selbst ein manischer Büchersammler, im Gegensatz zu mir."
48 Quadratmeter, vier mannshohe Fenster und Regale, die das Dach zu tragen scheinen. Kaum vorstellbar, das hier kein manischer Büchersammler zu Hause ist.
"Das ist ja nur eine Arbeitsbibliothek. Das ist ja kaum Belletristik. Das ist rein nur zum Arbeiten, das sind einmal die Wörterbücher, also zum Übersetzen."
Martin Pollack hat das Gesamtwerk von Ryszard Kapuściński übersetzt, Bücher von Henrik Grynberg, Daniel Odija oder Mariusz Wilk. Er selbst ist Autor und Herausgeber zahlreicher Romane. Es ist diese Bibliothek, die viel darüber verrät, wie Martin Pollack arbeitet.
"Also für jedes Buch habe ich dann ein Regal, auch mit dem Material. Das hier ist der "Kaiser von Amerika". Also, da ist einmal die Handbibliothek in verschiedenen Sprachen - zur Emigration, zu Galizien, Amerika. Dann gibt es eine große Sammlung von Bildmaterial, also ich illustriere normalerweise meine Bücher selbst mit alten Fotografien. Und dann ist hier unten in diesen Ordnern das Material aus Archiven und alten Zeitungen. Wobei ich sagen muss, dass die Bibliothek auch erweitert wird nach Beendigung des Buches."
So füllen allein die Recherchen zu den eigenen, mehr als zehn Büchern die Regale, dazu jene, die den aus dem Polnischen übersetzten Büchern vorbehalten sind. Sie umrahmen einen Schreibtisch, auf dem eine kleine Ansichtskarte liegt. Keine, die zwischen all den Papieren ins Auge fällt, ein eher karges Motiv – das Martin Pollack zur Arbeit an einem neuen Text inspirierte:
"Motiv aus Oberschützen. Von der Ortschaft ist nicht viel zu sehen, der Fotograf hat einen entfernten Standpunkt gewählt, ein etwas höher gelegenes Bauwerk, das die Aufnahme dominiert. Im Vordergrund zwei hohe, aus Natursteinen gemauerte Arkaden, durch die wir auf Oberschützen blicken. Im linken Bogen eine Kirche, von der ich annehme, dass es sich um die Katholische Filialkirche zum Heiligen Bartholomäus handelt, sonst sind nur verschwommene Umrisse auszumachen, Bäume, Dächer, ein weißer Fleck, das fensterlose Giebelfeld eines Hauses. Im linken, angeschnittenen Bogen ist mit einiger Fantasie eine zweite Kirche zu erkennen, halb verdeckt von einer hohen Pappel. Zwischen der Ortschaft und den steinernen Bögen liegen Felder, das Bauwerk steht also außerhalb des Ortes, auf einer sanften Erhebung. Die Aufnahme ist nicht datiert, vermutlich stammt sie aus den sechziger oder siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, jedenfalls aus der Zeit nach 1945. Aber zu welchem Gebäude die mächtigen Arkaden aus Bruchstein gehören, welchem Zweck es dient oder einst diente, erfahren wir nicht. Auf der Vorderseite steht nur: Motiv aus Oberschützen. Ein Motiv. Ein neutraler, nichtssagender Begriff, der alles Mögliche bezeichnen kann, ein Gotteshaus, einen Brunnen, Leute beim Kirchgang, spielende Kinder, arbeitende Menschen, ein Denkmal, einen Tempel. Und um einen solchen handelt es sich, denn die Steinbögen gehören zum Anschlussdenkmal von Oberschützen, einer tempelförmigen Anlage, errichtet kurz nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938. Dass der Text auf der Karte die ursprüngliche Bestimmung des Bauwerks verschweigt und sich mit der dürren Bezeichnung "Motiv aus Oberschützen" begnügt, erstaunt uns nicht weiter. Das war symptomatisch für die Art und Weise, wie man sich lange Jahre in Oberschützen, Unterschützen, in Ilz und wie die Orte in Österreich alle heißen mit der jüngsten Geschichte unseres Landes auseinandersetzte. Man zog es vor, nicht mehr darüber zu reden. Wir wollen die Dinge ruhen lassen. Wir wollen einen Schlussstrich ziehen. Wir wollen unsere Ruhe haben. Schweigen ist Gold, Verschweigen noch besser."
Stets baut Pollack aus solchen Fotos, Zeitungsausschnitten und akribischen Recherchen eine gedankliche Apparatur, die es ihm ermöglicht, hinter scheinbar friedlichen Motiven geschichtlich kontaminierte Landschaft sichtbar zu machen.
"Das ist eine Tatsache, dass man in unserem Raum, da meine ich jetzt Mitteleuropa. Ostmitteleuropa - wenn du in der Erde gräbst, hast du eine gute Chance, dass du auf irgendwelche Spuren der Vergangenheit stößt und damit meine ich nicht römische Münzen, sondern eher die jüngere Vergangenheit. Dass du auf irgendwelche 'Grauslichkeiten' kommst."
Neulich zog er aus seinem Salatbeet eine alte Essgabel. Als er sie reinigte, kamen eingeprägte SS-Ruhnen zum Vorschein. Der Stahl hatte in der Erde über 60 Jahre lang keinen Hauch von Rost angesetzt. Werden wir dieser Gabel vielleicht schon bald in einem seiner neuen Bücher wieder begegnen? Er braucht diese Dinge. Dinge zum Anfassen, zum Fühlen, Gegenstände die ihn an Orte erinnern.
"Also ich bin ein Mensch, sehr haptisch. Dann habe ich einen absoluten Tick, was Fundstücke angeht. Ich bin berüchtigt dafür, dass ich immer so mit dem Blick auf den Boden gehe, weil ich immer Münzen finde – immer, hier das sind meine Münzen. Und das ist für mich so ein bisschen Aberglaube, also bestimmte Münzen trag ich immer bei mir. Die hängen dann auch mit meinen Büchern zusammen."
Erst neulich fand er auf einem sandigen Weg in den polnischen Beskiden einen amerikanischen Cent und damit – vielleicht den Anfang einer typisch pollack'schen Geschichte. Ob Gabeln mit SS-Ruhnen, ein amerikanischer Cent oder Zitate, alles wird akribisch vermerkt, festgehalten. Wie ein Besessener notiert Martin Pollack Details auf Karteikarten, kaum weniger als 2000 sind es am Anfang eines Buches
"Da blockiert man sich dann auch selbst, wenn man weiß, es gibt ein Zitat, aber man findet es nicht. Und dann ist man total blockiert, weil man nicht weiterkommt."
Schreibblockaden entflieht Pollack auf ganz eigene Weise. Dann sinniert er bei Feld- und Waldarbeit darüber, wie er seine Geschichten über die Lebendigkeit der Geschichte im Hier und Jetzt fortspinnen könnte.
"Mit Mission fang ich wenig an. Also ich habe keine Mission – überhaupt nicht. Ich habe schon das Gefühl, aus meiner eigenen Familiengeschichte heraus, dass es Sinn macht, dass ich gewisse Geschichten erzähl. Und dass ich über gewisse Dinge offen spreche, das ist auch mein Anliegen. Wir müssen uns gegenseitig alles erzählen können. Weil da gibt es sehr viel, das nie gesagt wurde, was verschwiegen wurde, was zugedeckt wurde, was irgendwo ins Vergessen gedrängt wurde. Das halt ich für sehr schlecht. Also, ich glaube, es ist auch gut, wenn wir zum Beispiel einmal die Geschichte dieses Anschlussdenkmals von Oberschützen erzählen – nicht?"