"Als Anfang der achtziger Jahre die ersten AIDS-Fälle und AIDS-Toten in Deutschland auftauchten, löste dies einen ungeheuren Schrecken in der Gesellschaft aus, es war ein Schrecken zugleich vor einer möglicherweise Uneindämmbahren Gesundheitsgefahr für die gesamte Bevölkerung wie auch die Angst vor Zivilisationsbrüchen im Zusammenhang mit oft in der deutschen Geschichte verfolgten Minderheiten."
Professor Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin, Sozialforscher und Leiter der Arbeitsgruppe Publik Health, hat sich von Anfang an mit der neuen Infektion beschäftigt. Er war unter anderem Mitglied der AIDS-Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages und ist auch als Autor zahlreicher Studien und Bücher der führende sozial-wissenschaftliche Experte auf diesem Gebiet.
Ohne Sozialwissenschaftler, ohne Psychologen, Soziologen, Epidemiologen, Psychologen und auch Volkswirtschaftler wäre der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Frühzeit von AIDS gefährdet gewesen. Laut waren die Stimmen Jener, die Betroffene ausgrenzen und einsperren wollten. Etwa Dr. Albert Mutter, Sprecher eines Frankfurter "Vereins zur AIDS-Verhütung; erforderte, Infizierte zu tätowieren, und zwar …
"an Stellen, die beim Sexualverkehr zu sehen sind".
Vor allem der bayerische Staatssekretär Peter Gauweiler forderte Zwangstests auch für Ausländer oder Küchenpersonal, zudem Meldepflicht und notfalls Berufsverbote oder Internierung für Homosexuelle, Drogen-abhängige und Prostituierte. Gauweilers Regierungschef Franz Joseph Strauß warf der amtierenden Gesundheitsministerin Rita Süßmuth vor:
"Sie übertreiben die Grundrechte der Infizierten".
Womöglich hätten sich solche "Hardliner" durchgesetzt, hätten Sozialwissenschaftler nicht mit internationale Studien darlegen können, dass Zwangsmaßnahmen eher zu noch größerer Ausbreitung der Krankheit führen. Die Forscher haben als Politikberater die Strategie durchgesetzt, Homosexuelle und alle anderen potentiell gefährdeten Bevölkerungsgruppen in die Vorbeugung einzubeziehen.
"Auf jeden Fall wissen wir, dass die Prävention wirksamer war als nahezu alles, was wir in den letzten hundert Jahren an Prävention durch staatlich gelenkte Kampagnen erreicht und gemacht haben. Wie groß das jetzt in Zahlen ist, das kann man seriös nicht sagen. Aber gemessen an dem, was Mitte der achtziger Jahre realistisch zu befürchten stand, ist es ein sehr, sehr großer Erfolg."
Damals gingen Viele, besonders auch Massenmedien, von einer Seuche aus, welche die Menschheit nur so dahinraffen werde. 1983 malte der "Spiegel" die Gefahr an die Wand, das Virus werde bald auch über die Luft übertragen. Und beispielsweise die Bild-"Zeitung" titelte:
"Homo-Seuche bedroht jetzt Alle!"
Es waren tatsächlich zunächst Homosexuelle, die von der seltsamen neuen Krankheit befallen wurden. Die amerikanische Gesundheits-Behörde berichtete am 5. Juni 1981:
Zwischen Herbst 1980 und Mai 1981 wurden fünf junge, homosexuelle Männer wegen einer durch Pilzinfektionen hervorgerufenen Lungenentzündung behandelt. Zwei der Patienten starben. Diese Form der Lungenentzündung kommt normalerweise nur bei einem angeborenen oder durch Krankheiten hervorgerufenen Immundefekt vor. Die Fachleute äußerten deshalb von Beginn an die Vermutung, sexuelle Kontakte könnten eine Rolle spielen.
Bald darauf wurde von einer sehr seltenen Hautkrebsart berichtet, die plötzlich gehäuft bei Homosexuellen aufgetreten war. Dies konnte kein Zufall sein. Später war klar, dass es sich bei Lungenentzündung, Hautkrebs und anderen Symptomen um Folgeerscheinungen einer übertragbaren Immunschwäche handelt. Gegen Ende 1981 erhält die Krankheit zu-nächst den Namen …
"Gay Related Immuno Deficiency", zu deutsch etwa: Immunschwäche bei Homosexuellen.
Von Anfang an also birgt AIDS, wie die Krankheit bald heißt, jene gefährlich, faszinierende Mischung aus Krankheit und Sexualität, aus Tabus und Tod. Es entsteht eine gesellschaftspolitische Dynamik, die stärker ist als die rein medizinische. Klar ist rasch, dass der Erreger durch Körperflüssigkeiten übertragen wird. So stecken sich zum Beispiel auch Drogenabhängige über Blut an, dass an benutzen Spritzen haftet. In der Öffentlichkeit ist vor allem von "Schwulenpest" die Rede, gar von einer göttlichen Strafe für unmoralischen Lebenswandel. Erst, als auch Prominente Opfer wurden, änderte sich die bequeme gesellschaftliche Haltung etwas, wonach die Opfer selbst schuld seien. Rolf Rosenbrock:
"Als Mitte der achtziger Jahre in den USA, die Reagan-Administration versuchte AIDS vollkommen unter den Teppich zu kehren, als Schmuddelkrankheit von Außenseitern herunter zu spielen, und wenn dann ein Rock Hudson sich als ein HIV-Infizierter und AIDS-Kranker öffentlich bekannt gibt und damit eben auch gleichzeitig bekannt gibt, dass er schwul ist, dann spätestens muss die Gesellschaft zur Kenntnis nehmen: Auch unsere Idole sind erstens HIV-infiziert und zweitens auch manchmal homosexuell."
Über tatsächliches homosexuelles Verhalten, über riskante und weniger riskante Praktiken, über Bisexualität, über Ansteckungswege insgesamt, wussten auch Experten kaum etwas. Es war die Weltgesundheitsorganisation, die solche sozialwissenschaftlichen Lücken früh erkannte.
Dr. Peter Aggleton war damals Leiter der WHO-Abteilung für Sozial- und Verhaltensforschung. Bei einem Kongress über Sozialwissenschaften und AIDS Anfang der 90er erinnert er sich:
In den frühen Phasen der Epidemie förderte die WHO Studien über Wissen, Einstellungen, Verhalten und Praktiken von Menschen. Untersuchungen gab es etwa zum Verhalten von homosexuellen Männern, intravenösen Drogen-Nutzern und Prostituierten. Diese Informationen waren dazu geeignet, Politiker zu überzeugen, das sofortiges Handeln nötig ist. Und schließlich bekamen wir wichtige Daten über sexuelles Verhalten allgemein. So konnten Interventions-Programme genauer auf bestimmte gesellschaftliche Risiko-Gruppen abgestimmt werden.
Und auch in Deutschland erkannten die kompetenteren staatlichen Stellen, dass Vorbeugung mehr braucht als rein naturwissenschaftliche Forschung.
Dr. Elisabeth Pott war Chefin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon während der damaligen Tagung in Berlin:
"Im Feld von AIDS geht es natürlich nicht nur um eine Wissenschaft, sondern es geht um Virologie und Epidemiologie, um Erziehungswissenschaft, um Kommunikationsforschung, eine Fülle von wissenschaftlichen Grundlagenforschungen also, die wir auswerten müssen und zusammenführen müssen, um sie für die Entwicklung von Präventionsstrategien und die Steuerung von Präventionskampagnen zu nutzen."
Lange war es jedoch gerade die deutsche Sexualwissenschaft, die sich sträubte, mit zu arbeiten. Sie sahen bei AIDS nur ein "Geschäft mit der Angst", Medienkampagnen und die Gelegenheit, Minderheiten erneut zu diskriminieren. Neben abstrusen Verschwörungstheorien wurden auch unverantwortliche Behauptungen verbreitet über die Herkunft der Krankheit. So etwa, der Erreger stamme aus Waffen-Labors. Schlimme Verharmlosungen wie die, Infizierte würden schon von alleine, durch seelische Stärke, mit dem Virus fertig, kamen hinzu. Die Sexualforscher bekamen heftigen Gegenwind von Sozial-Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, von sexologischen Kollegen aus den USA und auch von Schwulen-Aktivisten wie dem Filmemacher Rosa von Praunheim.
Weltweit verbreiterte sich das notwendige Wissen zur Eindämmung der Infektionskrankheit. Professor Wolfgang Heckmann damals auf dem Kongress über Sozialwissenschaften und AIDS:
"Wir haben gesehen, dass es sehr viele gute Forschungsergebnisse für einen ganz großen Bereich, nämlich den Bereich der primären Prävention gibt, wie kann man Infektionen vermeiden, darüber wissen wir heute sehr viel und ständig mehr. Wir können ganz gut dokumentieren, dass Prävention wirksam ist, das heißt, es gibt Staaten in Europa, in denen deutlich bessere Situationen bestehen als in anderen Staaten."
Im Rückblick sagt AIDS-Experte Rolf Rosenbrock:
"Wir haben bei AIDS ja eine vollständige soziale Innovation im Hinblick auf Prävention gemacht, wir haben eben nicht mehr der Methode des Suchens nach Infizierten, der Verfolgung und Stilllegung von Infektionsquellen gefolgt, sondern wir sind dem Ansatz von New Public Health gefolgt, der fragt, unter welchen Bedingungen können wir für so viele Menschen wie möglich durch öffentlich vermitteltes Lernen Risikovermeidendes Verhalten nicht nur in die Köpfe bringen, sondern auch ins Verhalten bringen. Und da haben wir, gerade was die Methode der Partizipation, die Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen, angeht, auch Standards gesetzt, an denen sich nachfolgende Modelle erst einmal messen lassen müssen."
Die AIDS-Politik der letzten drei Dekaden des vergangenen Jahrhunderts nennt der Fachmann Raimund Geene von der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit …
… "ein interessantes Fallbeispiel eines Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung und des Generationswechsels in der Bundesrepublik".
Tatsächlich war die AIDS-Aufklärung die wohl erfolgreichste Gesundheitskampagne der Nachkriegszeit, einmal abgesehen vielleicht von der Anschnallpflicht beim Autofahren, jedenfalls erfolgreicher als alle bisherigen Bemühungen gegen Tabakmissbrauch oder falsche Ernährung. Und umgekehrt gilt: Die Sozialwissenschaft kann aus Erfolgen lernen.
"Die Sozialwissenschaften, speziell auch die Politikwissenschaft, kann sehr viel davon profitieren, wenn sie die produktiven Lösungen analysiert, die im Hinblick auf AIDS gefunden worden sind, und auch die fördernden und hemmenden Bedingungen, unter denen es zu diesen Lösungen kam, berücksichtigt, dann kann auch für Gesundheitspolitik und speziell für Präventionspolitik sehr viel daraus gelernt werden."
Die Chancen sind aktuell allerdings schlechter geworden. Professor Rita Süssmuth, die spätere Bundestagspräsidentin, hat als Gesundheits-Ministerin sehr viel zur toleranten und damit erfolgreichen AIDS-Aufklärung beigetragen. Ihr war es darum gegangen …
… "unser Verständnis von demokratischer Gesellschaft, unser Menschenbild und unsere Vorstellung vom Zusammenleben aufrecht zu erhalten."
2003 sagt Frau Süssmuth gegenüber dem Deutschlandfunk:
"Wir haben mit gutem Erfolg Aids bekämpft. Aber unterschätzen Sie nicht, dass auch in Deutschland die Zahlen wieder steigen. Und was wir dringend brauchen ist mehr Aufklärung, und deswegen können wir keinesfalls uns zurücklehnen und erklären, Aids haben wir besiegt. "
Tatsächlich stellt das Robert-Koch-Institut Anfang Mai 2006 fest:
Die Zahl der neu diagnostizierten HV-Infektionen ist 2005 um 13 Prozent gewachsen. Das ist zwar ein geringerer Anstieg als in den Vorjahren, aber immer noch klar mehr, als zu den Zeiten, da "Safer Sex" fast selbstverständlich war.
Spekulationen über die Ursachen des Wideranstiegs gibt es viele. Aber Genaueres weiß man eben nicht, sagt "AIDS-Forscher" Rosenbrock:
"Es ist üblich geworden an Stammtischen zu sagen: Nun ja, wenn es Tabletten gibt, die die Krankheit verzögern können, dann interessiert sich keiner mehr dafür, andere sagen, es sind die Jugendlichen, die den AIDS-Schrecken gar nicht mitbekommen haben, ich glaube, dass an allen diesen Faktoren etwas dran ist, aber ich bin nicht in der Lage, und ich glaube, das ist derzeit niemand, zu sagen, in welchem Mischungsverhältnis diese Faktoren wirken, und erst aus einem halbwegs sauberen Bild des Verhältnisses dieser Faktoren zueinander und ihrer inneren Verbindung könnte man wissenschaftlich begründet neue Strategieansätze formulieren."
Immerhin, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat eine modernisierte Kampagne gestartet, mit Spots etwa in Kinos. Da muss ausgerechnet Boris Becker bei einer Kontrolle am Flughafen sein Kondom zeigen.
"Hintergrund Flughafen – "Alles bitte" – "Aha" – "Schutz ist wichtig – ich weiß warum"
Der Erfolg der AIDS-Prävention und der AIDS-Politik wäre ohne die sichtbaren Prominenten gar nicht vorstellbar."
Aber damit ist es nicht getan. Wie in den frühen AIDS-Jahren von 1981 an sind modernisierte, sozialwissenschaftlich fundierte und vor allem auf ganz bestimmte Zielgruppen ausgerichtete Maßnahmen dringend notwendig, um etwas gegen die gestiegene Neuinfektionszahl tun zu können.
Professor Rosenbrocks Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin, Dr. Michael Bochow, hat im April 2006 Ergebnisse neuer Umfragen und Studien vorgelegt. Am Beispiel homosexueller Männer zeigen die, wie differenziert Prävention angegangen werden muss.
Zwar stimmt es, dass auch in bestimmten schwulen Kreisen ungeschützter Sexualverkehr wieder angestiegen ist. Aber Manches an den Ergebnissen ist doch überraschend. Unter jungen Homosexuellen etwa, denen man gerne Unkenntnis und Leichtsinn nachsagt, ist riskantes Verhalten weniger verbreitet als im Bevölkerungs-Durchschnitt. Dennoch seien auch hier modernisierte, zielgruppen-spezifische Präventionsbotschaften notwendig.
Für so etwas aber bedarf es finanzieller und personeller Mittel. Doch heutzutage können auch Sozialwissenschaftler nicht automatisch verhindern, dass die Erkenntnisse der letzten 25 Jahre in Vergessenheit oder angesichts kurzsichtiger Sparmaßnahmen zum Lippenbekenntnis geraten.
"Zunächst einmal muss man froh sein, dass HIV und AIDS nicht in der heutigen Zeit über uns gekommen ist, denn Anfang der achtziger Jahre war es noch erheblich leichter, für Gesundheitsprobleme Geld zu mobilisieren, als das heute der Fall ist. Das ist im Augenblick die neue Herausforderung: Wie können wir mit vielleicht ganz neuen Methoden diesen Erfolg wieder herstellen. Allerdings sehe ich im Augenblick in der Gesundheitspolitik keine Bereitschaft, sich dort wirklich zu engagieren. Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis mit der Prävention, aber wenn man da genauer hinschaut, dann sieht man da bis heute nur Papier, Stellungnahmen, Versprechungen und Absichtserklärungen, aber noch keine Praxis."
Nach wie vor gilt also, was WHO-Sozialwissenschaftler Peter Aggleton öffentlich bereits vor zwei Jahrzehnten anmahnte:
Das Ziel von relevanter sozialwissenschaftlicher Forschung ist nicht, ein abstraktes Verständnis vom Menschen zu bekommen, es ist auch nicht dazu da, universitäre Abteilungen zu stärken, oder Forschungs-Einrichtungen oder individuelle Wissenschaftlerkarrieren. Nein, sie muss vielmehr dazu dienen, Menschen zu helfen, die mit dem HIV-Risiko leben oder bereits krank sind.
Professor Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin, Sozialforscher und Leiter der Arbeitsgruppe Publik Health, hat sich von Anfang an mit der neuen Infektion beschäftigt. Er war unter anderem Mitglied der AIDS-Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages und ist auch als Autor zahlreicher Studien und Bücher der führende sozial-wissenschaftliche Experte auf diesem Gebiet.
Ohne Sozialwissenschaftler, ohne Psychologen, Soziologen, Epidemiologen, Psychologen und auch Volkswirtschaftler wäre der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Frühzeit von AIDS gefährdet gewesen. Laut waren die Stimmen Jener, die Betroffene ausgrenzen und einsperren wollten. Etwa Dr. Albert Mutter, Sprecher eines Frankfurter "Vereins zur AIDS-Verhütung; erforderte, Infizierte zu tätowieren, und zwar …
"an Stellen, die beim Sexualverkehr zu sehen sind".
Vor allem der bayerische Staatssekretär Peter Gauweiler forderte Zwangstests auch für Ausländer oder Küchenpersonal, zudem Meldepflicht und notfalls Berufsverbote oder Internierung für Homosexuelle, Drogen-abhängige und Prostituierte. Gauweilers Regierungschef Franz Joseph Strauß warf der amtierenden Gesundheitsministerin Rita Süßmuth vor:
"Sie übertreiben die Grundrechte der Infizierten".
Womöglich hätten sich solche "Hardliner" durchgesetzt, hätten Sozialwissenschaftler nicht mit internationale Studien darlegen können, dass Zwangsmaßnahmen eher zu noch größerer Ausbreitung der Krankheit führen. Die Forscher haben als Politikberater die Strategie durchgesetzt, Homosexuelle und alle anderen potentiell gefährdeten Bevölkerungsgruppen in die Vorbeugung einzubeziehen.
"Auf jeden Fall wissen wir, dass die Prävention wirksamer war als nahezu alles, was wir in den letzten hundert Jahren an Prävention durch staatlich gelenkte Kampagnen erreicht und gemacht haben. Wie groß das jetzt in Zahlen ist, das kann man seriös nicht sagen. Aber gemessen an dem, was Mitte der achtziger Jahre realistisch zu befürchten stand, ist es ein sehr, sehr großer Erfolg."
Damals gingen Viele, besonders auch Massenmedien, von einer Seuche aus, welche die Menschheit nur so dahinraffen werde. 1983 malte der "Spiegel" die Gefahr an die Wand, das Virus werde bald auch über die Luft übertragen. Und beispielsweise die Bild-"Zeitung" titelte:
"Homo-Seuche bedroht jetzt Alle!"
Es waren tatsächlich zunächst Homosexuelle, die von der seltsamen neuen Krankheit befallen wurden. Die amerikanische Gesundheits-Behörde berichtete am 5. Juni 1981:
Zwischen Herbst 1980 und Mai 1981 wurden fünf junge, homosexuelle Männer wegen einer durch Pilzinfektionen hervorgerufenen Lungenentzündung behandelt. Zwei der Patienten starben. Diese Form der Lungenentzündung kommt normalerweise nur bei einem angeborenen oder durch Krankheiten hervorgerufenen Immundefekt vor. Die Fachleute äußerten deshalb von Beginn an die Vermutung, sexuelle Kontakte könnten eine Rolle spielen.
Bald darauf wurde von einer sehr seltenen Hautkrebsart berichtet, die plötzlich gehäuft bei Homosexuellen aufgetreten war. Dies konnte kein Zufall sein. Später war klar, dass es sich bei Lungenentzündung, Hautkrebs und anderen Symptomen um Folgeerscheinungen einer übertragbaren Immunschwäche handelt. Gegen Ende 1981 erhält die Krankheit zu-nächst den Namen …
"Gay Related Immuno Deficiency", zu deutsch etwa: Immunschwäche bei Homosexuellen.
Von Anfang an also birgt AIDS, wie die Krankheit bald heißt, jene gefährlich, faszinierende Mischung aus Krankheit und Sexualität, aus Tabus und Tod. Es entsteht eine gesellschaftspolitische Dynamik, die stärker ist als die rein medizinische. Klar ist rasch, dass der Erreger durch Körperflüssigkeiten übertragen wird. So stecken sich zum Beispiel auch Drogenabhängige über Blut an, dass an benutzen Spritzen haftet. In der Öffentlichkeit ist vor allem von "Schwulenpest" die Rede, gar von einer göttlichen Strafe für unmoralischen Lebenswandel. Erst, als auch Prominente Opfer wurden, änderte sich die bequeme gesellschaftliche Haltung etwas, wonach die Opfer selbst schuld seien. Rolf Rosenbrock:
"Als Mitte der achtziger Jahre in den USA, die Reagan-Administration versuchte AIDS vollkommen unter den Teppich zu kehren, als Schmuddelkrankheit von Außenseitern herunter zu spielen, und wenn dann ein Rock Hudson sich als ein HIV-Infizierter und AIDS-Kranker öffentlich bekannt gibt und damit eben auch gleichzeitig bekannt gibt, dass er schwul ist, dann spätestens muss die Gesellschaft zur Kenntnis nehmen: Auch unsere Idole sind erstens HIV-infiziert und zweitens auch manchmal homosexuell."
Über tatsächliches homosexuelles Verhalten, über riskante und weniger riskante Praktiken, über Bisexualität, über Ansteckungswege insgesamt, wussten auch Experten kaum etwas. Es war die Weltgesundheitsorganisation, die solche sozialwissenschaftlichen Lücken früh erkannte.
Dr. Peter Aggleton war damals Leiter der WHO-Abteilung für Sozial- und Verhaltensforschung. Bei einem Kongress über Sozialwissenschaften und AIDS Anfang der 90er erinnert er sich:
In den frühen Phasen der Epidemie förderte die WHO Studien über Wissen, Einstellungen, Verhalten und Praktiken von Menschen. Untersuchungen gab es etwa zum Verhalten von homosexuellen Männern, intravenösen Drogen-Nutzern und Prostituierten. Diese Informationen waren dazu geeignet, Politiker zu überzeugen, das sofortiges Handeln nötig ist. Und schließlich bekamen wir wichtige Daten über sexuelles Verhalten allgemein. So konnten Interventions-Programme genauer auf bestimmte gesellschaftliche Risiko-Gruppen abgestimmt werden.
Und auch in Deutschland erkannten die kompetenteren staatlichen Stellen, dass Vorbeugung mehr braucht als rein naturwissenschaftliche Forschung.
Dr. Elisabeth Pott war Chefin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon während der damaligen Tagung in Berlin:
"Im Feld von AIDS geht es natürlich nicht nur um eine Wissenschaft, sondern es geht um Virologie und Epidemiologie, um Erziehungswissenschaft, um Kommunikationsforschung, eine Fülle von wissenschaftlichen Grundlagenforschungen also, die wir auswerten müssen und zusammenführen müssen, um sie für die Entwicklung von Präventionsstrategien und die Steuerung von Präventionskampagnen zu nutzen."
Lange war es jedoch gerade die deutsche Sexualwissenschaft, die sich sträubte, mit zu arbeiten. Sie sahen bei AIDS nur ein "Geschäft mit der Angst", Medienkampagnen und die Gelegenheit, Minderheiten erneut zu diskriminieren. Neben abstrusen Verschwörungstheorien wurden auch unverantwortliche Behauptungen verbreitet über die Herkunft der Krankheit. So etwa, der Erreger stamme aus Waffen-Labors. Schlimme Verharmlosungen wie die, Infizierte würden schon von alleine, durch seelische Stärke, mit dem Virus fertig, kamen hinzu. Die Sexualforscher bekamen heftigen Gegenwind von Sozial-Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, von sexologischen Kollegen aus den USA und auch von Schwulen-Aktivisten wie dem Filmemacher Rosa von Praunheim.
Weltweit verbreiterte sich das notwendige Wissen zur Eindämmung der Infektionskrankheit. Professor Wolfgang Heckmann damals auf dem Kongress über Sozialwissenschaften und AIDS:
"Wir haben gesehen, dass es sehr viele gute Forschungsergebnisse für einen ganz großen Bereich, nämlich den Bereich der primären Prävention gibt, wie kann man Infektionen vermeiden, darüber wissen wir heute sehr viel und ständig mehr. Wir können ganz gut dokumentieren, dass Prävention wirksam ist, das heißt, es gibt Staaten in Europa, in denen deutlich bessere Situationen bestehen als in anderen Staaten."
Im Rückblick sagt AIDS-Experte Rolf Rosenbrock:
"Wir haben bei AIDS ja eine vollständige soziale Innovation im Hinblick auf Prävention gemacht, wir haben eben nicht mehr der Methode des Suchens nach Infizierten, der Verfolgung und Stilllegung von Infektionsquellen gefolgt, sondern wir sind dem Ansatz von New Public Health gefolgt, der fragt, unter welchen Bedingungen können wir für so viele Menschen wie möglich durch öffentlich vermitteltes Lernen Risikovermeidendes Verhalten nicht nur in die Köpfe bringen, sondern auch ins Verhalten bringen. Und da haben wir, gerade was die Methode der Partizipation, die Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen, angeht, auch Standards gesetzt, an denen sich nachfolgende Modelle erst einmal messen lassen müssen."
Die AIDS-Politik der letzten drei Dekaden des vergangenen Jahrhunderts nennt der Fachmann Raimund Geene von der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit …
… "ein interessantes Fallbeispiel eines Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung und des Generationswechsels in der Bundesrepublik".
Tatsächlich war die AIDS-Aufklärung die wohl erfolgreichste Gesundheitskampagne der Nachkriegszeit, einmal abgesehen vielleicht von der Anschnallpflicht beim Autofahren, jedenfalls erfolgreicher als alle bisherigen Bemühungen gegen Tabakmissbrauch oder falsche Ernährung. Und umgekehrt gilt: Die Sozialwissenschaft kann aus Erfolgen lernen.
"Die Sozialwissenschaften, speziell auch die Politikwissenschaft, kann sehr viel davon profitieren, wenn sie die produktiven Lösungen analysiert, die im Hinblick auf AIDS gefunden worden sind, und auch die fördernden und hemmenden Bedingungen, unter denen es zu diesen Lösungen kam, berücksichtigt, dann kann auch für Gesundheitspolitik und speziell für Präventionspolitik sehr viel daraus gelernt werden."
Die Chancen sind aktuell allerdings schlechter geworden. Professor Rita Süssmuth, die spätere Bundestagspräsidentin, hat als Gesundheits-Ministerin sehr viel zur toleranten und damit erfolgreichen AIDS-Aufklärung beigetragen. Ihr war es darum gegangen …
… "unser Verständnis von demokratischer Gesellschaft, unser Menschenbild und unsere Vorstellung vom Zusammenleben aufrecht zu erhalten."
2003 sagt Frau Süssmuth gegenüber dem Deutschlandfunk:
"Wir haben mit gutem Erfolg Aids bekämpft. Aber unterschätzen Sie nicht, dass auch in Deutschland die Zahlen wieder steigen. Und was wir dringend brauchen ist mehr Aufklärung, und deswegen können wir keinesfalls uns zurücklehnen und erklären, Aids haben wir besiegt. "
Tatsächlich stellt das Robert-Koch-Institut Anfang Mai 2006 fest:
Die Zahl der neu diagnostizierten HV-Infektionen ist 2005 um 13 Prozent gewachsen. Das ist zwar ein geringerer Anstieg als in den Vorjahren, aber immer noch klar mehr, als zu den Zeiten, da "Safer Sex" fast selbstverständlich war.
Spekulationen über die Ursachen des Wideranstiegs gibt es viele. Aber Genaueres weiß man eben nicht, sagt "AIDS-Forscher" Rosenbrock:
"Es ist üblich geworden an Stammtischen zu sagen: Nun ja, wenn es Tabletten gibt, die die Krankheit verzögern können, dann interessiert sich keiner mehr dafür, andere sagen, es sind die Jugendlichen, die den AIDS-Schrecken gar nicht mitbekommen haben, ich glaube, dass an allen diesen Faktoren etwas dran ist, aber ich bin nicht in der Lage, und ich glaube, das ist derzeit niemand, zu sagen, in welchem Mischungsverhältnis diese Faktoren wirken, und erst aus einem halbwegs sauberen Bild des Verhältnisses dieser Faktoren zueinander und ihrer inneren Verbindung könnte man wissenschaftlich begründet neue Strategieansätze formulieren."
Immerhin, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat eine modernisierte Kampagne gestartet, mit Spots etwa in Kinos. Da muss ausgerechnet Boris Becker bei einer Kontrolle am Flughafen sein Kondom zeigen.
"Hintergrund Flughafen – "Alles bitte" – "Aha" – "Schutz ist wichtig – ich weiß warum"
Der Erfolg der AIDS-Prävention und der AIDS-Politik wäre ohne die sichtbaren Prominenten gar nicht vorstellbar."
Aber damit ist es nicht getan. Wie in den frühen AIDS-Jahren von 1981 an sind modernisierte, sozialwissenschaftlich fundierte und vor allem auf ganz bestimmte Zielgruppen ausgerichtete Maßnahmen dringend notwendig, um etwas gegen die gestiegene Neuinfektionszahl tun zu können.
Professor Rosenbrocks Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin, Dr. Michael Bochow, hat im April 2006 Ergebnisse neuer Umfragen und Studien vorgelegt. Am Beispiel homosexueller Männer zeigen die, wie differenziert Prävention angegangen werden muss.
Zwar stimmt es, dass auch in bestimmten schwulen Kreisen ungeschützter Sexualverkehr wieder angestiegen ist. Aber Manches an den Ergebnissen ist doch überraschend. Unter jungen Homosexuellen etwa, denen man gerne Unkenntnis und Leichtsinn nachsagt, ist riskantes Verhalten weniger verbreitet als im Bevölkerungs-Durchschnitt. Dennoch seien auch hier modernisierte, zielgruppen-spezifische Präventionsbotschaften notwendig.
Für so etwas aber bedarf es finanzieller und personeller Mittel. Doch heutzutage können auch Sozialwissenschaftler nicht automatisch verhindern, dass die Erkenntnisse der letzten 25 Jahre in Vergessenheit oder angesichts kurzsichtiger Sparmaßnahmen zum Lippenbekenntnis geraten.
"Zunächst einmal muss man froh sein, dass HIV und AIDS nicht in der heutigen Zeit über uns gekommen ist, denn Anfang der achtziger Jahre war es noch erheblich leichter, für Gesundheitsprobleme Geld zu mobilisieren, als das heute der Fall ist. Das ist im Augenblick die neue Herausforderung: Wie können wir mit vielleicht ganz neuen Methoden diesen Erfolg wieder herstellen. Allerdings sehe ich im Augenblick in der Gesundheitspolitik keine Bereitschaft, sich dort wirklich zu engagieren. Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis mit der Prävention, aber wenn man da genauer hinschaut, dann sieht man da bis heute nur Papier, Stellungnahmen, Versprechungen und Absichtserklärungen, aber noch keine Praxis."
Nach wie vor gilt also, was WHO-Sozialwissenschaftler Peter Aggleton öffentlich bereits vor zwei Jahrzehnten anmahnte:
Das Ziel von relevanter sozialwissenschaftlicher Forschung ist nicht, ein abstraktes Verständnis vom Menschen zu bekommen, es ist auch nicht dazu da, universitäre Abteilungen zu stärken, oder Forschungs-Einrichtungen oder individuelle Wissenschaftlerkarrieren. Nein, sie muss vielmehr dazu dienen, Menschen zu helfen, die mit dem HIV-Risiko leben oder bereits krank sind.