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25 Jahre Memorial Deutschland
"Die Instrumentalisierung der Geschichte beschäftigt uns"

Stalin gilt immer noch als Held. Und historische Aufarbeitung ist ungewollt. Der deutsche Ableger der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" entstand 1993. Die Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Historikern wird aber von russischer Seite erschwert.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.06.2018
    Eingangsschild MEMORIAL Moskau
    Eingangsschild MEMORIAL Moskau (MEMORIAL Deutschland / D. Höpfner)
    "Eigentlich ist alles gut. Wir sind die Besten. Wie ein eigenständiger Planet kreist die russische Welt im Universum. Aber irgendetwas ist da, irgendwas im Inneren juckt, es ist falsch. Und das ist Memorial."
    Der russischstämmige Wahlberliner Vladimir Kaminer brachte es (ironisch)auf den Punkt. Wer sich in Russland der Geschichte nähert, dem entkommt sie wie eine ängstliche Katze. Wie ernst die Lage des 1988 in Moskau gegründeten Vereins ist, zeigte zuletzt der Versuch des russischen Justizministers, "Memorial" als "staatsfeindlich" zu verbieten. Seit 2016 steht die NGO nun auf der offiziellen Liste für "ausländische Agenten": nicht nur, weil sie russische Gesetze kritisiert und von einer russischen "Aggression" im Ukraine-Konflikt gesprochen hatte. Memorial ist zudem vom Ausland mitfinanziert. Seit 25 Jahren leistet etwa die deutsche Filiale der Menschenrechtsorganisation mithilfe von öffentlichen und privaten Stiftungen finanzielle und logistische Unterstützung. Edgar von Radetzky aus dem Vorstand von Memorial Deutschland, sieht gerade im System Putin neuen Handlungsbedarf:
    "Die Instrumentalisierung der Geschichte ist das, was uns beschäftigt. Die Rückwendung zum Stalinismus, die Heroisierung der Stalin-Zeit, das Aufstellen von Stalin-Büsten an verschiedenen Stellen. Das ist das, was wir genau im Auge behalten wollen und was wir auch publik machen wollen."
    Zunehmende Schikane
    Die historiographische Recherche von Memorial Deutschland hat in den vergangenen 25 Jahren tatsächlich wichtige Erkenntnisse zu Tage befördert. Eine viel beachtete Ausstellung über deutsche und sowjetische Häftlinge des russischen Geheimdienstes legte etwa den Grundstein zur heutigen Gedenkstätte Leistikow-Straße in Potsdam. Auch die Dokumentation "Erschossen in Moskau" über rund 1000 deutsche Opfer einer Erschießungsaktion 1950 geht auf Memorial zurück. Memorial Deutschland sei auch gegenwärtig eine wichtige Stütze der Vereinszentrale in Moskau, meint Olga Rosenblum.
    "Die Literaturdozentin und Memorial-Aktivistin berichtet von zunehmender Schikanierung durch die Behörden. Jede Publikation von Memorial müsse laut geltendem Gesetz mit einem Stempel versehen werden, der auf den Status als "ausländischer Agent" hinweist. Wer mit Memorial zusammenarbeite, mache sich verdächtig und angreifbar. Historiker würden etwa von Konferenzen ausgeladen, wenn sie Verbindungen zu Memorial unterhielten."
    Auch die deutsche Geschichtsforschung beklagt eine direkte oder indirekte Zensur in der Zusammenarbeit mit den Historiker-Kollegen aus Russland. Die Situation wird zumindest als "zwiespältig" empfunden. So ist einerseits das 2015 in Moskau eröffnete Gulag-Museum vom russischen Staat ausgezeichnet worden. Andererseits wurde vor wenigen Tagen bekannt, dass der gleiche Staat die Vernichtung tausender archivierter Karteikarten über Opfer der Sowjetischen Gewaltherrschaft angeordnet hat. Jörg Morré, Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, fand dazu klare Worte:
    "Mit den Karteikarten, das ist nur ein öffentliches Signal. In einem Land, wo die Archive geschlossen sind wo man die auch über Jahrzehnte geschlossen halten kann, braucht man nichts zu vernichten. Man schließt es weg, es ist Herrschaftswissen."
    Erschwerte Zusammenarbeit
    Jörg Morré berichtete, dass die verdeckte Schikane seiner Zusammenarbeit mit russischen Historikern in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen habe. Jan Claas Behrends vom Zeithistorischen Forschungsinstitut in Potsdam sprach von einer "Selbstzensur." Russische Historiker würden immer vorsichtiger, ihre Kontakte zu deutschen Forschungsstellen öffentlich zu machen. Unter Putin sei die Kontinuität des russischen Staates zum Leitnarrativ der offiziellen Geschichtsschreibung geworden. Aktuellen Umfragen zufolge halten rund vierzig Prozent der Russen den Diktator Stalin für die herausragendste Person der Geschichte. Anlässlich des 25. Jubiläums von Memorial Deutschland mangelte es also nicht an Belegen dafür, dass der Verein für Aufarbeitung und Menschenrechte in Russland gegenwärtig und zukünftig große Herausforderungen zu bewältigen hat. Dass Russland jetzt im Licht der Fußballweltmeisterschaft glänzen darf, ist auch auf diesem Hintergrund ein zwiespältiges Signal.