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27.4.1904 - Vor 100 Jahren

So mancher hat sich mit einem einzigen Stück in die Literatur- oder Musikgeschichte eingebracht. Rouget de L'Isle beispielsweise, der Urheber der "Marsellaise". Oder Franz Gruber, Lehrer im Salzburgischen, der sich mit wiegenden Terzen zu "Stille Nacht, heilige Nacht" und zu den Sternen aufschwang. Der Name von Herbert Zipper gehört in diese Reihe. Von ihm stammt die Melodie des Dachau-Liedes: "Stacheldraht, mit Tod geladen,/ Ist um unsre Welt gespannt".

Von Frieder Reininghaus | 27.04.2004
    Doch: welche Melodie? – Es sind zwei Weisen überliefert, nach denen das Marschlied vom August 1938 gesungen wurde. Die kaum entscheidbare Frage, welche der beiden teilweise sich ähnelnden, dann aber auch wieder recht unterschiedlichen Melodien denn nun die "richtige" sei, hat mit den Umständen der Entstehung zu tun. Herbert Zipper musste, wie er später berichtete, "im Kopf komponieren". Auch der Schriftsteller und Kabarettist Jura Soyfer, schrieb die Verse, die er sich im Lager Dachau ausdachte, vorsichtshalber nicht auf.
    So sagten und sangen Soyfer und Zipper den Mitgefangenen das Lied, das Mut zusprechen sollte, beim Säckeschmeißen vor; sogar, als sie – bis zum Bauch im Wasser einer Kiesgrube – schaufeln mussten. Sie wiederholten es so lange, bis es sich im Gedächtnis festgesetzt hatte. Später war dann allerdings nicht mehr eindeutig, welche Melodie da am Anfang bei den Worten "vor der Mündung der Gewehre" war.
    Der Text spiegelt die allwaltende Brutalität – mit Formulierungen wie: "... und wurden stahlhart dabei". Der Refrain versuchte angesichts der drohenden Verrohung der Häftlinge, die zynische Parole überm Lagertor umzumünzen: "Bleib ein Mensch, Kamerad,/ Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad,/ Denn Arbeit, Arbeit macht frei!"
    Erkennbar lehnte sich das Dachau-Lied an die bereits 1933 im Konzentrationslager Papenburg entstandenen Moorsoldaten an. Aber es wurde deutlicher und rief den Gefangenen klar ins Bewusstsein: "Der du warst in fernen Tagen,/ Bist Du heut schon längst nicht mehr." Wie die Grundintonation, so verdanken sich auch Pathos und der fast an Sarkasmus grenzende Realismus des Textes der konkreten Entstehungssituation. Und dem politischen Hintergrund der Autoren. Herbert Zipper, in jungen Jahren schon als Kapellmeister in Ingolstadt und Düsseldorf erfolgreich, kehrte 1934 in seine Heimatstadt Wien zurück. Dort wurde er – wie Jura Soyfer und viele andere Kommunisten – Anfang 1938 aus dem Verkehr gezogen, um den Jubel über den "Anschluss" Österreichs an Hitlers Deutsches Reich reibungslos zu gestalten. Sie wurden nach Dachau deportiert, geschunden, dezimiert, gegebenenfalls weiter geschoben nach Buchenwald. Soyfers starb dort im Februar 1939 an Typhus.

    Herbert Zipper aber kam, weil sein Vater einen Mitarbeiter des Konsulats von Guatemala bestechen konnte, aus Buchenwald frei. Mit einem Visum des mittelamerikanischen Staats und 10 Mark in der Tasche schlug er sich nach Paris durch und weiter nach Manila, wo gerade ein Dirigent für das Symphonie-Orchester gesucht wurde. Aber durch die japanische Invasion geriet er auch dort wieder in Gefangenschaft. Nach Kriegsende gelangte er in die Vereinigten Staaten, wurde US-Bürger und einer der führenden Musikpädagogen des Landes, der Musikschulen, Jugendorchester, Schulkonzertreigen und Pädagogen-Verbände gründete.

    Hoch geehrt starb er 1997 in Los Angeles als 93jähriger. Geboren wurde Zipper am 27. April 1904 in Wien, wo er auch seine solide musikalische Ausbildung erhielt und erste Erfahrungen mit dem dortigen Madrigalchor. Obwohl jetzt unter anderem auch wieder ein spätes Streichquartett von Herbert Zipper mit dem programmatischen Titel "Erlebnisse" in Wien aufgeführt wird, war es wohl die Geistesgegenwart, die zur Melodie des Dachau-Liedes führte, um deretwillen man sich am ehesten an diesen Musiker und Pädagogen erinnern wird.