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27 Staaten, 27 Werke

Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft, die immer auf ihre kulturelle Vielfalt bestanden hat. Aus den sechs Mitgliedstaaten des Anfangs sind inzwischen 27 geworden. Und all diese Länder waren zum 50. Geburtstag der Römischen Verträge aufgefordert, in Rom ein wichtiges Kunstwerk zu präsentieren. Eine schwere Entscheidung.

Von Thomas Migge | 24.03.2007
    Jakob Muffel repräsentiert Deutschland. Muffel ist in einen Pelzwams gekleidet und auf seinem Kopf trägt er eine mit Goldfäden durchwirkte schwarze Kappe. Der 55-jährige Mann war Politiker. Erst Ratsherr und dann Bürgermeister von Nürnberg. Ein bodenständiger Mann, den Albrecht Dürer wegen seiner Ehrlichkeit und Offenherzigkeit mochte. Dürer malte Muffel 1526. Eines der schönsten Porträtbilder des deutschen Malers. Aus diesem Grund schickte eine bundesdeutsche Kommission Jakob Muffel nach Rom.

    Sein Porträt ist von einem nackten Mann und einem jungen Mädchen eingerahmt. Zur Linken des Nürnbergers meditiert Rodins Denker, eine Bronzeskulptur von 1903, und zu seiner Rechten zeigt ein griechisches Mädchen ihren wohlproportionierten Körper. Die so genannte Kore aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. ist eines der unbestrittenen Meisterwerke altgriechischer Kunst. Jakob Muffel, der Denker und die Kore: drei Gesichter eines Kontinents, der in Rom den 50. Jahrestag seiner Vereinigung, der römischen Verträge, mit einer ungewöhnlichen Ausstellung feiert, erklärt der Kunsthistoriker Louis Godart, der Kurator dieser Kunstschau:

    "Jedes Land, also jedes Mitgliedsland der Europäischen Union, wählte in ein Kunstwerk aus, das für seine Geschichte emblematisch ist. Es waren, bis auf Frankreich, wo Chirac die Entscheidung traf, Kommissionen aus Kunsthistorikern, in der Regel zusammengesetzt auf Weisung der jeweiligen Kulturminister, die für die Auswahl der Werke verantwortlich sind."

    So manchem Besucher der Ausstellung scheint diese Auswahl gar nicht zu gefallen. Viele Fragen sich, ob man die lange und reiche Kunstgeschichte Österreichs auf das für so manchen immer noch recht anzügliche Bild ausgestreckte Frau von Egon Schiele reduzieren darf. Hätte man nicht, so die Kritiker dieser Wahl, ein repräsentativeres Kunstwerk nach Rom schicken können? Weniger dekadent, weniger Fin de siecle? Was sagt das expressionistische Gemälde Einsame Zeder von Tivadar Csontvary Kosztka von 1907 über die Kultur Ungarns aus? Wie bedeutsam muss für die heutigen Polen die Verfassung vom 3. Mai 1791 sein, dass sie zum Gedenken an den 50. Jahrestag des vereinten Europa ein Historiengemälde von Jan Matejko aus dem Jahr 1891 auswählten? Und: ist es legitim, die Kunstgeschichte Schwedens auf ein Schlachtenbild zu reduzieren? Den Tod König Gustav II. Adolf in der Schlacht von Lützen, gemalt 1855 von Carl Wahlbom?

    Und Italien? Auf welches Kunstwerk reduzierte Italien seine immense Kunstgeschichte, vielleicht die reichste ganz Europas?
    Louis Godart:

    "Die Entscheidung dafür übernahm die Creme della creme der italienischen Kunsthistoriker, die wochenlang darüber debattierte. Es handelt sich um ein Meisterwerk europäischer Porträtkunst, von Tizian. Es zeigt einen jungen Edelmann und wurde gegen 1520 gemalt. Es trägt den Untertitel, Mann mit grauen Augen, aber eine Generalüberholung des Gemäldes zeigt, dass er in Wirklichkeit blaue Augen hat."

    Die Gemälde, Skulpturen aber auch Freskenbilder und Schmuckstücke aus den 27 Mitgliedsländern der EU sind allesamt höchst unterschiedlich und stammen aus rund 5.000 Jahren Kulturgeschichte. Auf einen roten Faden wurde angesichts der Vielfalt künstlerischer Entwicklungen auf dem alten Kontinent bewusst verzichtet. Hinter jedem Kunstwerk steht die Transportkiste, mit dem es in den Quirinalspalast gebracht wurde. Auf jeder Holzkiste liegt, von Italiens Starregisseur Luca Ronconi szenografisch angeordnet, die nationale Fahne des jeweiligen Staates. Das mag kitschig wirken aber es darf nicht vergessen werden, so Louis Godart, dass diese Ausstellung Europa feiert, das vereinte Europa und somit in gewisser auch eine politische Kunstausstellung ist:

    "Das einzige, was hier hervorgehoben werden muss, ist der Umstand, dass wir diese lange Kultur- und Kunstgeschichte am Beginn der Ausstellung auf einen Nenner bringen, einen Ausgangspunkt, der alle europäischen Staaten vereint. Einen altgriechischen Pokal aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, ein Meisterwerk des Bildhauers Asteas, das den Raub der Europa darstellt, den Gründungsmythos unseres Kontinents. Ein wirklich emblematisches Werk."

    Als Ausstellungsort wählte die Stadt Rom nicht den Saal der Horatier und Kuratier auf dem Kapitolshügel aus, in dem am 25. März 1957 die Repräsentanten Deutschlands und Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande, Frankreichs und Italiens die römischen Verträge unterzeichneten, die Geburtsstunde des vereinten Europas. Die Kunstwerke aus den 27 aktuellen Mitgliedsländern werden im Salone dei Corazzieri im Quirinalspalast gezeigt, dem Sitz des italienischen Staatspräsidenten. Mit rund 500 qm Fläche ist dies der größte Saal eines der größten Paläste der Welt. Ein Saal, der ganz bewusst ausgewählt wurde: seine Freskenbilder aus dem 17. Jahrhundert zeigen nicht ein einziges Sujet, das an eine der Lieblingsbeschäftigungen der Europäer erinnert: an das Krieg führen und an das gegenseitige Abschlachten.