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29.000 Kilometer Klippen

Vor der Ostküste Kanadas liegt die Insel Neufundland. An ihrer rauhen Küste stehen zahlreiche Leuchttürme, nicht ohne Grund, die Gewässer vor der Insel waren gefährlich, die Küste voller Klippen. Jeder der Türme kann eine Geschichte von echten und gerade noch vermiedenen Katastrophen erzählen.

Von Franz Lerchenmüller | 25.10.2009
    In der alten Nebelküche Neufundland dampft es wieder mal aus allen Töpfen. Man sieht zwar die Hand vor Augen, aber die umgischteten Felsen von Cape Spear, dem östlichsten Punkt Amerikas, lassen sich 30 Meter weiter nur erahnen.

    Doch dann reißt der graue Vorhang für einen Moment auf, und gibt den Blick frei auf einen zweistöckigen, quadratischen Bau, der von einem aufgesetzten Glasrondell gekrönt wird.

    "Dies ist der älteste erhaltene Leuchtturm in Neufundland. Er wurde 1836 erbaut und vor ein paar Jahren restauriert. Das Besondere an ihm ist die Architektur - ein hervorragendes Beispiel, wie die Engländer an der Ostküste Kanadas Leuchttürme bauten. Darum gilt er auch als Nationale Sehenswürdigkeit."

    David Favour ist kein Leuchtturmwärter, sondern führt Gäste durch Cape Spear. In dem Gebäude wohnte eine ganze Familie und ein Assistent. Einen Leuchtturm zu betreiben, das war eine Arbeit, die Tag und Nacht dauerte, meint die Volkskundlerin Elke Dettmer, die seit vielen Jahren in Neufundland lebt.

    "In der Nacht mussten alle paar Stunden die Gläser gereinigt werden und neu mit Öl gefüllt werden, damit das funktionierte. Und zum Leben musste man hier kochen und hauswirtschaften und einen kleinen Garten haben. Dann musste man auch darauf achten, welche Schiffe reinkamen. Denn die Handelsschiffe, die hier kamen - von St. John`s aus konnte man die gar nicht sehen. Sobald man die Flagge erkannte an einem dieser Handelsschiffe, hat man die gleiche Flagge hier gehisst und das wurde vom Signal Hill aus gesehen. Und dann wurde auch da wieder gehisst und dann wusste der Händler in der Stadt selbst, dass sein Schiff ankommt."

    Im oberen Stockwerk stapeln sich Fässer.

    "Man sieht hier zum Beispiel die Ölfässer. Wo erstmal Walöl gebraucht wurde, um das Licht zu unterhalten, das war aber schwer zu bekommen und teuer und auf Dauer wurde dann Seehundöl gebraucht. Man verbrauchte etwa 1600 Liter von solchem Öl im Jahr, ne Menge von Fässern werden hier gestanden haben. Nur dreimal im Jahr wurden hier Vorräte geliefert, weil man konnte hier nur sehr schlecht landen, das wagte man nur dreimal im Jahr. Die Fässer mit Öl, die Fässer mit Molasses und mit Mehl, das wurde alles hier unterm Dach gelagert."

    Neufundland ist eine sturmumtoste Insel im Atlantik. Seit dem 16. Jahrhundert kamen Fischer aus Spanien und England, um hier Kabeljau zu fangen. Dass dabei immer wieder ein paar Schiffe zerschellten - Schicksal. Als aber im 19. Jahrhundert der Handel mit Europa zunahm, forderten die Kaufleute die Regierung auf, endlich etwas zu unternehmen.

    "Ich denke, das war der Anfang der Zivilisation hier. Um 1830 fing man an, Schulen, Kirchen, Gerichtsgebäude einzurichten, weil es hier dann schon genug Ansiedler gab, dass sich das lohnte. Und dazu gehören auch die Leuchttürme. Vorher gabs nur ganz einfache, vielleicht Feuer an einer Stelle, um Schiffe zu warnen, und das ist natürlich hier der Friedhof des Atlantiks, sehr viele Schiffswracks."

    Seitdem, sagt David, haben Leuchttürme für Neufundland eine besondere Bedeutung:

    "Wir Neufundländer sind ja nur hier wegen des Meeres - und dem, was im Meer ist. Früher gab es überhaupt keine Straßen. Alle Waren kamen per Schiff, alle Menschen reisten mit dem Schiff. Leuchttürme wurden gebaut, um das Reisen sicherer zu machen. Das Leben auf dem Meer ist immer noch gefährlich genug. Aber die Leuchttürme haban vieles verbessert."

    55 Leuchttürme betreibt die kanadische Küstenwache noch heute rund um Neufundland und Labrador. Sie bestehen aus Holz, Beton oder Eisen, sind von schlanker Eleganz oder gedrungener Zweckmäßigkeit. Einige wurden inzwischen ausgemustert und dienen als Souvenirshop, Künstleratelier oder Hotel. Um jeden aber ranken sich Mythen, und jeder steht für ein bestimmtes Stück Neufundländer Geschichte.

    Der Leuchtturm von Hibb`s Cove etwa, noch einige Kilometer hinter dem abgelegenen Dorf Port de Grave hat nie Schlagzeilen gemacht. Doch die sechs Meter hohe rot-weiße Eisenröhre hat treu ihren Dienst erfüllt, seit sie 1883 erstmals ihr Licht hinaus in Nacht und Nebel von Conception Bay geschickt hat: Während der letzten Jahrzehnte gab es keine Tragödien in Port de Grave.

    "Bei uns ging immer alles gut. Solange ich lebe, ist aus unserem Dorf kein Fischer auf See geblieben. Ja, wir haben Glück gehabt."

    Bernhard Morgan ist seit über 30 Jahren Fischer. Der 63-jährige mit der unvermeidlichen Baseballmütze und den wässrigen blauen Augen hat alle Höhen und Tiefen mitgemacht.

    "Als ich anfing, ging es um Kabeljau. Der verschwand - und wir versuchten es ein paar Jahre lang mit Lodden, Hering und Makrele. Aber auch die wurden irgendwann weniger und wir mussten wieder umstellen. Seitdem, die letzten 15 Jahre, fischen wir Königskrabben."''

    1992 verbot die Regierung den Fang von Kabeljau, weil die Meere leer waren.

    "Die meisten Leute versuchten es mit einer anderen Art von Fischerei. Wer auf Königskrabben umstellte, hatte richtig Glück. Das bringt mehr als der Kabeljau jemals - doch, uns geht's wirlich ganz gut."

    Von der vielbesungenen Romantik der Fischerei hält Bernhard Morgan allerdings nicht viel:

    "Spaß? Man verdient sein Geld damit. Da ist nicht viel Spaß dabei."

    Von Port de Grave geht es nach Süden. Die Straße führt durch menschenleere, feuchte Ebenen, auf denen Multebeeren und Farne wachsen - ein Fest für Liebhaber des Kargen. Von Portugal Cove sind es noch einmal 20 Kilometer Schotterstraße bis zum Leuchtturm Cape Race. An diesem südlichen Punkt eröffnete Marconi 1904 eine Funkstation - ein gutes Geschäft, erzählt Cynthia Power, die mit ein paar anderen den Funkraum wieder hergerichtet hat.

    "Wenn die Schiffe in Reichweite von Cape Race kamen, hatten sie endlich Funkkontakt. Auf den großen Luxusdampfern wie der Titanic, wollte natürlich jeder ein Telegramm an seine Familie schicken: Wir sind jetzt in der Nähe von Cape Race, es geht uns gut, alles in Ordnung... Es gab ein Jahr, da hat die Station 80 000 Dollar an Funk-Gebühren eingenommen."

    Die Titanic. Ihr Name wird für immer mit Cape Race verbunden sein. Am 14. April 1912 stieß sie 400 Meilen östlich mit einem Eisberg zusammen.

    "Walter Grey hatte in dieser Nacht Dienst und empfing den Notruf. Er schickte Funksprüche an die Schiffe, die in der Nähe der Titanic waren, sie sollten ihr zu Hilfe kommen. Angeblich hat Gray dann zwei oder drei Tage durchgearbeitet, Nachrichten hin und her und immer wieder. Die Funker hatten einen Ehrenkodex: Kein Außenstehender darf erfahren, was in einem Funkspruch steht. Deshalb war der Gouverneur von Neufundland auch ziemlich sauer auf Gray, weil der ihm einfach keine Informationen gab."

    Auch Ken Perry in Cappahayden hat einen Leuchtturm. Er hat ihn selbst gemauert, im Vorgarten, einen Meter hoch. Er weist auf den Fish and Chips Stand hin, den Ken mit seiner Frau Ollie betreibt. Die beiden müssten eigentlich etwas über den Speisezettel der Leuchtturmwärter erzählen können. Neben den Kabeljauzungen, die Ken gerade brät, seien es viele einfache Gerichte gewesen, die auch heute noch beliebt sind.

    "Getrocknete Lodden, stark gesalzen, das lieben die Männer, weil sie viel Bier dazu trinken können. Dann... Salzfisch mit Grieben! Und natürlich Fish`n brewies: Das ist Kabeljau, mit altem Brot und Speck gemischt."

    Die Zeit reicht noch für einen Abstecher nach Ferryland. 1621 hat hier George Calvert die erste englische Kolonie namens Avalon gegründet. Von draußen überm Meer grüßt der Leuchtturm wie eine Wallfahrtskirche. Und die Pilger kommen in Scharen. Ihr Ziel ist das "Leuchtturm-Picknick", das Jill Curran seit ein paar Jahren anbietet.

    "Die Leute kommen gern hier heraus. Sie sehen, wo die Familie des Wärters gelebt hat und erfahren etwas über die Geschichte des Leuchtturms und die Schiffswracks, die vor der Küste liegen. Vor allem aber gefällt es ihnen, einfach dazusitzen, Eisberge und Wale anzugucken und das Leben zu genießen."

    Im ehemaligen Wärterhaus wählen die Gäste Sandwiches mit Curry-Huhn, Brie oder Krabben und eines der Tagesdesserts. Dann erhalten sie eine Decke, suchen sich einen Platz und schon bald bringt ihnen eine junge Frau das Gewünschte im Korb. Die zwei Damen aus Deutschland sind schon fertig.

    "Wir hatten beide das Chicken-Curry-Sandwich, sehr zu empfehlen. Mit Cashwekernen, Mandeln, das Brot frisch gebacken, etwas süßlich schmeckend, aus Maismehl. Dazu gab's dann einen Nudelsalat, es gibt selbstgemachte Limonade, frischen Kaffe, Tee.. und Kuchen zum Nachtisch, frei nach Wahl, Erdbeerkuchen, die Männer hatten Apfelkuchen und Cranberry-Pie - lecker, einfach lecker. Vor allem, es lohnt sich herzukommen, weil man die Wale hat, und einen Eisberg ... als Kulisse."

    Generationen von Jills Vorfahren waren auf Ferryland als Wärter tätig. Deshalb hat sie auch eine ganz besondere Beziehung zu Leuchttürmen.

    "Viele Menschen verbinden mit Leuchttürmen etwas Romantisches. Für jemand, der in Neufundland aufgewachsen ist, haben sie eine ganz andere Bedeutung. Sie sind meistens verknüpft mit Katastrophen - solchen, die gerade noch vermieden wurden, weil jemand ein Licht im Nebel sah. Oder eben auch Tragödien. Für uns sind sie ein Symbol unserer Geschichte. Die Gefahr war immer dabei, wenn wir unserer Arbeit auf dem Meer nachgingen - deshalb haben viele Leute großen Respekt vor Leuchttürmen."