Dienstag, 30. April 2024

Archiv


50.000 Schicksale für die Bildungsarbeit

Der Regisseur Steven Spielberg ließ in den 90er-Jahren mehr als 50.000 Überlebende ihre Lebensgeschichte erzählen. Seit zwei Jahren arbeitet eine Projektgruppe an dem weltweit einzigartigen Video-Archiv der Freien Universität Berlin und will die Interviews für die schulische Arbeit zugänglich zu machen.

Claudia van Laak | 27.01.2011
    Simon Wiesenthal, Auguste Meder, Gad Beck - bekannte und weniger bekannte Überlebende der Shoah, sie erzählen ihre Lebensgeschichte. Wie es anfing mit den Diskriminierungen, mit dem Antisemitismus in der Schule zum Beispiel, erzählt der 1916 geborene Kurt Stillmann.

    "In der Schule, wie veränderte sich da die Atmosphäre für Sie? Sie wurde langsam unerträglich, es wurde uns spürbar gemacht, dass wir nicht erwünscht sind, dass wir Freiwild sind. Es wurde uns die deutsche Überheblichkeit und Borniertheit gezeigt in seiner übelsten Art und Weise. Obwohl das gar nichts war im Vergleich dazu, was wir heute wissen, was später geschah."

    Für Projekte mit Schulklassen verwendet Dorothee Wein gerne das Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Kurt Stillmann - die Jugendlichen können Bezüge zu heute herstellen, vergleichen die Ausgrenzungen auf dem Schulhof von damals mit der Ausgrenzung von zum Beispiel Behinderten oder Migranten heute.

    "Die Schülerinnen und Schüler diskutieren dann auch ganz kontrovers, was sind denn so Verhaltensweisen. Wie verhalten sich die Mitschüler, wie die Lehrer, von wem gehen die antisemitischen Verhaltensweisen aus, das kann man dann ganz gut analysieren."

    Dorothee Wein ist Mitarbeiterin des Projekts "Zeugen der Shoah" an der Freien Universität Berlin. Bislang hat sie 40 Schulklassen ausgewählte Filme des Video-Archivs zugänglich gemacht, die Lebensberichte in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt, die Jugendlichen bestimmte Fragestellungen bearbeiten lassen - der Berliner Abiturient Simon Lorenz war einer von ihnen.

    "Ich fand´s auch generell sehr interessant, den Menschen hinter dem Nationalsozialismus zu sehen. Wir haben ja im Geschichtsunterricht immer nur die Daten und die Fakten, was ist passiert, ohne dabei auf die Menschen, die Persönlichkeiten, die Individuen einzugehen. Deshalb fand ich es schon sehr interessant."

    "Die Erfahrung ist, dass ganz viele Schüler nach den Projekttagen sagen, dass sie das erste Mal verstanden haben, worum es geht. Dass die Auswirkungen auf einzelne Menschen, dass sie das verstanden haben."

    Seit vier Jahren ermöglicht die Freie Universität Berlin als erste europäische Institution den vollen Zugriff auf das von Steven Spielberg initiierte Video-Archiv - bislang allerdings nur Angehörigen der Universität und Gastwissenschaftlern. Das wird sich jetzt ändern, erläutert Bernd Körte-Braun, Manager des Projekts "Zeugen der Shoah".

    "Wir haben nun im Rahmen des Projekts DVDs entwickelt und ein Online-Archiv entwickelt, um dieses Archiv den Schulen zugänglich zu machen, das war ein ganz wichtiges Ziel."

    In wenigen Wochen sollen die auf Deutsch geführten Interviews - etwa 900 von über 50.000 - online gestellt werden. Auch die DVDs stehen dann für den Einsatz in Schulen zur Verfügung. Diese enthalten neben Zeitzeugeninterviews weitere Unterrichtsmaterialien wie zum Beispiel ein Lexikon oder auch historische Dokumente. Lehrmaterial für die Zeit, in der direkte menschliche Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden nicht mehr möglich sind.