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50 Jahre an der Uni Tübingen
Seminar für Allgemeine Rhetorik führt Erbe von Walter Jens fort

Das Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen ist in Europa einzigartig. Gegründet wurde es am 7. August 1967 von dem Schriftsteller und Professor für Klassische Philologie Walter Jens. 50 Jahre später wird dort auch die Kommunikation im Netz erforscht.

Von Magdalena Ebertz | 07.08.2017
    Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Kritiker Walter Jens am 19.05.1989 in Köln bei einer Sitzung des P.E.N. Zentrums.
    Walter Jens wurde am 08.03.1923 in Hamburg geboren und verstarb am 09.06.2013 in Tübingen. (picture alliance/ dpa / Achim Scheidemann)
    Vor über 2.000 Jahren im alten Athen hatten Rhetoriker wie Aristoteles ein homogenes Publikum vor sich: Männer von gleichem Stand und gleichem Bildungsstand, die gemeinsam an einem Ort leben. Heute sind Vielfalt und globale Kommunikation die Herausforderung schlechthin für Rhetoriker, weiß Professor Olaf Kramer vom Seminar für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen:
    "Wenn ich ein hohes Maß an Diversität habe, muss ich erst so etwas wie eine gemeinsame Basis erzeugen. Dann muss ich gemeinsame kulturelle Werte, Überzeugungen, Identifikationspunkte finden und das ist etwas, was auch Kommunikation verändert. In vielen Reden hat Obama eigentlich nicht argumentiert, sondern er hat Geschichten erzählt. Und so kann man halt eine Gesellschaft, die hochdivers ist, dann irgendwie doch wieder versuchen, zusammenzuführen."
    Und damit beschäftigen sich die Tübinger Rhetorik-Dozenten und -Studierenden. Sie betrachten Körpersprache und Inszenierung, analysieren alles von Ciceroreden bis Nachrichten auf Twitter. Oben, im 5. Stock in einem schmucklosen Betonbau im Tübinger Univiertel hat das Seminar für Allgemeine Rhetorik seinen Sitz. 500 Studierende zählt das Institut – und das kontinuierlich seit vielen Jahren. Sie schätzen am Fach Rhetorik, das man in Deutschland so nur an der Universität Tübingen studieren kann, dass es Theorie und Praxis stark miteinander verknüpft, es lebensnah ist. Viele wissen aber dennoch nicht, was sie später damit beruflich machen möchten:
    "In jedem Bereich, wo Kommunikation vorkommt, ist auch Rhetorik und damit hoffe ich, dass ich das während dem Studium rausfinden kann. Journalismus fänd ich persönlich total spannend. Lektorat habe ich mir tatsächlich auch überlegt, also vielleicht dann auch so in die Schriftstellerei zu gehen. Vielleicht Werbung? Mal gucken.
    Public Relations kann ich mir sehr gut vorstellen. Ich habe jetzt gerade ein Praktikum in der Politik, im Bundestag, gemacht, kann mir das auch gut vorstellen. Tatsächlich auch Reden schreiben. Ich bin auch hier im Debattierverein, find eben das Selbstreden natürlich auch supercool. Aktuell habe ich so eine leichte Tendenz in Richtung Politik."
    Joachim Knape, der Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik, weiß genau, wo die bisherigen Absolventen gelandet sind:
    "Unsere Absolventen sitzen in den Ministerien, sie sitzen in den Parlamentsbüros, in den großen internationalen Unternehmen. Aber als Berater und Kommunikationsfachleute stehen sie natürlich nicht in der ersten Reihe, sondern sie sind eigentlich die cleveren Leute im Hintergrund der starken Frauen und Männer, die in Wirtschaft und Politik ihren Platz haben."
    Am Seminar lernen die Studierenden, wie man mit Sprache überzeugen kann. Sie untersuchen, wie Meinung gemacht wird und welche Argumentationsstrategien in Werbeslogans, Wahlplakaten, Spielfilmen, Instagram-Bildern und Bundestagsreden stecken, auch um die Menschen für Propaganda zu sensibilisieren. Die Rhetorik sei deshalb eine wichtige Fachrichtung für die Gesellschaft, ist Professor Olaf Kramer überzeugt:
    "Wenn wir uns beispielsweise mit politischer Kommunikation beschäftigen, dann wissen wir ja gar nicht, was in der Zukunft der Fall sein wird. Wir können nie sicher sein, welche politische Maßnahme welche Konsequenzen hat, sondern wir haben eigentlich Meinungen, die einander entgegenstehen und die besser oder schlechter begründet sein können. Und damit setzt Rhetorik sich auseinander."
    Die Tübinger legen dabei auch großen Wert auf das Studium der Antike, die Analyse der Reden von Platon, Aristoteles und Cicero. So hat Aristoteles schon vor über 2.000 Jahren erkannt, warum Redner wie Trump, Erdogan und manche AfD-Politiker Angst schüren, erklärt Professor Dietmar Till:
    "Da sagt Aristoteles, dann denkt das Publikum nicht mehr so genau darüber nach. Und das ist, glaube ich, eine Strategie oder Taktik, die heute ganz oft angewendet wird, Angst zu erregen vor Überfremdung, vor Flüchtlingen oder vor was auch immer, auch damit die Menschen nicht mehr so genau nachdenken und das, was sonst noch so gesagt wird, auch nicht mehr so genau prüfen."
    Am Seminar für Allgemeine Rhetorik wird auch erforscht, wie Kommunikation im Netz funktioniert, was einen Facebook-Post so erfolgreich macht. Von einer Digitalisierung in diesem Maße war vor 50 Jahren, als Walter Jens das Institut gegründet hat, noch nichts zu ahnen. Heute will die Tübinger Rhetorik ein hochmodernes Fach sein, das ähnlich wie die Kommunikations- und Medienwissenschaft ganz aktuellen Fragen nachgeht; dabei aber immer auch an der jahrtausendelangen Tradition festhält und am Erbe des Seminargründers Walter Jens, der einmal im Jahr 1977 über die Rhetorik sagte:
    "So oft man ihre moralische Autorität zur Verfolgung höchst unmoralischer Zwecke missbraucht hat, so unbezweifelbar ist ihr verpflichtender Auftrag."