Archiv


50 Jahre und 14.000 Vorstellungen

Vor kurzem war 10. Todestag von Eugène Ionesco, in den 50er Jahren Enfant terrible der französischen Theaterszene und Erfinder des absurden Theaters. Frankreich scheint das Datum vergessen zu haben: keine Sondersendung in den Medien, kein Ionesco-Festival, keine Werkschau, nichts. Ein winziges Theater im Pariser Quartier Latin hält die Fahne hoch – und wie. Seit 47 Jahren wird die "Chantatrice Chauve", die "Kahle Sängerin" dort ununterbrochen gespielt , mit insgesamt über 14.000 Aufführungen ein inzwischen Guinessbuch-bestätigter Weltrekord.

Von Christine Siebert |
    Ambiente Theater, man hört Nicolas Bataille verkünden : "Monsieur Smith, anglais, fume sa pipe anglaise et lit un journal anglais"

    Ionescos Protagonisten rauchen britische Pfeifen, lesen britische Zeitungen und fertigen britische Stickereien an. Sie sagen auf französisch so viel britischen Nonsens, dass sie vor 54 Jahren die Pariser Kulturwelt gegen sich aufgebracht haben, erinnert sich Nicolas Bataille, der seitdem die Regie führt und den "Monsieur Martin" spielt.

    Die Leute waren bei der Uraufführung empört, sie hatten den Eindruck, man mache sich über sie lustig. Sie protestierten, sie verließen den Saal. Als wir das Stück 1950 uraufgeführt haben, sagten die Kritiker: Soll das ein Witz sein? In sechs Monaten wird niemand mehr von Ionesco reden!

    Es kam völlig anders. Zuerst wollte zwar in der Tat niemand etwas von Ionescos Absurditäten wissen: Die Truppe um Nicolas Bataille konnte sich nie länger als ein paar Wochen in einem Theater halten.

    Doch Bataille ließ einfach nicht locker – und sieben Jahre später kam der Erfolg dann endlich geballt: Auf den 90 Sitzplätzen des Huchette-Theaters versammelte sich Abend für Abend das Tout Paris der Schönen, Reichen und Berühmten: verspätete Snobs beeilten sich, das mondäne Ereignis der Saison nicht zu verpassen – wer die "Kahle Sängerin" nicht gesehen hatte, war out – wer dagegen im Theatersaal auf Stars wie Sophia Loren, Edith Piaf oder Picasso getroffen war, der konnte mitreden.

    Seitdem hat das Theater das Stück nie wieder abgesetzt. Heute treffen sich dort allerdings nicht mehr Frankreichs Promis – heute schleifen entschlossene Lehrer Scharen gelangweilter Schüler in diese "Katastrophe der Sprache", wie Ionesco selbst sein Werk nannte. Die "kahle Sängerin" ist zum Lehrstück geworden. Dabei hatte Ionesco doch gerade das Lehrstück ad absurdum geführt! Die Nonsens-Konversationen der Cantatrice Chauve stammen nämlich aus einem Englisch-Lehrbuch:

    Ja, das hat er selbst gesagt: 'Ich wollte englisch lernen, und als ich das Lehrbuch geöffnet habe, habe ich eine ganze Welt entdeckt! Sie war bevölkert von Menschen, die völlig idiotische und sinnlose Sätze sagen. Und da kam mir die Idee, dieses Universum ins Theater zu übertragen!’ Ionesco hat also ein Anti-Stück geschrieben. Dieses Ziel hatte die 'Kahle Sängerin’ 1950. Ionesco öffnete mit seinem Stil, mit seinen Werken, eine Menge Pforten. Ohne ihn hätte es vielleicht Woody Allens Filme nicht gegeben. Und vielleicht auch nicht die von Monthy Python. Diese Art von Nonsens hat vor allem auch das Theater befreit!

    In der "cantatrice chauve" parodiert Ionesco die monumentalen Werke des Repertoires: Ibsens Hedda Gabler" etwa oder "Nora oder ein Puppenheim"
    Und wird selbst zum Monument. Das Théâtre de la Huchette ist zu einer Station der Paris-Sightseeing-Tour geworden, Touristen pilgern hierher, um ein Stück zu sehen, das schon an die 15 000 Mal gespielt wurde – die genaue Zahl steht auf der Schiefertafel über dem Eingang.

    Ionesco lässt die Sprache aus den Fugen geraten und mit ihnen die Figuren des konventionellen Theaters, er sprengt die Rahmen der institutionalisierten Kultur – und wird dafür 1971 in die traditionsreichste französische Kultur-Institution aufgenommen: in die Académie Française, den Club der Sprachbewahrer und –verwalter.

    All das ist so absurd wie Ionescos Werk. Absurd ist allerdings auch, dass Ionesco außerhalb des Huchette-Theaters in Frankreich kaum noch gespielt wird – höchstens in einigen Provinz-Theatern und in der Off-Szene des Avignon-Festivals. Vielleicht, weil Ionesco weniger universell als vielmehr originell ist - eine Originalität, die irgendwann aus der Mode kommt. Auch Beckett wird zurzeit kaum aufgeführt.

    Möglich ist auch, dass sich Ionescos Stücke nicht beliebig oft neu interpretieren lassen. Denn es gibt vielleicht nur eine wirksame Interpretation: diese völlig nüchterne, trockene und sparsame Spielart, die im Théâtre de la Huchette das Stück vor dem Altern schützt, seine freche Frische, seine Sprengkraft über die Jahrzehnte hinweg rettet. Noch einmal Nicolas Bataille:

    Man irrt sich, wenn man Ionesco spielen will und sich sagt: Das ist ja Nonsens, setzen wir uns also eine grüne Perücke und eine rote Nase auf, gehen wir auf den Händen! Das ist ein Irrtum! Das verschmutzt den Text! Das macht Ionescos Reflektion zunichte! Übrigens ist es gar nicht so einfach, die richtigen Schauspieler für die "Kahle Sängerin" zu finden. Es gibt ausgezeichnete Schauspieler, die mit dieser Art Theater nicht zurechtkommen. Eben weil sie denken: das ist ein skurriles Nonsense-Stück, also müssen wir auch skurril und komisch auftreten. Ganz im Gegenteil: man muss völlig natürlich sein. Als wäre das ganz klar: 'Wenn die Türglocke geht, dann bedeutet das, dass NIEMAND vor der Türe steht.’ Das muss für uns Schauspieler völlig einleuchtend sein.