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60 Jahre “Gastarbeiter” in Deutschland
Manpower aus dem Süden

Heute vor 60 Jahren, am 5.1.1955, sind die ersten Arbeitskräfte aus Italien in Deutschland angekommen. Gastarbeiter wurden sie damals genannt. Der Begriff klingt nicht nur altmodisch, er hat sich auch als falsch erwiesen. Für viele Arbeiter ist aus dem Gastland eine zweite Heimat geworden. In Italien sieht man die gemeinsame Geschichte mit Deutschland gespalten.

Von Nikolaus Nützel | 05.01.2016
    Lächelnd stehen drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem Hochhaus in Braunschweig. Schwarz-weiß-Aufnahme
    Drei italienische Gastarbeiter 1961 vor einem modernen Junggesellenheim in Braunschweig. Die Zimmer in dem Wohnblock, die mit ein bis drei Mann belegt werden, kosten inklusive Heizung und Wäsche zwischen 55 und 62 Mark. (dpa / picture-alliance)
    Einen Mercedes konnte er sich irgendwann leisten - Luciano Marotta ist stolz auf das, was er erreicht hat in Deutschland. Als 23-Jähriger ist er nach Stade in Niedersachsen aufgebrochen, um in einer Ziegelei zu arbeiten. Heute lebt er wieder als Rentner in Contursi in der süditalienischen Region Kampanien. Franco Pignata hat sich mit der Geschichte der Auswanderung in der Region als Historiker befasst - er hält den Lebenslauf von Luciano Marotta für sehr typisch.
    "Da sind ja Leute aufgebrochen, die so arm waren, dass sie nicht öfter als einmal am Tag etwas zu essen hatten, wofür sie hart arbeiten mussten. In Deutschland konnten sie einen Lebensstandard erreichen, von dem sie vorher nur träumen konnten, und für diese Leute, das muss man sich klar machen, war das ein enormer sozialer Aufstieg."
    Der Blick auf die Geschichte der Auswanderer ist für viele Italiener zwiespältig. Cristina Forlenzas Vater etwa ist als junger Mann nach Deutschland gegangen, er ist inzwischen verstorben. Ihr Vater und seine Landsleute mussten sich in vielerlei Hinsicht anpassen, erzählt sie.
    "Sie sind in gewisser Weise erzogen worden, sie haben die deutsche Mentalität angenommen, und mein Vater hat das auch an uns weitergegeben."
    Skepsis und Argwohn
    Die ersten Einwanderer, die nach Deutschland kamen, wurden nicht als Botschafter italienischer Lebensart und Kultur wahrgenommen - in den 50er und 60er Jahren waren Modemarken wie Prada, Versace oder Gucci in Deutschland ebenso unbekannt wie Cappuccino oder Parmaschinken. Vielmehr hörten die ersten Einwanderer schon mal Wörter wie "Itaker" oder "Katzelmacher", wenn Deutsche über sie redeten. Im Italienischen Fernsehen gab es bald schon Berichte über eine Behandlung, die man als demütigend empfand.
    "Was wirft man den Italienern vor? Etwa, dass sie schnell zum Messer greifen. Eine Wirtschaft hat ein Schild aufgehängt: Für Italiener Zutritt verboten. Wir haben nach den Gründen für diese Diskriminierung gefragt."
    In den Augen Luciano Marotta, der nach rund vier Jahrzehnten in Deutschland wieder als Rentner im süditalienischen Contursi lebt, hat sich seine frühere Wahlheimat allerdings sehr verändert. Das Deutschland von heute sei nicht mehr wie früher, sagt er.
    "Heute hat sich auch Deutschland ganz schön durchmischt, Türken, Spanier, Jugoslawen, Italiener - da ist auch nicht mehr so die Mentalität wie früher."
    "Beide Länder haben sich angenähert"
    Und Graziano Lardo, der Bürgermeister der früheren Auswandererstadt Contursi, ist der Ansicht, Italien sei inzwischen auf Augenhöhe mit Ländern wie Deutschland.
    "Es gab eine Art Vermischung, viele sind gegangen und viele sind auch wiedergekommen - und das hat schon dafür gesorgt, dass unsere beiden Länder sich angenähert haben. Wenn Deutschland und Italien heute eine wirklich enge Freundschaft haben, dann auch deshalb, weil viele Italiener es in Deutschland zu etwas gebracht haben."
    Wobei das Thema Auswanderung in Italien heute auf ganz andere Weise aktuell ist: Alleine im vergangenen Jahr sind mehr als 150 000 Flüchtlinge registriert worden. Die meisten von ihnen suchen das, was vor 60 Jahren Hunderttausende Italiener in Nordeuropa suchten: ein besseres Leben.