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60 Jahre Israel

Heute kann man die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ausgezeichnet nennen. Doch anders als auf offizieller Ebene hat sich Israels Image bei den Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert.

Von Richard Herzinger |
    Angela Merkel in der Knesset: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar."

    In ihrer Rede vor der Knesset im März, anlässlich des 60-jährigen Bestehens Israels, bekräftigte Bundeskanzlerin Angela Merkel eindringlich die Verbundenheit der Bundesrepublik Deutschland mit dem jüdischen Staat. Aus ihrem Munde klang dieses Bekenntnis nicht wie eine bloße Floskel. Mit großer Überzeugungskraft sprach sie in Jerusalem von der anhaltenden deutschen "Scham" über den "Zivilisationsbruch" des Holocaust als der unhintergehbaren Voraussetzung für das weitere Gedeihen der deutschen Demokratie. Sie betonte aber auch die Übereinstimmung der Werte, die Deutschland und Israel als moderne westliche Demokratien teilen und gemeinsam in die Zukunft blicken lassen.

    Damit unterstrich sie, dass das deutsch-israelische Verhältnis schon lange nicht mehr ausschließlich vom Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit bestimmt wird. Längst hat sich eine eigenwertige Nachkriegstradition guter Zusammenarbeit zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet.

    Dennoch war Merkels Darstellung des deutsch-israelischen Verhältnisses nicht frei von Beschönigung. Tatsächlich nämlich ist die Geschichte der Beziehungen zwischen dem demokratischen Nachkriegsdeutschland und dem jüdischen Staat weit widersprüchlicher und spannungsreicher, als es Merkels Hinweis auf die Kontinuität zu ihren Amtsvorgängern erscheinen lässt.

    Gewiss standen diese Beziehungen stets im Zeichen der Untaten des nationalsozialistischen Deutschland, waren und sind insofern von einmaliger Besonderheit. Diese Beziehungen waren aber auch stets "normaler" als es Deutsche wie Israelis in Feiertagsreden je zugeben würden – normal in dem Sinne nämlich, dass sie von Anfang an in hohem Maße von handfesten realpolitischen Eigeninteressen auf beiden Seiten bestimmt wurden.

    Für die junge Bundesrepublik waren die sogenannten Wiedergutmachungszahlungen an Israel, die im Luxemburger Abkommen von 1952 nach zähen Verhandlungen auf umgerechnet zirka 1,53 Milliarden Euro festgelegt wurden, so etwas wie ein Eintrittsticket in den Kreis der westlichen Staatengemeinschaft. Nur damit konnte angesichts des ungeheuren deutschen Verbrechens an den Juden der Nachweis erbracht werden, dass sich die deutsche Nachkriegsdemokratie grundsätzlich von der NS-Vergangenheit absetzen wollte.

    Konrad Adenauer, der dies erkannte und für den die konsequente und rasche Westintegration der Bundesrepublik absolute Priorität besaß, hatte bei der Durchsetzung der Wiedergutmachung aber gegen heftige innenpolitische Widerstände zu kämpfen – nicht einmal die Hälfte der Abgeordneten seiner eigenen Fraktion der CDU/CSU votierten bei der Abstimmung im Bundestag dafür.

    Adenauer konnte sich nur durchsetzen, weil die Sozialdemokraten geschlossen für die Annahme des Luxemburger Abkommens stimmten. Wie schwer dieser Schritt in die historische Verantwortung in der Atmosphäre der frühen Bundesrepublik fiel, lässt sich daran ermessen, dass der Kanzler in seiner ersten Regierungserklärung 1949 noch mit keinem Wort auf eine deutsche Verpflichtung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus eingegangen war. Erst im September 1951 gab er im Bundestag eine Erklärung ab, die sich zur deutschen Verantwortung zum Judenmord bekannte.

    Adenauer verpackte dieses Eingeständnis jedoch in einen apologetischen Freispruch der Mehrheit der Deutschen von jeder Schuld, indem er sagte:

    "Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich der enormen Leiden bewusst, die in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten gebracht wurden. Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt. Es hat in der Zeit des Nationalsozialismus viele gegeben, die mit eigener Gefährdung aus religiösen Gründen, aus Gewissensnot, aus Scham über die Schändung des deutschen Namens ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt haben.

    Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind."

    Gewiss war Adenauer auch innerlich von der moralischen Verpflichtung zur Unterstützung der Überlebenden des Judenmords und zur Aufbauhilfe für den jüdischen Staat überzeugt. Doch im Vordergrund seines energischen Eintretens dafür stand das Bestreben, der Bundesrepublik möglichst gute Ausgangsbedingungen für ihre internationale Rehabilitation zu verschaffen. Dabei spielten für ihn durchaus fragwürdige, von antisemitischen Klischees geprägte Annahmen eine wichtige Rolle – so glaubte Adenauer, dass die sogenannte "jüdische Lobby" in den USA eine gewaltige Macht besitze, und dass eine deutsche Zahlungsverweigerung an Israel daher die Unterbrechung der großzügigen amerikanischen Förderung des deutschen "Wirtschaftswunders" oder gar einen US-Wirtschaftsboykott gegen die Bonner Republik zur Folge haben könnte. Durch die Zuwendungen an Israel fiel es der Bundesrepublik zudem leichter, Entschädigungen an NS-Opfer in Osteuropa zu verweigern, die nunmehr in Staaten des feindlichen kommunistischen Blocks lebten.

    Umgekehrt kamen den deutschen Entschädigungsleistungen für den jungen Staat Israel, der von der ersten Stunde seiner Gründung nicht nur um seine nackte Existenz, sondern auch um internationale Anerkennung kämpfen musste, eine enorme Bedeutung zu. Vor allem in der Folge der Suez-Krise 1956, als Israel wegen der Besetzung des südlichen Suezkanals unter heftige internationale Kritik geriet und die USA ihre Wirtschaftshilfe für Israel suspendierte sowie ein Waffenembargo verhängte, waren die verlässlich fortlaufenden deutschen Wiedergutmachungsleistungen in Form von Warenlieferungen für den jüdischen Staat von unschätzbarem Wert. 1957 begann zudem, zunächst unter strenger Geheimhaltung, eine waffentechnische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, die sich über Jahre hinweg zu einer intensiven Rüstungszusammenarbeit entwickeln sollte.

    Dabei war es zunächst für die israelische Öffentlichkeit psychologisch äußerst schwierig gewesen, deutsche Zuwendungen zu akzeptieren. Ein großer Teil der Israelis konnte in den Wiedergutmachungsleistungen nichts anderes sehen als "Blutgeld", mit dem sich Deutschland von seiner unauslöschlichen Schuld auf billige Weise freikaufen wolle. Doch auf beiden Seiten setzte sich die interessensgeleitete, realpolitische Ratio durch. Dass sich die deutsch-israelischen Beziehungen stets auch auf eine kühle Abwägung gegenseitiger Vorteile stützte, hat ihnen eine Stabilität verliehen, die durch den moralischen Imperativ geschichtspolitischen Verantwortungsbewusstseins allein wohl kaum hätte erreicht werden können.

    Heute kann man die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland an objektiven Daten getrost "ausgezeichnet" nennen. Deutschland ist nach den USA nicht nur der zweitwichtigste Handelspartner Israels, sondern neben den Amerikanern auch sein engster und verlässlichster Verbündeter auf politischem und militärischem Gebiet.

    Innerhalb der EU tritt Deutschland als Anwalt für israelische Assoziationswünsche an die Gemeinschaft auf, und dem israelischen Botschafter in Berlin entfuhr bei einer Ansprache kürzlich die Bemerkung:

    "Deutschland ist der beste, vielleicht der einzige wirkliche Freund Israels in Europa."

    Doch irritierenderweise entspricht die öffentliche Stimmung diesem Stand der offiziellen Freundschaftsbeziehung bei weitem nicht – jedenfalls, was die deutsche Öffentlichkeit betrifft. Während das heutige demokratische Deutschland vor allem bei den jungen Israelis eine Wertschätzung, ja Bewunderung genießt wie nie zuvor, hat sich Israels Image bei den Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verschlechtert. So sehen, im krassen Gegensatz zu Angela Merkels Bekenntnis vor der Knesset, laut einer jüngst veröffentlichten Emnid-Umfrage rund 52 Prozent der Deutschen keine besondere historische Verantwortung Deutschlands für Israel mehr. Auch diesen Widerspruch freilich verschwieg Angela Merkel vor der Knesset nicht. Sie räumte ein, dass ihre unzweideutige Solidarität mit Israel in der eigenen Bevölkerung alles andere als unumstritten ist, und fragte:

    "Wie gehen wir damit um, wenn in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa sagt, die größere Bedrohung für die Welt gehe von Israel aus und nicht etwa vom Iran? Schrecken wir Politiker in Europa dann aus Furcht vor dieser öffentlichen Meinung davor zurück, den Iran mit weiteren und schärferen Sanktionen zum Stopp seines Nuklearprogramms zu bewegen?
    Nein, wie unbequem es auch sein mag, genau das dürfen wir nicht. Denn täten wir das, dann hätten wir weder unsere historische Verantwortung verstanden noch ein Bewusstsein für die Herausforderungen unserer Zeit entwickelt. Beides wäre fatal."

    Mit ihren Angaben über eine "deutliche" israelkritische Mehrheit in Europa hat die Bundeskanzlerin, was das eigene Land betrifft, freilich eher noch untertrieben. Laut einer weiteren Umfrage, die kurz vor Merkels Israel-Reise im März erhoben wurde, sprach sich die überwältigende Mehrheit von 91 Prozent der Deutschen für strikte Neutralität im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern aus, und nur ganze 3 Prozent erklärten, sie stünden eindeutig auf Seiten des jüdischen Staats.

    Sicher spiegelt sich darin zunächst einmal nicht mehr als die Anerkennung der Tatsache, dass im israelisch-palästinensischen Konflikt beide Seiten gleichermaßen gültige Rechtsansprüche verfolgen – Israel das Recht auf sichere Grenzen, die Palästinenser das Recht auf einen eigenen, souveränen Staat. Dieses Umfrageergebnis ist dennoch frappierend, wenn man bedenkt, dass zumindest eine starke politische Fraktion unter den Palästinensern, die im Gazastreifen regierende islamistische Hamas, offen die Auslöschung des jüdischen Staats propagiert, israelisches Gebiet unter Dauerbeschuss mit Raketen nimmt und dabei von dem islamistischen Regime im Iran massiv mit Geld und Waffen unterstützt wird. Der Iran selbst hat sich nach den Worten seines Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zum Ziel gesetzt, Israel "von der Landkarte der Geschichte zu tilgen" und arbeitet mit Hochdruck an der Entwicklung von Atomtechnologie, die zum Bau von Nuklearwaffen eingesetzt werden kann.

    Dass sich die überwältigende Mehrheit der Deutschen über die existenzielle Bedrohung eines Landes, dem sie durch seine demokratische und pluralistische Lebensform nicht nur politisch, sondern auch kulturell nahesteht, wenig Sorgen zu machen scheint, will nicht so recht zu der Beteuerung der Regierungschefin vor der Knesset passen, Deutschland werde Israel - so Merkel wörtlich - "nie allein lassen, sondern treuer Partner und Freund sein".

    Überhaupt ist die starke, anhaltende Sympathie der Deutschen für die palästinensische Sache erstaunlich. Denn die bewaffneten palästinensischen Organisationen haben ihren Kampf nie auf israelische Ziele beschränkt, sondern jahrzehntelang auch die gesamte westliche Welt, und nicht zuletzt Deutschland, als terroristisches Angriffsziel betrachtet. 1972 überfiel ein palästinensisches Kommando namens "Schwarzer September" die Olympischen Spiele in München und nahm israelische Sportler als Geiseln, um sie schließlich zu ermorden.

    Dabei handelte es sich bei dem "Schwarzen September" keineswegs um eine randständige Splittergruppe der palästinensischen Bewegung. Vielmehr entstammte dieses Kommando dem Dunstkreis der Al Fatah von Jassir Arafat, der zentralen Führungsfigur des palästinensischen Unabhängigkeitskampfes.
    Linksradikale deutsche Terroristen wurden seit den siebziger Jahren ebenso in palästinensischen Ausbildungslagern im Gebrauch von Waffen und Sprengstoff instruiert wie deutsche Rechtsextremisten. Im Deutschen Herbst 1977 schließlich entführte ein palästinensisches Terrorkommando die Lufthansa-Maschine "Landshut" und drohte, die rund einhundert Passagiere und Besatzungsmitglieder zu ermorden, sollten die Anführer der RAF nicht aus der Haft in Stammheim entlassen werden. Sie wollten damit den Entführern des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer zu Hilfe kommen.


    Von Israel an den Palästinensern verübtes Unrecht besonders kritisch zu betrachten, kommt dem Bedürfnis entgegen, sich Erleichterung von historischen Schuldgefühlen gegenüber den Juden zu verschaffen. Das wird besonders deutlich, wenn dem jüdischen Staat die Anwendung ähnlicher Methoden unterstellt wird wie die der Nationalsozialisten. Über 50 Prozent der Deutschen bejahten laut einer Studie über Antisemitismus in Europa aus dem Jahr 2004 die Aussage:

    "Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben."

    Solche Ansichten, die in Deutschland lange Zeit nur am rechten und linken Rand offen artikuliert wurden, finden sich seit einiger Zeit auch bei durchaus respektablen Journalisten und politischen Publizisten ausformuliert. Besonders exponiert hat sich dabei ein Autor, der freilich kein Deutscher, sondern ein als Deutscher geborener Franzose ist, der aber seit Jahrzehnten eine herausragende Rolle in der deutschen Publizistik spielt, nämlich Alfred Grosser.

    Der Politologe formuliert seine Position drastischer als die meisten deutschen Israel-Kritiker in den etablierten Medien, sieht er sich durch seine jüdische Herkunft und seine Vergangenheit als Holocaust-Opfer dazu doch besonders legitimiert. In einem Interview erklärte er kürzlich:

    "Die Menschen, die Hitler Widerstand geleistet haben, haben das nicht nur wegen der Vernichtung der Juden getan, sondern damit nie wieder Menschen, damit nie wieder Rassen verachtet werden. Israel aber verachtet die Würde der Palästinenser."

    Kritik dieser Art greift die offiziöse Floskel von der "Besonderheit" der deutsch-israelischen Beziehungen auf, um sie gegen ihre ursprüngliche Intention zu wenden. Typisch für diesen Argumentationsstil ist die Behauptung, der Holocaust werde von Israel instrumentalisiert, um die deutsche Regierung zum Verzicht auf Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern zu erpressen. Generell werde jede kritische Äußerung gegenüber Israel von dessen politischen und publizistischen Apologeten als "antisemitisch" diffamiert und so zum Verstummen gebracht. Deutschland schaue von der verzweifelten Lage im Gazastreifen weg, meint Grosser, und zwar

    "aus Angst davor, dass Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Man will nicht sehen, dass die Leute im Gazastreifen nahezu verhungern, weil sie einer Blockade unterliegen. Man will nicht sehen, dass Israel systematisch Infrastrukturen zerstört, die mit Geldern der EU gebaut wurden."

    Bezeichnenderweise argumentiert Grosser freilich seinerseits auf krasse Weise einseitig, indem er den Grund für die israelische "Blockade" Gazas ganz einfach unerwähnt lässt. Dort regiert nämlich die Hamas, die jede Verhandlungslösung mit Israel ablehnt, die nicht nur den Rückzug Israels aus dem Westjordanland fordert – aus Gaza hat sich Israel ja bereits zurückgezogen -, sondern das sogenannte "zionistische Gebilde" Israel in Gänze beseitigen will.

    Statt Mittel für die Ernährung und Beschäftigung ihrer Bevölkerung aufzubringen, rüstet sie massiv auf und stationiert Raketen an Israels Grenze, die sie unausgesetzt auf israelisches Gebiet abfeuert. Darüber hinaus aber entspricht Grossers Vorwurf, auf Kritik an den israelischen Reaktionen werde aus Angst vor israelischen Antisemitismus-Vorwürfen verzichtet, ganz einfach nicht den Tatsachen. Vielmehr hat die Europäische Union, und damit indirekt auch die deutsche Regierung, Israel mehrfach wegen seiner Abriegelung des Gazastreifen kritisiert und es aufgefordert, sie aus humanitären Gründen zu lockern.

    Ähnliches gilt übrigens für die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland. Erst kürzlich, im unmittelbaren Vorfeld von Merkels Israelreise im März, hatte das deutsche Auswärtige Amt in scharfer Form gegen den weiteren Ausbau von Siedlungen Stellung genommen.

    Offizielle deutsche Kritik dieser Art hat es, mit mehr oder weniger großem Nachdruck und darauffolgenden zum Teil heftigen Verstimmungen auf israelischer Seite, über die Jahrzehnte hinweg immer wieder gegeben. Die Fiktion, Kritik an Israel werde in Deutschland aus falsch verstandenem Schuldgefühl über die deutsche Vergangenheit unterdrückt, bildet gleichwohl auch die Grundlage der Thesen eines "Manifest der 25" betitelten Aufrufs von deutschen Akademikern und Intellektuellen – zu seinen prominentesten Unterzeichnern gehört Udo Steinbach, Direktor des Orient-Instituts in Hamburg.

    Dieses "Manifest" begnügt sich nicht mit der gängigen Unterstellung, Israel werde unter Berufung auf den Holocaust ein Freibrief zu unmäßigen Maßnahmen gegen seine Nachbarn ausgestellt. Es präsentiert auch eine radikale Umdeutung des Begriffs der historischen Verantwortung Deutschlands angesichts des Holocaust.

    Gerade weil Deutschland dieser Verantwortung gerecht werden müsse, so die Logik dieser Neudeutung, sei es verpflichtet, sich entschiedener gegen Israels Politik auszusprechen und eindeutiger für die Rechte der Palästinenser einzutreten. In Folge der nationalsozialistischen Judenverfolgung habe nämlich die Auswanderung europäischer Juden nach Palästina massiv zugenommen und somit die Dynamik zur Gründung des Staates Israel wesentlich beschleunigt. Auch habe das Entsetzen über den Holocaust die internationale Zustimmung zur jüdischen Staatsgründung erheblich befördert. Leidtragende dieser Entwicklung seien die palästinensischen Araber gewesen, die wegen dieser Staatsgründung ihrer Heimat oder ihrer Rechte unter jüdischer Herrschaft beraubt worden seien. In dem "Manifest" heißt es:

    "Mit anderen Worten: Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die (muslimischen wie christlichen und drusischen) Palästinenser gebracht hat. Das ist nicht dasselbe, als hätte das Dritte Reich einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Aber zahllose Tote waren auch hier die Folge, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung oder das Hausen in Notquartieren bis auf den heutigen Tag. Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen, um seine Existenz zu sichern. Und ohne den Holocaust erhielte Israel dafür nicht die materielle und politische Rückendeckung der USA, wie sie sich vor allem seit den neunziger Jahren entwickelt hat."

    Die Palästinenser erscheinen in diesem Geschichtsbild als unschuldige Opfer einer Auseinandersetzung, die durch die jüdische Emigration zu ihrem Schaden aus dem Ursprungsort Europa ausgelagert wurde.

    "Der seit nunmehr fast sechs Jahrzehnte andauernde, immer wieder blutige Nahostkonflikt hat unbestreitbar eine deutsche und in Abstufungen eine europäische Genese; europäisch insofern, als der deutsche Gedanke einer "Endlösung der Judenfrage" aus dem europäischen Antisemitismus und Nationalismus hervorgegangen ist. Und die palästinensische Bevölkerung hat an der Auslagerung eines Teils der europäischen Probleme in den Nahen Osten nicht den geringsten Anteil."

    Diese Darstellung klittert die Geschichte gleich in mehrfacher Hinsicht. Gewiss ist es im Verlauf der Etablierung des Staates Israel auch zu unrechtmäßigen Akten gegen palästinensische Araber gekommen. Eine gezielte, systematische Vertreibungspolitik aus rassischen oder religiösen Motiven, die auch nur im Entferntesten mit der NS-Vernichtungspolitik zu vergleichen ist, hat es aber nicht gegeben. In Israel lebende Araber, immerhin etwa 20 Prozent der Bevölkerung, besitzen volle staatsbürgerliche Rechte – auch wenn sie in der Praxis mit mancherlei sozialer und gesellschaftlicher Benachteiligung konfrontiert sind.

    Was die Autoren des "Manifests der 25" bei der Anprangerung von israelischen Übergriffen gegen Palästinenser unterschlagen, ist zudem, dass dies im Rahmen eines Selbstverteidigungskampfes geschah - unmittelbar nach seiner Gründung war Israel von arabischen Truppen militärisch angegriffen worden. Zu Gewaltakten gegen die jüdische Bevölkerung Palästinas ist es zudem schon lange vor der Etablierung des jüdischen Staates gekommen.

    Außerdem ist es schlicht falsch, dass die Palästinenser und die arabische Welt mit der Geschichte des europäischen und deutschen Antisemitismus nie etwas zu tun gehabt hätten. So kooperierte der palästinensische Großmufti von Jerusalem während des Zweiten Weltkriegs – und während des Holocaust - offen mit Hitlerdeutschland und verbreitete von seinem Exil in Berlin aus über das Radio anti-jüdische Propaganda in die arabische Welt. Frühe panarabisch-nationalistische Bewegungen wie die 1940 gegründete Baath-Partei in Syrien und im Irak, aber auch islamistische Strömungen wie die seit den dreißiger Jahren aktiven ägyptischen Moslembrüder waren zudem durch europäische antisemitische und nationalsozialistische Ideologeme beeinflusst.

    Die Geschichtsumdeutungen des "Manifests der 25" aber will die jüdisch-israelische Seite auf die Täterrolle, die Palästinenser dagegen auf den Part des arg- und wehrlosen Opfers festlegen. Sie erscheinen in diesem Neuarrangement der geschichtspolitischen Koordinaten nun gleichsam als die gegenwärtigen Opfer des Holocaust, während Israel zum indirekten Fortsetzer der NS-Vernichtungspolitik gestempelt wird.

    Konsequent zu Ende gedacht, wäre nach dieser These schon die Gründung Israels selbst als ein Unrecht gewesen, das ursprünglich vom nationalsozialistischen Vernichtungswahn generiert wurde. Gewiss sind solche zynischen Verdrehungen der Wahrheit in der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor nicht mehrheitsfähig. Aber dass sie von seriösen Wissenschaftlern in seriösen Medien verbreitet werden, zeigt, wie weit ihre Akzeptanz im deutschen Diskurs bereits vorgedrungen ist.

    Ganz neu ist dieses Phänomen freilich nicht. Die Tradition eines linken Anti-Zionismus, der Israel als Speerspitze des "Imperialismus" und die palästinensische Nationalbewegung als Teil eines weltweiten Befreiungskampfes der so genannten Dritten Welt feierte, reicht mindestens bis in die Zeit des Sechs-Tage-Krieges 1967 zurück. Die Forderung nach der Auflösung des jüdischen Staates und der Ruf nach einem bi-nationalen "sozialistischen Palästina" wurde damals, im Zeichen der internationalen "Dritte-Welt-Solidarität" auch von deutschen radikalen Linken aufgegriffen.

    Dies war ein herber Bruch in der Tradition der westdeutschen Nachkriegslinken. Denn in den fünfziger und frühen sechziger Jahren war es die nichtkommunistische Linke – nicht zuletzt auch die Gewerkschaftsbewegung – gewesen, die mit Herzblut für die Hinwendung zu Israel plädierte und einen hohen Grad an Identifikation mit dem Staat der Überlebenden des Nazi-Terrors aufbrachte. Diese wirkte umso stärker, als der Zionismus und die gesellschaftliche Ordnung Israels ursprünglich stark von sozialistischen Idealen beeinflusst waren.

    Auch die Affinitäten zur arabischen Welt haben die regierungsoffizielle Haltung der Bundesrepublik zum Staat Israel von Anfang an beeinflusst. So war der heftige Druck arabischer Staaten einer der Faktoren, der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel bis zum Jahr 1965 hinauszögerte. Arabische Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien hatten nämlich gedroht, sie würden im Gegenzug die DDR anerkennen – eine Stelle, an der Bonn verwundbar war, galt damals doch noch die Doktrin des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik Deutschland.

    Dass sich die arabischen Staaten von massiven Einflussnahmen auf die deutsche Israel-Politik Erfolg versprachen, hat aber auch mit den traditionellen deutsch-arabischen Bindungen zu tun. Sie gehen bis auf die gegen das britische Empire gerichtete arabienfreundliche Propaganda Kaiser Wilhelms II. zurück. Nicht weniger intensiv waren die arabischen Sympathien für Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus. Die meisten arabischen Regierungen präferierten im Zweiten Weltkrieg eindeutig Hitlerdeutschland, auch wenn sie ein offenes Bündnis scheuten. Von ihren strategischen und politischen Absichten her ist die Nahost-Politik der Bundesrepublik mit diesen unseligen Traditionen selbstverständlich nicht zu vergleichen. Die besonderen Sympathien aber, die Deutschland in der arabischen Welt genießt, wurden auch von den deutschen Nachkriegsregierungen stets sorgsam gepflegt, was die deutsche Israel-Politik in ein durchgängiges Spannungsverhältnis brachte.

    Schon während der Debatte über die von Adenauer angestrebte Wiedergutmachungspolitik in den fünfziger Jahren drohten arabische Staaten der Bundesrepublik mit einem Wirtschaftsboykott, sollten sie dem jüdischen Staat dergestalt auf die Beine helfen. Die Bundesregierung bemühte sich in Folge des Wiedergutmachungsbeschlusses dann auch sehr, arabische Länder wie Ägypten durch großzügige Wirtschaftshilfen wieder gnädig zu stimmen.

    Während im Sechs-Tage-Krieg 1967 eine Sympathiewelle für Israel durch die deutsche Bevölkerung brandete, hielt die sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt bereits im Jom-Kippur-Krieg 1973 auf strikte Neutralität und unterband sogar den Transport von US-Kriegsgerät für Israel von deutschem Boden aus. Und das, obwohl der Krieg eindeutig durch den Angriff Syriens und Ägyptens ausgelöst worden war.

    Die Bundesrepublik hat ihre Nahost-Politik also nie willenlos den Interessen Israels untergeordnet. Stets suchte sie vielmehr nach Spielräumen für die Zusammenarbeit auch mit Israels ärgsten Feinden in der arabisch-islamischen Welt, ohne die grundsätzliche Loyalität gegenüber dem jüdischen Staat in Zweifel geraten zu lassen. Aus dieser heiklen Balancepolitik, die in Israel stets mit großem Misstrauen betrachtet wurde, haben sich allerdings auch Vorteile für die deutsch-israelischen Beziehungen ergeben.

    Deutschland rückte so auf allen Seiten in die akzeptierte Vermittlerrolle, die auch Israel zur indirekten Kommunikation mit seinen Gegnern nutzen kann. Durch das aggressive Gebaren des iranischen Regimes in der Region und das iranische Atomprogramm droht diese ganz auf Ausgleich zugeschnittene deutsche Rolle nun allerdings an ihre Grenzen zu stoßen.

    Einstweilen bestimmen die blutigen Scharmützel um Palästina das Israel-Bild in der deutschen Öffentlichkeit fast ausschließlich. Wenig zur Kenntnis genommen wird Israel dagegen als ein modernes demokratisches, hoch entwickeltes Land, das etwa auf dem Gebiet der Zukunftstechnologien, namentlich im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes, mit beeindruckenden Leistungen aufwarten kann. Das müsste den ökologisch so sehr sensibilisierten Deutschen doch eigentlich imponieren. Gelänge es, diese Seiten der Entwicklung des jüdischen Staates stärker ins deutsche Bewusstsein zu heben, müssten sich auch die gegenwärtig anwachsenden negativen Emotionen gegenüber Israel wieder umkehren lassen.