Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


600 Regalmeter Tourismus in der Zeitreise

Das Historische Tourismus-Archiv an der Technischen Universität Berlin wurde 1986 gegründet. Die über 70.000 Druckerzeugnissen fanden nun eine neue Heimat.

Von Bettina Mittelstraß | 06.12.2012
    "In diesen Pappschachteln finden sich Prospekte, von denen meistens so jeder Einzelne überhaupt nichts wert ist, wenn man sie versucht auf dem Trödelmarkt loszuwerden."

    Der Historiker Hasso Spode führt durch die Kellergewölbe der Technischen Universität in der Hardenbergstraße. Dem Leiter des Historischen Tourismus-Archivs und der Willy-Scharnow-Stiftung für Tourismus ist es zu verdanken, dass man wieder neugierig in die Pappschachteln hineinschauen kann.

    "Holland - so sah das aus! So hat Holland für sich selber geworben. Natürlich - was haben sie? Eine Windmühle drauf! Und Trachten! Das ist so die Werbung vor 1945. So, das zieht sich bis dahinten hin."

    Erst in ihrer organisierten Fülle werden die Pappschachteln interessant. 1986 wurde am Institut für Tourismusforschung der Freien Universität der Grundstock des Archivs gelegt. Der Lehrstuhlinhaber Walter Eder kaufte mit Sondermitteln der Universität und Unterstützung von Reiseunternehmen private tourismushistorische Sammlungen und baute das Archiv auf. Über 50.000 Prospekte finden sich hier heute, die Aufschluss geben können über die Außen- und Selbstdarstellung verschiedener Länder durch die Zeiten. Daneben Werbezeitschriften, Informationsblätter von Verkehrsämtern und Reisebüros, Statistiken, Karten, Passagierbillets für Postkutschen aus dem 19. Jahrhundert, Bücher und natürlich Reiseführer mit aus heutiger Sicht skurrilen Tipps für ferne Wüstengegenden:

    "Zum Beispiel steht hier drin: Man soll immer eine Handvoll Sand mit sich führen, falls ein Räuber kommt und dem soll man das ins Gesicht schmeißen. Pistolen soll man nicht verwenden, möglicherweise geht das sozusagen nach hinten los."

    Die 70.000 gedruckten Zeugnisse über touristische Sehenswürdigen und Ziele in der Welt aus rund fünf Jahrhunderten warten in den drei großen Kellerräumen darauf, Fragen beantworten zu dürfen. Zum Beispiel solche:

    "Wie entstehen kollektive Images? Wie schafft der Tourismus in Wechselwirkung mit dem Einheimischen eine kollektive Identität? Ist im Moment jetzt so ein Modethema, was man mit diesen Quellen sehr gut bearbeiten kann."

    Oder in einer anderen Ecke: Da würde der Geschichtsprofessor mit dem auf meterlangen Regalen gestapelten Material gerne die Entstehungsgeschichte einer neuen Wissenschaft und ihre Entwicklung studieren:

    "Das "Archiv für den Fremdenverkehr", das war die erste wissenschaftliche Zeitschrift auf der Welt, die sich mit Tourismus beschäftigt hat. Genauso, wie in Berlin 1929 das erste wissenschaftliche Forschungsinstitut für den Fremdenverkehr gegründet wurde. Wir haben einiges von den Materialien dieses Instituts hier, vor allen Dingen diese Zeitschrift komplett vorrätig."

    Von den Schätzen des Archivs sind auch die Gäste der Eröffnungsfeier beeindruckt. Nicolai Scherle, Professor für Tourismuswirtschaft und Interkulturelle Kommunikation an der privaten Fachhochschule BiTS Iserlohn, denkt zum Beispiel an innerdeutsche Vergleiche:

    "Der Tourismus in der ehemaligen DDR war von der Gestalt ganz anders als der Tourismus in der BRD. Was die Angebotsstrukturen betrifft genauso, wie die Nachfragestrukturen. Und ich denke hier, das Archiv erschließt uns einen Schatz, der in vielfacher Hinsicht noch gar nicht gehoben wurde. Und ich würde mir als Sozial- und Kulturwissenschaftler erhoffen, dass dieser Schatz auch verstärkt in Abschlussarbeiten, vielleicht auch in Dissertationen, erschlossen wird. Weil Tourismus ist eben nicht nur Betriebswirtschaft und Management, sondern Tourismus ist ein komplexes, ein holistischen Phänomen, das man aus verschiedenen Perspektiven, unter anderem auch aus der historischen Perspektive, beleuchten sollte."

    Nicolai Scherle selbst hat Geografie studiert und auch für dieses Fach sieht er viele Forschungsmöglichkeiten:

    "Reiseführer erschließen uns fremde Räume. Und das Bild, das von der Fremde, vom fremden Raum, vermittelt wird, das verändert sich. Und sie können das zum Beispiel sehen, wenn sie einen Reiseführer aus den 1950er-Jahren und einen Reiseführer aus dem Jahr 2012 vergleichen, wie unterschiedlich Destinationen dargestellt werden, wie sich bestimmte Verhaltensmuster ändern, wie sich Tipps an Touristen verändert haben. Das sind Dinge, die mit Sicherheit einem räumlichen wie historischen Wandel unterliegen."

    Hasso Spode: "Gucken sie mal an: Das ist die Deutschlandwerbung der 30er-Jahre, die persönlich von Joseph Goebbels geleitet wurde und die wunderbar funktionierte! Trotz der politischen Verhältnisse hat es ja das Nazireich geschafft, bis 1938 den Incoming Tourismus enorm zu steigern, vor allen Dingen aus Großbritannien und Amerika. Goebbels hat es dann selber geschafft, sozusagen das Image von Deutschland zu vernichten. Ich gebe die mal rum, ich hoffe, die kommen dann auch wieder zurück."

    Was Hasso Spode herumreicht sind Werbezeitschriften aus der damaligen Reichszentrale für den Fremdenverkehr. Vorne drauf das deutsche Mädel im Dirndl mit blonden geflochtenen Zöpfen und Werbung für Heilquellen oder den Schwarzwald. Das totalitäre Regime setzte Tourismus mit Erfolg für politische Zwecke ein, sagt Hasso Spode - mit Strategien wie dem "Kraft-durch-Freude"-Tourismus, aber eben auch mit gehobenen Tourismusangeboten in Deutschland für reiche ausländische Gäste. Auch der Blick auf Tourismus im geteilten Deutschland lässt dahinterliegende politisch-gesellschaftliche Strategien erkennen, so Nicolai Scherle:

    "Der Tourismus in der DDR war sehr viel stärker vor dem Hintergrund der entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen auf das Kollektiv ausgerichtet. Der "westliche" oder bundesrepublikanische Tourismus war doch deutlich individualistischer geprägt. Diese Vergleiche erhoffe ich mir verstärkt in Zukunft erschließen zu können als Forscher."

    So lagern noch viele ungehobene touristische Schätze im Kellergewölbe der TU Berlin, die darauf warten, von Forschern entdeckt und von verschiedenen Seiten beleuchtet zu werden.

    "Das Tolle an Archiven ist, dass man eigentlich nie weiß, wie sie später mal befragt werden. Es gibt zum Beispiel eine Sammlung an irgendeiner Universität von alten Hundeknochen. Und der Wissenschaftsrat hat das rausgebuddelt und hat festgestellt, dass jetzt irgendwelche Biologen kommen, die damit ganz tolle Forschung machen können! So. Vorrede zu Ende. Was also mit den Materialien des Historischen Archivs zum Tourismus geschieht, kann ich jetzt nicht für alle Zeit prognostizieren."