Anna Kohn: Die Würde des Menschen, die Freiheit der Person, Gleichberechtigung, die Meinungs-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit - all das wurde in dieses Grundgesetz aufgenommen. Was bis heute FEHLT: Das explizite Bekenntnis zur Kultur als Staatsziel. Dabei hatte die Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" des Deutschen Bundestages 2005 diese Festschreibung empfohlen; auch mehrere Parteien starteten Versuche, die Kultur im Grundgesetz explizit zu verankern.
Nicht nötig, sagt der ehemalige Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Michael Naumann. Er meint: Kultur muss nicht explizit als Staatsziel ins Grundgesetz. Ich habe ihn gefragt: Warum nicht?
Michael Naumann: Weil Artikel 5 des Grundgesetzes eine Norm ist, nach der sich das Selbstverständnis des Staates zu richten hat – der Gesellschaft, nicht nur des Staates, die Länder, die Kommunen erstens. Und zweitens, weil die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung von Meinungsfreiheit in allen Gebieten, Journalismus, Publizistik, Verlagen, Kunst, Theater, Oper und so weiter, unter einer zensurfreien Kunst einher geht mit der Verpflichtung, dies auch zu fördern. Das haben diverse Verfassungsgerichtsurteile klipp und klar gemacht, so dass ich das Gefühl habe, wenn wir jetzt noch ein Einzelgesetz dazu packen, das uns erklärt, welche Branchen wie besonders gefördert werden müssen, satteln wir das Pferd gewissermaßen zum zweiten Mal auf, wobei diese offen interpretierbare Norm von Artikel 5 des Grundgesetzes im Grunde genommen eine viel größere Verhandlungsmasse anbietet für die Institutionen, die Kulturinstitutionen, die Kulturverbände, gegenüber dem Staat. Das ist Punkt eins.
Punkt zwei ist: Es gibt glaube ich, kein anderes Land in Europa, was aufgrund auch unserer föderalen Geschichte so viele Milliarden ausgibt für die Kulturen.
Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind außerordentlich kulturfreundlich
Kohn: In der Vergangenheit hat sich aber auch die SPD, Ihre Partei dafür eingesetzt, dass die Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz kommt. Wie kommt das? Die Gründe, die Sie eben genannt haben, waren der SPD ja wahrscheinlich auch bekannt.
Naumann: Ach je, meine Partei hat viele Dinge gesagt, mit denen ich nicht einverstanden bin, und das gehört eben auch dazu. Das ist eine, wie man früher sagte, breit aufgestellte Vereinigung oder ein Verein von politisch interessierten Menschen, die logischerweise nicht alle der gleichen Meinung sind. Ich kann, wer auch immer das innerhalb der SPD gefordert hat, nur empfehlen, ganz einfach die diesbezüglichen Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die alle außerordentlich kulturfreundlich sind, zu lesen. Wir werden dort auch als Kulturstaat beschrieben in einem Urteil, was so viel heißt: Der Staat ist verpflichtet, auch seine eigene Voraussetzung, nämlich ein kulturell engagiertes, normativ gewissermaßen sich selbstbewusstes Land zu fördern. Das zu lesen, kann ich nur all denjenigen wünschen, die sich gleichzeitig auf die Socken machen, um spezielle Fördergesetze für Kultur durchzusetzen. Es stellt sich dann nämlich sofort die Frage: Wieviel für die Oper? Wieviel für die Marionettenspiele? Und wieviel für Staatstheater? – In anderen Worten: Diese Form der Debatte führt in letzter Instanz zu einer Ermächtigung des Staates gegenüber den kulturellen Institutionen unseres Landes. Das möchte ich nicht.
Kulturstaatsministerium hat Kulturpolitik schlagkräftig gemacht
Kohn: Jetzt wurden Sie ja Ende der 90er der erste Bundesbeauftragte für Kultur und Medien beziehungsweise Kulturstaatsminister, wie man so sagt. Warum wurde denn damals entschieden, die Kultur bei diesem Amt anzusiedeln, aber eben nicht ins Grundgesetz zu schreiben?
Naumann: Diese Debatte ist mir damals völlig fremd gewesen und im Grunde genommen dem Schröder zweifellos auch.
Kohn: Gerhard Schröder meinen Sie, der das damals ins Leben gerufen hat?
Naumann: Ja, natürlich. – Es war ganz einfach so, dass über die diversen Institutionen, diversen Bundesministerien sehr viel Geld verstreut war, es aber trotzdem keine kulturpolitische Debatte im Parlament gab, weil die wurden gewissermaßen als Einzelposten im Haushalt etwa des Auswärtigen Amtes, des Innenministeriums, des früheren Vertriebenenministeriums, überall lag ein bisschen Geld herum, was für kulturpolitische Aufgaben reserviert worden war und ausgegeben wurde. Aber eine richtige kulturpolitische Debatte, zum Beispiel über die Wichtigkeit des deutschen Buchhandels, wurde im Parlament seinerzeit nicht geführt, sondern das überließ man den Ländern – mit der Konsequenz, dass wir beinahe eine schwere Schlappe in Brüssel hätten hinnehmen müssen, weil die Länder sich nicht wehren konnten gegen das Vorhaben der Europäischen Kommission, den gebundenen Ladenpreis abzuschaffen. Das hätte bei ungefähr der Hälfte aller deutschen Buchhandlungen zu einem Exit dieser Buchhandlungen geführt, wie der Deutsche Börsenverein immer wieder betont hat.
Mit anderen Worten: Das konnte damals verhindert werden durch diese Bundesinstitution, dem Staatsminister für Angelegenheiten der Kultur und der Medien beim Bundeskanzler. Der konnte dann in Brüssel nämlich drohen mit Haushaltsveto oder aber auch Zugaben für den Haushalt. Das konnten die Länder nicht.
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