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70 Jahre Hiroshima und Nagasaki
"Natürlich war da Testatmosphäre im Spiel"

Die beiden Atombomben der USA auf Hiroshima und Nagasaki seien aus Sicht von Historikern militärisch nicht notwendig gewesen, sagte der ehemalige ARD-Asien-Korrespondent Klaus Scherer im DLF. Japan habe zwar später kapituliert - aber vor allem aus einem anderen Grund.

Klaus Scherer im Gespräch mit Peter Kapern |
    Gedenken an Bombenopfer im japanischen Hiroshima, im Hintergrund das Friedensdenkmal.
    Jedes Jahr gedenken die Menschen im japanischen Hiroshima der Opfer der Atombombe, im Hintergrund das Friedensdenkmal. (dpa / picture alliance / Kimimasa Mayama)
    Klaus Scherer ist Autor der Dokumentation "Nagasaki - Warum fiel die zweite Bombe?", die heute Abend in der ARD zu sehen ist. Dafür sprach er mit Zeitzeugen und Historikern. Die Variante, dass Japan erst nach den beiden Abwürfen kapituliert habe, sei allen entgegen gekommen, sagte Scherer. "Man hatte die Genugtuung: Diese Bombe hatte auch ihr Gutes." Dennoch gebe es auch Hinweise darauf, dass Japan schon zuvor eine Kapitulation in Aussicht gestellt habe. Das Kaiserreich habe gehofft, dass die Sowjetunion vermittle - was dann aber nicht passierte. "Der eigentliche Grund, der Japan zum Umdenken gebracht hat, war Stalins Kriegserklärung."
    Gerade die Plutoniumbombe, die auf Nagasaki abgeworfen wurde, habe zwei Milliarden Dollar verbraucht. "Wenn man so eine Waffe hat, die so viel Geld gekostet hat, ist das auch ein Grund, sie einzusetzen", sagte Scherer. Er fügte hinzu: Wenn man den geplanten massenhaften Angriff auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen definiere, dann seien die Bomben genau das gewesen. Zehntausende Menschen starben wegen der Angriffe am 6. und 9. August.
    Die Dokumentation "Nagasaki - Warum fiel die zweite Bombe?" ist heute Abend ab 23.45 Uhr in der ARD zu sehen und ab 20 Uhr online abrufbar.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Peter Kapern: Werfen wir einen Blick zurück, 70 Jahre, auf den 6. August 1945. Morgens um kurz nach acht machte ein Augenzeuge zwei Flugzeuge am Himmel über Hiroshima aus.
    OTon: Es war ein wunderbarer Tag, blauer Himmel. Ich konnte zwei amerikanische Bomber hoch am Himmel sehen, zwei B-29-Bomber, ich dachte nur, wunderbare Kraniche, weiß, wie Eis am Stiel.
    Peter Kapern: Die Schilderungen eines Überlebenden des ersten Atombombenabwurfs. Am Steuer des Flugzeugs mit dem Namen Enola Gay, das mit Little Boy beladen war, saß damals Captain Paul Tibbets.
    OTon: Als die Bombe ausgeklinkt war, haben wir die manuelle Kontrolle übernommen und flogen eine extrem steile Kurve, um so viel Abstand zwischen uns und der Explosion zu gewinnen. Als wir die Druckwelle der Explosion spürten, wussten wir, die Bombe war explodiert. Alles war ein Erfolg. Also drehten wir um, um einen Blick darauf zu werfen. Was sich unseren Augen bot, ging weit über alles hinaus, was wir erwartet hatten. Wir sahen eine Wolke aus kochendem Staub und Trümmern unter uns, darunter verborgen waren die Ruinen der Stadt Hiroshima.
    Kapern: Captain Paul Tibbets, der Pilot des Flugzeugs, das die Atombombe nach Hiroshima brachte. Die Zahl der Opfer lässt sich bis heute nicht genau beziffern. Weit mehr als 100.000 waren das wohl. Und ebenso viele drei Tage später beim Abwurf von Fat Man, der zweiten Atombombe, über Nagasaki. Danach kapitulierte Japan, der Zweite Weltkrieg war damit auch im Pazifik beendet. Oder noch pointierter: Diese Bomben haben den Krieg beendet, so das bis heute gültige Narrativ in den USA. Stimmt nicht, behauptet Klaus Scherer, langjähriger Japan- und Washington-Korrespondent der ARD. Und in einem Buch und einer Fernsehdokumentation, die heute Abend zu sehen sein wird, erläutert er seine Erkenntnisse. Guten Morgen, Herr Scherer!
    Klaus Scherer: Guten Morgen!
    Kapern: Herr Scherer, tauchen wir noch etwas in die Geschichte ein: Mitte Juli 1945 hatten die USA eine Atombombe in der Alamogordo-Wüste erfolgreich getestet. Und davon hat Winston Churchill kurz darauf bei der Potsdamer Konferenz der Alliierten erfahren. Und bis zu diesem Zeitpunkt war er davon ausgegangen, dass Japan von den Alliierten in einer langen, blutigen Invasion erobert werden müsste. Und dann beschrieb er die Reaktion auf die Nachricht vom erfolgreichen Atombombentest so: Jetzt war mit einem Mal dieser Albtraum vorüber. Und an seine Stelle trat die helle und tröstliche Aussicht, ein oder zwei zerschmetternde Schläge könnten den Krieg beenden. Ob die Atombombe anzuwenden sei oder nicht, darüber wurde überhaupt nicht gesprochen. So hat Churchill das in seinem Buch "Triumph and Tragedy" 1953 beschrieben. Alles Lüge?
    Scherer: Na ja, es gibt andere Optionen, sagen mir zumindest namhafte Historiker. Denn auch Churchill und Truman wussten, dass Japan schon Wochen und Monate zuvor signalisierte, dass es kapitulationsbereit sei. Es wollte nur das Kaiserhaus retten. Nach den Bomben durfte es das seltsamerweise. Es gab auch Hinweise von Japan-Kennern in Amerika und dringende Bitten, dass man in dieser Kapitulationsforderung an Japan, die auch kein Datum enthielt im Übrigen, signalisiert hätte, der Kaiser könne überleben. Diese Formulierung wurde aus dem Entwurf gestrichen in letzter Minute, entweder von Truman selbst oder von seinem Außenminister. Es gibt auch Generäle und Admiräle, die unmittelbar nach dem Krieg sagten, insofern ist das gar nicht so neu, die Bombe war militärisch nicht nötig und sie war moralisch verwerflich, bis hin zu Trumans eigenem Stabschef, der sagte, Truman hat mir versichert, die Bombe würde keine Frauen und Kinder treffen. Und dann haben sie so viele Frauen und Kinder wie möglich umgebracht, wie sie es von Anfang an wollten. Wir haben auch zwei Wochenschauen gegenübergestellt, eine von 1945, unmittelbar nach Kriegsende, also Militärpropaganda, die klipp und klar sagte, auf die ersten Bilder, die es aus dem besiegten Japan dann gab von amerikanischen Fotografen, die sagten, das Land war darnieder, es war zerstört, es war kampfunfähig, lange bevor die Atombomben fielen. Ein Jahr danach, zum ersten Victory Day, als man zurückblickte, hörte Amerika das blanke Gegenteil: Japan sei hochgerüstet gewesen, dazu paradierten dann Truppen am Kaiserpalast vorbei, also alte Archivbilder. Und dann kam die verklärte Variante, man hörte, Japan sei kampfentschlossen gewesen, hochgerüstet. Und dann fiel die erste Atombombe, es war etwas verunsichert und zögerte noch, dann die zweite, und es kapitulierte. Das war die Variante, die allen gelegen kam. Man hatte sozusagen die Genugtuung, diese Bombe hatte auch ihr Gutes. Damit konnte man besser leben.
    Kapern: Dann stellt sich aber doch die Frage, Herr Scherer, wenn es denn dann nicht diese beiden Bomben waren, die den Zweiten Weltkrieg auch im Pazifik beendet haben, warum wurden sie dann abgeworfen?
    Scherer: Unterschätzen Sie die Eigendynamik nicht. Es gab zwei Bombentypen: Die Uranbombe, die auf Hiroshima fiel, die war längst fertig, sagen die Historiker. Und es gab die Plutoniumbombe, die man mit Nachdruck, mit viel Geld, zwei Milliarden Dollar damals schon, und mit Manpower entwickelt hat. Und die Frage ist, wenn man so eine Waffe hat, die so viel Geld gekostet hat, natürlich ist das auch ein Grund, sie einzusetzen. Natürlich war da Testatmosphäre im Spiel. Der Leiter der militärischen, dieser Geheimwerkstätten, General Growes, sprach ausdrücklich davon, dass nach dem Test in der Wüste von New Mexico jetzt der wahre Test nötig sei im Krieg gegen Japan. Er sprach von einem Test. Das Zweite war, Truman wollte alles auf einen Schlag erreichen. Er wollte Stalin außen vor halten am Siegertisch. Dazu hatte er die Möglichkeit mit der Bombe. Und er wollte eine blutige Invasion vermeiden. Allerdings hat er sich das auch schön geredet. Und es hat insofern nicht funktioniert, dass der eigentliche Grund, der Japan zum Umdenken brachte, eben Stalins Kriegserklärung war. Japan hatte gehofft, Stalin würde vermitteln. Es gab einen Neutralitätspakt, der galt zwischen Japan und Moskau. Und Japan hatte gehofft, Stalin würde vermitteln und damit den Kaiser retten. Der Eintritt der Sowjets in den Krieg machte diese diplomatische Option zunichte. Die Historiker sagen, denken Sie nicht immer von der Bombe aus, wenn Sie die Geschichte sehen, versetzen Sie sich in die Lage Japans. Es gab jeden Tag Meldungen von zerstörten Großstädten. Es waren 68 Großstädte zerstört, als sie Hiroshima und Nagasaki noch zerstörten. Das war nicht diese erschütternde Meldung, die Japan dann einknicken ließ. Was ihnen die Optionen nahm, war tatsächlich, dass der Verrat Russlands, wenn man so will, in zweiter Linie dann vielleicht die Bomben, aber die verklärte Variante, die wir bekommen, gerade noch zu Nagasaki, das sei die alles entscheidende Waffe gewesen, das sei Unsinn.
    Kapern: Lassen Sie mich da noch mal nachfragen, Herr Scherer. Das Buch, das Sie veröffentlicht haben, heißt "Nagasaki. Der Mythos der entscheidenden Bombe", und die Dokumentation, die wir heute Abend um 23:45 Uhr in der ARD sehen können, heißt "Nagasaki. Warum fiel die zweite Bombe?" Sie differenzieren also sehr stark zwischen dem Atombombenabwurf auf Nagasaki und dem auf Hiroshima. War der erste dann doch gerechtfertigt?
    Scherer: Ich habe das auch gefragt. Und nehmen Sie den wichtigsten Historiker dazu, Martin Sherwin, der eine Pulitzerpreisgekrönte Biografie über Oppenheimer geschrieben hat, der sein Leben lang über die Geschichte der Atombomben forschte. Der sagte auch, als junger Wissenschaftler dachte ich, die Hiroshima-Bombe war vielleicht noch irgendwie gerechtfertigt, nur die zweite Bombe nicht. Er sagt jetzt, er ist an die 70, er sagte, am Ende meiner Laufbahn, nach allem, was ich jetzt gesehen habe, auch in russischen Archiven, muss ich sagen, keine der Bomben war notwendig.
    Kapern: Also zwei Kriegsverbrechen?
    Scherer: Das ist immer eine Vokabel, vor der alle zurückschrecken, einerseits. Auf der anderen Seite, selbst Truman hat hinterher mal in einem Brief geschrieben, Biowaffen waren geächtet, Chemiewaffen waren geächtet nach der Genfer Konvention. Natürlich waren Atomwaffen schlimmer. Wenn man definiert, was ein Kriegsverbrechen ist, nämlich ein geplanter massenhafter Mord oder ein Angriff auf die Zivilbevölkerung, dann muss man sagen, klar war das ein Kriegsverbrechen. Uns sagte die Chefin des Museums in Los Alamos, wo die Bombe gebaut wurde: Hätte Amerika nicht den Krieg gewonnen, natürlich würden Oppenheimer, Growes und auch Truman vermutlich der Kriegsverbrechen bezichtigt. Das war aber nicht mein wesentlicher Punkt. Die Geschichte ist mir wichtig, dass man jetzt, wo man noch mit Opfern reden kann, dass man ihre ganze Geschichte kennt, auch das, was sie erlebt haben. Und, wenn man an dieser Verklärung kratzen muss, dass man das nach 70 Jahren tut.
    Kapern: Trotzdem noch ein Blick auf die USA. Sie waren ja langjähriger Washington-Korrespondent – können Sie sich einen US-Präsidenten vorstellen, der den Amerikanern reinen Wein über den Einsatz dieser Bomben einschenkt?
    Scherer: Das steht nicht an der Spitze der Agenda. Und es ist auch nicht die offizielle amerikanische Art, sich zu entschuldigen. Zumal sich Japan auch nicht für Pearl Harbor entschuldigt hat. Ich bin kein Amerika-Hasser, ich bin vermutlich der Letzte hierzulande, der Obama für einen guten Präsidenten hält. Trotzdem ist der unverklärte Blick auf die Geschichte und das, was im Laufe dieser 70 Jahre zugedeckt wurde, notwendig. Und dieser 70. Jahrestag ist sicherlich ein guter Anlass dafür. Dass man in Nagasaki, die immer sehr, sehr geradeaus waren, die auch in Japan immer dazu gesagt haben, wir sind auch Opfer der eigenen Regierung gewesen, dass man da immer noch auf eine Geste, das muss ja keine Entschuldigung für ein Kriegsverbrechen sein, aber eine Geste, eine offizielle Geste eines Gastes aus Amerika wartet, das ist natürlich auch verständlich. Und das wäre natürlich wünschenswert, finde ich.
    Kapern: Der Kollege Klaus Scherer vom Norddeutschen Rundfunk, dessen Dokumentation über den Atombombenabwurf auf Nagasaki heute Abend um 23:45 in der ARD zu sehen sein wird, also, einschalten. Herr Scherer, vielen Dank, dass Sie heute Morgen Zeit für uns hatten!
    Scherer: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.