Archiv

70 Jahre Schuldbekenntnis der EKD
Zögerlicher Umgang mit der eigenen Nazi-Vergangenheit

Vor 70 Jahren legte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein Papier vor, das als Stuttgarter Schuldbekenntnis in die Kirchengeschichte eingegangen ist. Wenige Monate nach dem Kriegsende war es der Versuch, die eigene Rolle in der Nazizeit zu hinterfragen - das allerdings eher zögerlich.

Von Carsten Dippel |
    Eine Martin Luther Playmobil-Figur steht auf dem Rednerpult des Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bedford-Strohm, während seiner Rede im Mai 2015 bei der 12. EKD-Synode in Würzburg.
    EKD-Rednerpult: Lange tat sich auch die evangelische Kirche schwer mit der Aufarbeitung ihrer Rolle in der NS-Zeit. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Zunächst war sie überhaupt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, jene Erklärung, die die EKD im Oktober 1945 abgibt. "Helft uns, dann können wir Euch helfen" - unter diesem Motto hatte der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf der neugegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland die Hand ausgestreckt. Der Appell an die evangelischen Christen im Land der Täter: Ihr könnt Position beziehen. Ihr könnt ein Bekenntnis über die eigene Schuld ablegen. Dann können wir euch auch wieder aufnehmen in den Schoß der Ökumene.
    Es geht - so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - um das Selbstverständnis einer Kirche, die tief getroffen ist von ihrem eigenen Versagen im Nationalsozialismus. Wie weit dieses Schuldbekenntnis jedoch wirklich gehen soll, darüber wird intern heftig gestritten. Christian Staffa, Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Berlin:
    "Das Stuttgarter Schuldbekenntnis hat zwar irgendwie eine Schuldigkeit der Kirche benannt, aber in so einem Ton von: Wir haben nicht genug getan und wir haben vielleicht zu viel geschwiegen. Aber weniger in der Zielrichtung: Wir haben vielleicht zu viel vom Falschen getan. Das kommt überhaupt nicht vor."
    Ausschweigen über die eigene Rolle im Nationalsozialismus
    So lautet die zentrale Passage des Bekenntnisses, Zitat: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Auffällig ist das, was das Stuttgarter Bekenntnis dabei nicht formuliert: Es schweigt sich aus zur Rolle der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus, zum fatalen Irrweg der deutschen Christen wie auch zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Und insbesondere zum Judenmord.
    "Dass es so tut, als habe die Kirche mit dem Entstehen des Nationalsozialismus, hätte mit den antidemokratischen Bestrebungen schon in der Weimarer Republik gar nichts zu tun, geschweige denn, dass sie Adolf Hitler und den Nationalsozialismus wirklich mit wehenden Fahnen begrüßt haben. Das steht alles nicht drin. Sondern: Wir hätten mehr dagegen tun müsse. Und zwar gegen den Geist der Säkularität. Weder der Nationalismus noch der Nationalsozialismus kommen als Worte im Stuttgarter Schuldbekenntnis vor. Und damit klagen sie den Säkularismus an, den sie schon in der Weimarer Zeit und schon im Kaiserreich beklagt haben."
    Das Bild, das die Evangelische Kirche vor genau 70 Jahren von sich entwirft, passt gut in die Rechtfertigungsstrategie vieler Deutscher, die sich angesichts eines verlorenen Krieges, zerstörter Städte, von Flucht und Vertreibung selbst als Opfer sehen. Ein Bewusstsein für das eigene Versagen, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld ist nur bei wenigen vorhanden. Und so sieht sich auch die Evangelische Kirche mehr als Opfer.
    Kleine Schneise der Reflexion
    Der kirchliche Antijudaismus, der eigene Beitrag zum Aufstieg des Nationalsozialismus bis hin zur Judenverfolgung wird nicht reflektiert. Es sind allenfalls einzelne Stimmen, die sich kritisch äußern. Als Pastor Martin Niemöller, KZ-Überlebender, sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann das Papier öffentlich machen, schlägt ihnen von der Kirchenleitung unter Otto Dibelius heftiger Wind entgegen. Für Christian Staffa von der Evangelischen Akademie in Berlin hat das Stuttgarter Schuldbekenntnis bei aller Unzulänglichkeit dennoch eine wichtige Funktion gehabt:
    "Angesichts der Unbußfertigkeit insgesamt war das zumindest mal eine kleine Schneise, die ein wenig Reflektion ermöglicht hat. Und Heinemann und Niemöller sind damit wirklich durch die Gemeinden getingelt und haben versucht, darüber ins Gespräch zu kommen, was die Basis mit dieser Art Adressierung von Schuld anfangen kann."
    Die Evangelische Akademie in Berlin hat das Stuttgarter Schuldbekenntnis nun zum Anlass genommen, bei einer Tagung danach zu fragen, welche produktive Kraft Schuld entfalten kann:
    "Die produktive Kraft liegt nicht in der Schuld, sondern in unserer Fähigkeit, uns als freie Menschen mit der Schuld und unserer Prägung verantwortlich zu stellen. Nichtsdestominder können Schuldbekenntnisse, so vorläufig sie oft auch sind, in ihrer Form und Adressierung eine wichtige Rolle spielen in einem längeren Prozess der Heilung, der Konfrontation, gerade, weil vielleicht Leute nach einem Schuldbekenntnis spüren: ein Unbehagen empfinden, das ist noch nicht genug."
    Jörg Lüer, Leiter des Berliner Büros der Deutschen Kommission Justitia et Pax bei der Deutschen Bischofskonferenz, hat sich über viele Jahre mit der Aufarbeitung und den Folgen von Schuld auseinandergesetzt. So etwa in der Versöhnungsarbeit im vom Bürgerkrieg gezeichneten Bosnien-Herzegowina. Es gehe darum, Verkrümmungen aufzubrechen und einander zuzuhören.
    "Wenn ein Schuldbekenntnis zu allgemein wird, ist es am Ende des Tages nutzlos. Wenn wir über Schuld reden, müssen wir immer sehr konkret reden, wer wem was aufgrund welcher Umstände schuldet. Weil dann kann der kathartische Effekt wirklich eintreten."
    Weitere Schritte zur kritischen Aufarbeitung
    Für die Evangelische Kirche war es ein langer und beschwerlicher Weg aus dem Dickicht von Versagen und Verschweigen, der in Stuttgart seinen Anfang nahm. Erst allmählich und über viele Stationen wie die Synode von Weissensee 1950, die Gründung von Aktion Sühnezeichen 1958 oder den Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 führte dies zu einer wirklich kritischen Aufarbeitung.
    "Schuldbekenntnis taugt nur dann, wenn dem auch wirklich Taten folgen. Ansonsten ist es ein Entschuldungsversuch, sozusagen der Versuch, den Folgen der eigenen Schuld auszuweichen. Wenn ein Schuldbekenntnis gesprochen wird, wird die Adressatenseite natürlich immer fragen: Und, was folgt daraus? Ist das glaubwürdig oder macht ihr nur Worte? Und den Glaubwürdigkeitstest, den kann man nur bestehen, wenn dann konkretes Handeln folgt. Was das dann jeweils sein muss, sein kann, hängt von den realen Bedingungen, den realen Problemen ab, mit denen man es zu tun hat."