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70 Jahre SWR Vokalensemble
Ein Leuchtturm der Chorszene

1946 als Chor für das Radio Stuttgart gegründet, gehört das SWR Vokalensemble heute zu den Spitzenreitern der modernen und zeitgenössischen Chormusik. Besonders die zahlreichen Uraufführungen unterscheiden das Ensemble von anderern Chören.

Von Ines Stricker |
    Die Sängerinnen und Sänger des SWR Vokalensemble Stuttgart bilden die Buchstaben V E
    Feiert Jubiläum: das SWR Vokalensemble Stuttgart (SWR / Thomas Müller)
    Musik: Ligeti, Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin
    "Dieser Chor ist so diszipliniert und selbständig wie kein anderer, den ich kenne. Das heißt, die organisieren sich selbst, sie besetzen sich selbst, also natürlich nach Diskussionen mit mir, aber der Chor ist sehr unabhängig und hat eine sehr hohe Erwartung an sich selbst."
    … so Marcus Creed über das SWR Vokalensemble, das er seit gut 13 Jahren als Chefdirigent leitet.
    Musik: Ligeti, Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin
    Vor seiner Stuttgarter Zeit war Marcus Creed in Berlin Korrepetitor an der Deutschen Oper gewesen, anschließend lange Jahre künstlerischer Leiter des RIAS-Kammerchors. Eigentlich hatte Creed nicht mehr vorgehabt, mit einem festen Chor zu arbeiten. Aber dann übernahm er 2003 doch die Leitung des SWR-Vokalensembles, das er als Gastdirigent kennen und schätzen gelernt hatte.
    "Grund für meine Zusage, war, dass der Chor so wahnsinnig gut war und dass ein Großteil des Repertoires zeitgenössische Musik oder Musik aus der letzten Zeit beinhaltete. Für mich war sehr wichtig, dass ich immer noch am Ball bleiben und sehr viele neue Sachen machen konnte und nicht immer traditionelle Chormusik wiederholen musste."
    Zusammenarbeit mit Komponisten
    Die eigenverantwortliche Arbeitsweise, die Marcus Creed dem SWR Vokalensemble bescheinigt, rührt aus der jahrzehntelangen Uraufführungspraxis und ständigen Zusammenarbeit mit Komponisten. Sopranistin Eva-Maria Schappé etwa hat in fast 25 Jahren SWR-Vokalensemble Erfahrung gesammelt mit mikrotonalen Klangflächen, eher geräuschhaft als gesanglich angelegten Chorsätzen und der jeweiligen spezifischen graphischen und klanglichen Handschrift:
    "Die Komponisten werden auch oft gebeten – das haben wir jetzt auch eingeführt –, wenn Zeit ist, mal zu uns in die Probe zu kommen. Die kriegen auch Aufnahmen von uns gegeben, um unseren Klang zu hören; zu hören, zu was wir fähig sind, und dann angeregt werden, was zu schreiben."
    Musik: Kurtág, Omaggio a Luigi Nono op. 16
    Für das Auftaktkonzert zur Jubiläumssaison am kommenden Samstag bereitet das SWR Vokalensemble a-cappella-Werke vor, die es als Meilensteine der letzten Jahrzehnte empfindet: György Kurtágs "Omaggio a Luigi Nono" mit clusterhaft aufgespalteten Klangflächen und langen Fermaten oder die sechzehnstimmigen "Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin" von György Ligeti, beide aus den frühen 80er Jahren, Heinz Holligers ebenfalls sechzehnstimmige "Jahreszeiten" oder den achtstimmigen Satz "Sarà dolce tacere" von Luigi Nono aus dem Jahr 1960, in dem der Text minutiös in seine Bestandteile aufgegliedert wird.
    Auf den ersten Blick fallen inhaltliche Zusammenhänge auf wie die Verwendung von Hölderlin-Texten bei Holliger und Ligeti oder die kompositorische Beziehung zwischen Kurtàg und Nono. Aber das habe, erzählt Marcus Creed, nicht den Ausschlag für die Werkauswahl gegeben. Vielmehr handele es sich hier um gute alte Bekannte.
    "Unser Wunsch war mit der Programmgestaltung eigentlich: die besten und die beliebtesten Stücke, die wir in der letzten Zeit gemacht haben, und von Komponisten, mit denen wir eine große Verbundenheit haben. Holliger ist seit Dekaden beim SWR Vokalensemble, mit Ligeti hab ich sehr viel in Berlin gemacht, mit Kurtág zusammen haben wir eine ganze CD gemacht. Nono kannte ich nicht, aber dieses kleine Stück für acht Stimmen ist eins meiner Lieblingsstücke, auch, glaub ich, im Chor…"
    Musik: Nono, Sarà dolce tacere
    Hinzu kommt am Samstag außerdem als Ergebnis eines relativ aktuellen SWR-Kompositionsauftrags "Poema de balcones" des tschechischen Komponisten Martin Smolka aus dem Jahr 2008.
    "Von Martin Smolka haben wir eine CD, die ist grade jetzt rausgekommen, hat den Deutschen Schallplattenpreis gewonnen. Und von den drei Stücken auf der CD sind zwei Uraufführungen von uns, wieder in seiner Anwesenheit."
    Musik: Smolka, Poema de balcones
    "Wir erzeugen Klangwellen, und in dieser Klangwelle kommt plötzlich wieder eine Solostimme hervor. Und das zeichnet uns ja auch aus, dass wir in der Lage sein müssen, einen komplexen Klang darstellen zu können, dann aber plötzlich als Einzelstimme ganz prägnant ein Glanzlicht zu setzen, und alle anderen müssen bereit sein, dich da zu begleiten."
    Arbeit mit dem Nachwuchs
    Neben seiner Arbeit am Repertoire, an Uraufführungen und Aufnahmen betreibt das SWR Vokalensemble auch Nachwuchspflege. Kinderkonzerte und die Zusammenarbeit mit Schulen, wo Kinder an das Singen herangeführt werden, haben schon Tradition. Dazu kommt in den letzten Jahren die Betreuung von Patenchören aus der Region. Und seit 2013 gibt es außerdem die SWR-Vokalensemble-Chorakademie an der Stuttgarter Musikhochschule. Hier sollen junge Sängerinnen und Sänger das Chorsingen als berufliche Perspektive kennenlernen.
    Das SWR-Vokalensemble sieht dabei – ganz selbstbewusst – seine Aufgabe durchaus als Zugpferd der Chorszene, so Sopranistin Eva-Maria Schappé.
    "Das Hauptaugenmerk liegt auf der Neuen Musik, Neues zu erschaffen, Forschungslabor zu sein, Neue Musik-Geschichte, Chormusikgeschichte zu schreiben. Aber wir möchten Vorbild sein für die ganze Chorlandschaft draußen."