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700 Kilometer Kanäle

Zwischen den französischen Orten Niort und La Rochelle bilden Hunderte Kilometer Kanäle ein enges Wasserstraßen-Netz. Bei einer Tour mit dem Kahn stößt man auf Spuren vom Mönch und Dichter François Rabelais und dem Schriftsteller George Simenon.

Von Franz Nussbaum | 27.10.2013
    Wir sitzen in einem der hier so typischen etwa vier Meter langen flachen Kähne, breit gebaut und bewegen uns auf einem einem grünen Flüsschen oder ist es ein Kanal. Grüner kann Landschaft kaum sein. Die drei bis vier Meter schmalen Kanäle liegen unter einem fast geschlossenen Dach aus Ästen und Blättern. Und die Sonnenstrahlen spielen mit uns durch das Astwerk ein neckisches Blinzelspiel. Zeit scheint hier in träger Gemächlichkeit keine Rolle zu spielen.

    Und Junior Akawako, ein Name mit afrikanischen Wurzeln, stakt oder sticht uns mit seinen kräftigen Armen und mit einem langen Stecken durch das Kanalnetz des Venise verte. Ein grünes Venedig, ohne Markusplatz, ohne Seufzerbrücke, aber mit vielen kleinen Brücken, unter denen man tunlich im Kahn den Kopf einziehen muss.

    "Das Marais Poitevin ist ungefähr 35 mal 30 Kilometer groß. Es beginnt kurz hinter Niort und weitet sich dann zum Atlantik. Früher reichte das Meer sogar bis Niort, es war im Mittelalter eine Hafenstadt. Man sagt, der Atlantik hat sich vor rund 1000 Jahren zurückgezogen. Der Schlamm hat sich abgesetzt und der Grund des Meeres soll sich etwas angehoben haben. Und so entstand ein Sumpf. Der ist dann trocken gelegen worden. Unter Anleitung von Mönchen aus den Niederlanden entstand ein Netz tausender Kanäle. Die Mönche waren auf Kanälebau spezialisiert."

    Wenn man das Marais Poitevin mit dem Spreewald vergleicht, dann fehlen hier die Gurken als Markenzeichen. Es gibt hier natürlich auch Gemüse, Tomaten, viele Blumen. Und ein deutscher Kameramann, der seit Tagen die Kanallandschaft abfährt und "abdreht", schreibt in seinem Textentwurf.

    Drüben bilden sich ein paar Wasserkringel. Ein Fisch? Fragezeichen. Ein Fisch, der seine Nase mal aus dem naturtrüben Wasser raus hält? Die Kringel vergrößern sich, laufen nun aus. Es bleibt nur die Ruhe. Oder ist mein Fluss gar nicht die Sèvre, ist das hier nur ein Stichkanal? Ein anderer Kanal mündet drüben, 50 Meter entfernt ein. Ein Labyrinth von Wasserstraßen. Nun erfasse ich mit der Kamera große Seerosenblätter. Die Blätter und die Blüten auf dem Wasser laden die Libellen zu einer Zwischenlandung ein. Sie inspizieren die Plattform und die Blüten. Libellen sind flugtechnisch das Fantastischste, was Mutter Natur bei der Erschaffung der Welt eingekauft hat. Einige Libellen kommen uns ganz nah und winken so menschlich in die Linse wie Politiker im Wahlkampf.

    Kühe übers Wasser transportieren
    Impressionen eines professionellen Bildermachers. Die Kanäle sind hier das Verkehrssystem. Über die sollen im März die Bauern auch mit den flachen Kähnen ihre Kühe auf die satten Weiden fahren und die bleiben dann bis Ende Herbst draußen. Wir sehen Männer mit der Angel mit der sprichwörtlichen Gauloises im Hals. Und unser Bildermann schreibt:

    Das Wasser spricht mit einem, heißt es. Ob Angler auch mit dem Wasser sprechen? Was denken sie, wenn sie stundenlang mit ihren hohen Gummihosen im Wasser stehen und ihre Angelschnur baden? Denken sie über die Fußballübertragung von gestern? Über die Liebe vor Jahren? Oder denken Angler … nichts? Kann man den Verstand, jene Maschine, die unserer Fantasie antreibt, einfach abschalten?

    Ein leichtes Kräuseln, eine winzige Brise haucht über das Wasser. Ein Junge hat mir aufgebunden, Seerosenblätter sollen so stabil auf dem Wasser liegen, dass man ein volles Portemonnaie darauf legen kann. Sind Seerosenblätter wirklich ein sicheres Euro-Depot? Und wenn mein Geld trotzdem absäuft? Oder tauchen dann die Jungs am Abend bei den Seerosen und teilen sich den Zaster. Wie das auch die Bänker machen, wenn man sein Geld falsch an- oder abgelegt hat. Drüben hocken Kinder auf den Steinstufen zum Kanal. Es erinnert mich an meine Oma, die uns Kinder immer ermahnte, man soll sich nicht auf einen kalten Stein setzten. Da kommt mir auch die Erinnerung an die armen Frösche, die wir Kinder gefangen haben. Und hier stelle ich das Weiterdenken ab.


    Heute hat die Lobby der Frösche sogar erreicht, dass die grünen Hüpfer auf dem Weg zu ihrer Hochzeit von Menschen behutsam über die Straße getragen werden. Frösche haben glücklicherweise als Spielzeug ausgedient, weil nun die Kinder Smartphone haben.

    Eine Barke mit älteren Sonntagsspazierfahrern nähert sich. Ein junger Bursche stakt den voll besetzten Kahn. Unter ihm hocken die älteren Leute, stumm, Rücken an Rücken auf zwei langen Bankreihen. Die Gondoliere von Venise verte sollen Schüler aus den Dörfchen sein, die sich am Wochenende gerne ein gutes Sonntagsgeld mit den Sonntagsspazierfahrten der Touristen verdienen. In zehn Minuten werden seine Senioren nach einstündiger Rundfahrt aussteigen. Dann wird er sie wahrscheinlich sehr freundlich annicken und ihnen mit einem strahlenden Lächeln einen schönen Tag wünschen. Und dann bekommt er vielleicht ein gutes Trinkgeld.

    Bei einer guten Tour ist das Trinkgeld mehr als das Honorar, das er vom Touristen-Komitee bekommt. Das Steuern mit dem Kahn ist erst mit 17 Jahren erlaubt. Und jeder muss vorher eine Prüfung machen. Es könnte ja auch ein Passagier unterwegs einen Herznotstand bekommen.

    Georges Simenon an Bord
    "Herznotstand" ist ein gutes Stichwort. Denn in unserem Kahn sitzt auch - imaginär - der Schriftsteller Georges Simenon. Durch diese Kanäle tuckert 1928 der Erfinder des Kommissars Maigret mit seinem kleinen Hausboot. Wir lesen über ihn:

    Simenon ist 25 Jahre jung, eine lebende Schreibfabrik oder eine Schreibmaschine auf zwei Beinen, die immerfort produziert, wenn er nicht gerade den hübschen Beinen einer Frau nachträumt. Er schreibt einen seiner insgesamt 75 "Maigrets" so, dass er hier zwischen den Kanälen und in Niort ermittelt.

    Ich habe hier die Kopie einer Seite 182 dabei. Direkt in die Maschine getippt, auch vertippt, Korrekturen per Hand da rüber gekritzelt. Er haut ein solches Manuskript in wenigen Tagen runter. Simenon beschäftigt damals auch eine stürmische Liaison mit der jungen Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, die mit ihrem freizügigen Bananenröckchen die Tingel-Tangel-Welt verrückt macht. Und es bedarf nicht allzu viel Fantasie, sich eine wilde Romanze mit der lasziven Baker auszumalen, die schwarze Venus des George Simenon.

    Er kuriert seine "Leiden des jungen Simenon" mit Romanentwürfen und in einer romantischen Novelle. Schmerzlich und tief sitzen die Vernarbungen, die zur Leidenschaft dazu gehören. Und er beschreibt darin auch eine ungestüme Liebschaft zwischen einem einheimischen Fischer und einem blutjungen Mädchen.

    Und Spötter sagen, Simenon habe seiner Josefine Baker beim schmerzhaften Abschied ein Kilo Bananen für ein neues Röckchen geschenkt. Mit dem Stichwort "Spötter" sprechen wir einen weiteren imaginären Sonntagsspazierfahrer unserer Kahnpartie an. Es ist der etwa 35-jährige Mönch François Rabelais, um 1490 geboren. Und ein adeliger Abt-Bischof hier aus einem der vielen Klöster, hier aus dem armen Marais Pointevin, nimmt Rabelais für eine Weile in die Abgeschiedenheit des Marais gastlich auf.

    Spuren von Rabelais
    Über wenn mokiert sich damals der Dichter und sprichwörtliche Spötter Rabelais? Über den Adel, den Klerus, also seinesgleichen? Der Romanist und Rabelais-Übersetzer Dr. Wolf Steinsieck:

    Wolf Steinsieck: Er hat über die Mönchsorden, die er nun gar nicht leiden konnte, so wie sie sich damals darstellten gespottet. Er hat über die Juristen gespottet, hat über die Mediziner gespottet, er hat über die Sorbonne gespottet und ihre scholastische Ausrichtung.

    Franz Nussbaum: Die ihn ja später auch auf den Index gesetzt hat, also seine Bücher verboten hat.

    Steinsieck: Ich meine, Rabelais hat es ja geschafft seine kritischen Werke so intelligent zu verfassen, dass ihm das Schicksal des Verbranntwerdens erspart worden ist. Er kannte ja nun auch Leute, über die er auch geschrieben hat, die als Lehrer für Studenten arbeiteten und dann verbrannt worden sind, weil sie eben nicht konform Ideologisches
    von sich gegeben haben.
    Nussbaum: Wenn der Mönch Rabelais als Insider spottet über Kirche, Klöster und 800 Kilometer von ihm entfernt ein gewisser Martin Luther zur gleichen Zeit in Wittenberg überlegt, ob er seine Thesen da anschlägt oder da, da ist der doch nicht all zu weit von Luther entfernt gewesen. Auch weil er Humanist war?

    Steinsieck: Die Neuigkeiten über Martin Luther sind selbstverständlich auch nach Frankreich gedrungen. Rabelais großes Vorbild war ja Erasmus von Rotterdam.
    Nussbaum: Er war ja hier auch von einem Protegé.

    Steinsieck: Ja ob er hier auf den Sümpfen im Kahn gefahren ist … aber er war hier in der Nähe. Er war im Kloster von Maillezais, weil, wie Sie richtig sagen, sein Protektor, sein Schutzherr der Geoffroy d'Estissac war, ein Erzbischof, ein sehr humanistisch gebildeter Mann dieser Erzbischof.

    Und er hatte ihm gestattet, in einem seiner Klöster zu arbeiten. Was aber Rabelais nicht davon abgehalten hat, das Kloster zu verlassen und sich als Weltpriester in die Gesellschaft einzubringen. Er hat dann auch noch Medizin studiert, hat dann später in Montpellier auch Vorlesungen gehalten. Sie können heute noch in Montpellier den Stuhl von Rabelais bewundern in der Medizinischen Fakultät. Er ist rund ein Universalgenie. Es fehlen eben nur die künstlerischen Hinterlassenschaften wie Leonardo da Vinci sie hinterlassen hat. Aber rein schriftlich hat Rabelais dies hinterlassen, denn er kennt sich auf allen Gebieten bestens aus.

    Nussbaum: Und jetzt kommen wir auf die Bücher. Herr Dr. Steinsieck, Sie haben einen möglicherweise vier oder fünfbändigen Weltbestseller von Rabelais 500 Jahre später in die heutige Denke übersetzt.

    Steinsieck: Das kann man so sagen. Das, was in Rabelais beiden berühmtesten Werken Gargantua und Pandagruel an intellektuellem Inhalt ist, in die heutige Zeit hinein zu versetzten. Deswegen sind in diesem Buch auch 2.500 Anmerkungen. Die muss man nicht alle lesen. Aber wenn man eine bestimmte Stelle erklärt haben möchte und worin beispielsweise auch der Wortwitz besteht, dann kann man das alles hinten nachsehen.

    Rabelais selber ist gar nicht der große Genießer, der so gerne isst und so gerne trinkt, sondern es sind seine Gestalten in den Romanen. Es geht natürlich auch um die geistige Nahrungsaufnahme. Und die Leute, die also besonders durstig sind und besonders hungrig sind, die sind auch besonders wissenshungrig, wie wir ja im Deutschen sagen. Und mit seinem Werk und mit seiner allumfassenden Bildung hat er diese Messsage, hätte ich beinahe gesagt ... aus den Zeiten der Renaissance und des Humanismus über die Jahrhunderte in die Gegenwart katapultiert.

    Nussbaum: So kann man auch auf einem Kahn mit wenig Tiefgang ein Sonntagsspazierfahrt-Gespräch mit etwas Tiefe führen. Und nun schauen wir wieder vom Kahn aus unserem Kamerabeobachter durch den Sucher.

    Eine südamerikanische Biberart, die hierher übergesiedelt ist, hat im Familienbetrieb einen Baum umgelegt. Etwas weiter kommt ein weiß getünchtes Haus in unser Blickfeld. Das einstöckige Häuschen steht in einem halb verwilderten Blumengärtlein. Die Dachbalken haben sich unter der Last der roten Dachziegel so durchgebogen, wie alte Leute mit krummen Rücken aussehen. Draußen steht ein kleiner Tisch, ein paar Stühle und die Reste eines späten Frühstücks im Grünen. Und gleich, meint man, müssen doch Maler wie Renoir oder Monet mit einem kleinen Kästchen Aquarellfarben um die Ecke biegen und mit einem Bild die Idylle einfangen. Das unerhört leuchtende Rot von Klatschmohn, das intensive Blau von Kornblumen, am Haus die Rosenstöcke. Vor dem Haus am Kanal liegt ein abgesoffenes Boot im Wasser. Wer hier nicht ganz dicht ist, den holt sich das Moor, sagt ein mehrdeutiges Sprichwort. Daneben eine große saftige, ungemähte Wiese. Die Gräser wetteifern um den Platz an der Sonne. Und nächste Woche wird vielleicht den Kühen das Gatter zu dieser Frühstückswiese geöffnet.

    Vom Meer getrennt
    Dann habe ich eben auch gesehen, dass Kühe von den Wiesen und satten Weiden aus dem Kanal saufen. Also ist das hier wohl kein salziges Wasser?

    "Durch ein System von Schleusen ist das Marais Poitevin vom Meer abgetrennt. Die Klöster und die Mönche wollten ja diese kanalisierten Landschaften kultivieren und nutzbar machen."

    Nun kommt wieder ein seitlicher Kanal, von Laubbäumen und Trauerweiden wie ein Dach überwachsen. Worüber trauern Trauerweiden? Und nun reichlich Goldregen. All diese Farben spiegeln sich auch im Wasser. Es ist ja das Wasser, das unaufhörlich mit uns spricht. Aber viele, die hierher kommen, sind schon taub vom Gedröhne der großen lauten Welt.

    Oder blinzelt da drüben nicht François Rabelais um die Ecke, auf der Suche vielleicht nach dem Kommissar Maigret? Bonsoir, Herr Kommissar. In den Sümpfen des Poitevin ist viel los. Man muss nur den richtigen Durchblick mitbringen. Und drüben sucht ein Maler mit einem eigenen Boot eine Stelle aus, wo er ein Bild malen kann. Ein Bild von dieser ruhigen Landschaft, abseits aufdringlicher Geräusche und Rhythmen.