Archiv


700 Millionen Liter

Umwelt. - 84 Tage lang ergoss sich Öl aus dem Macondo-Feld in den Golf von Mexiko. Erst am 15. Juli konnte das beim Untergang der "Deepwater Horizon" gerissene Leck gestopft werden. Jetzt legen US-Forscher erstmals eine Abschätzung der Ölmenge vor: Sie kommen in der aktuellen "Science" auf rekordverdächtige 700 Millionen Liter.

Von Volker Mrasek |
    50 Sekunden Video-Aufnahmen der sprudelnden Öl-Fontäne in HD-Qualität, aufgenommen von Kameras an Bord von Tauch-Robotern. Das ist das Material, das den Forschern der Columbia University zur Verfügung stand. Mehr rückten Regierungsstellen und der Öl-Konzern BP bisher nicht heraus. Timothy Crone erhielt die hochaufgelösten Filmsequenzen aus dem Umweltkomitee des US-Senats. Die 50 Sekunden genügten dem Geophysiker, um einigermaßen zuverlässig abzuschätzen, wie viel Öl zwischen April und Juni insgesamt in den Golf von Mexiko floss:

    "Rund 4,4 Millionen Barrel Öl sind nach unserer Analyse ausgelaufen, wenn man den Anteil abzieht, den BP aufgesammelt hat. Wir betrachten das als vorläufige Schätzung, da sie sich nur auf kurze Videosequenzen stützt. Stünden uns mehr Aufnahmen zur Verfügung, könnten wir die Ölfluss-Raten auch noch genauer bestimmen."

    4,4 Millionen Barrel Öl – das sind rund 700 Millionen Liter. So viel ist noch nie bei einem Öl-Unglück ins Meer gelaufen. Nicht 1989, als der Tanker "Exxon Valdez" auf ein Riff vor Alaska lief. Da war es vermutlich nur ein Zehntel der jetzigen Menge. Und auch nicht 1979, als im Golf von Mexiko schon einmal eine Explorationsbohrung schieflief, bei dem Projekt Ixtoc I auf mexikanischer Seite. Da dürften es drei Viertel gewesen sein. Crone:

    "Das Ixtoc-Desaster spielte sich in ziemlich flachem Wasser ab. Und die Exxon Valdez verunglückte ja an der Oberfläche. Diesmal haben wir einen Öl-Austritt in 1500 Metern Tiefe. Ich weiß nicht, ob es jemals zuvor eine Freisetzung von diesem Ausmaß so weit unten im Meer gegeben hat. Wir haben hier ein unfreiwilliges Experiment in der Tiefsee gestartet."

    Übertroffen wird dieses Experiment nur noch vom Golfkrieg 1991. Damals pumpte der Irak noch größere Öl-Mengen aus Förderfeldern in Kuwait ins Meer. Seine Messmethode hat Timothy Crone ursprünglich entwickelt, um hydrothermale Quellen in der Tiefsee zu untersuchen. Aus ihren Schloten strömt heißes, mineralreiches Wasser. Optisch ähneln diese emporschießenden Sedimentwolken sehr stark der Fontäne aus dem defekten Bohrloch. So war es möglich, das visuelle Analyseverfahren nun auch im Fall des Öl-Unglücks anzuwenden:

    "Wir bestimmen mit dieser Methode die Geschwindigkeit von Objekten in einer Videosequenz. Dazu wählen wir gut erkennbare Strukturen in diesen Strömungswolken aus und verfolgen sie Bild für Bild. So erfahren wir, wie schnell das Öl ins Meer schießt. Wenn man dann noch die Austrittsfläche kennt, in diesem Fall den Durchmesser des Steigrohrs über dem Bohrloch, kann man auch die Öl-Menge ableiten."

    Zum Teil musste sich der Geowissenschaftler auf Daten des BP-Konzerns verlassen. Zum Beispiel bei der Frage, wie viel Öl die Fontäne am Meeresgrund überhaupt enthielt, neben Gas und Wasser. Abgesehen davon liegt aber nun die erste unabhängige Schätzung zum Ausmaß des Unglücks vor, wie Crone sagt. Die Unsicherheiten gibt der Forscher mit 20 Prozent an. Auch deshalb, weil er nicht ausschließen kann, dass der Öl-Austritt schwankte. Er könnte zeitweilig etwas stärker oder schwächer gewesen sein als in den Videosequenzen. Auf jeden Fall widerlegt ist aber nun die Mär von einem Bagatellfall im Golf von Mexiko. Diesen Eindruck hatten BP und die US-Regierung lange erweckt.