Freitag, 19. April 2024

Archiv

75 Jahre Kreisauer Kreis (Teil 3)
"Eine religiöse und eine politische Botschaft für uns"

Bereits vor 75 Jahren bewiesen die Mitglieder des Kreisauer Widerstandkreises, wie wichtig gesellschaftlicher und religiöser Pluralismus ist. Das Erbe dieser politischen Bewegung sei es, diesen Pluralismus als "wunderbare Chance" zu sehen, sagte der Theologie-Historiker Matthias Kroeger im DLF.

Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 19.02.2015
    Holzkreuz in einer Kirche
    Theologie-Historiker Matthias Kroeger: "Religiöser Plurarlismus ist eine "wunderbare Bereicherung und Chance" (AFP/Olivier Morrin)
    Rüdiger Achenbach: Herr Kroeger, worin besteht denn nun aus Ihrer Sicht das Erbe des Kreisauer Kreises für uns heute? Sie sehen in Ihrem Buch ja durchaus so etwas wie eine religiöse Botschaft für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen heute.
    Matthias Kroeger: Also ich sehe beides: eine religiöse und eine politische Botschaft. Die Kreisauer leiten einen an, eine Tiefenschärfe des Blicks und der Frage zu haben. Nämlich nicht zu fragen, wie geht es Deutschland und wie glücklich und zufrieden sind wir, sondern dem Sumpf des Glückes nicht zu erliegen, sondern in die Wurzeln der Phänomene zu schauen und zu fragen, was ist denn im Kern der Sache los. Und diesen Blick, den - glaube ich - können wir uns erben lassen von den Kreisauern und heute fragen, was ist denn heute los.
    Es gibt eine Szene in Moltkes Prozess vor dem Volksgerichtshof, die mich sehr beeindruckt hat. Das schreibt Moltke an seine Frau, was der Gefängnisseelsorger durch die Kontrollen geschmuggelt hat: Freisler, der Vorsitzender des Volksgerichtshofes, hat alle anderen angeschrien und gedemütigt und ich habe ihm eiskalt in die Augen geschaut und habe ihn angelächelt. Ich bin der Einzige, den er nicht angeschrien hat, mich hat er ernst genommen. Man muss der Dämonie in die Augen schauen. Diesen Ausdruck habe ich von Moltke gelernt und frage mich, was ist die Dämonie, in deren Auge wir heute schauen müssen.
    Da würde ich zunächst einmal sagen, die Dämonie, der wir ins Auge schauen müssen, ist die, dass unsere Gesellschaft immer mehr dazu neigt - ich nenne jetzt mal einen älteren Ausdruck, der Eindimensionalität sich anzuvertrauen und die geistlichen Dimension von Menschsein vollkommen auszublenden. Das ist eine sehr starke Tendenz, die im Moment durch unser Land geht. Religion wird als eine Privatsache zurückgeschoben und gilt nicht mehr.
    Stattdessen dominieren wirtschaftlichen Kategorien. Und ich glaube, dass langsam wieder in die Öffentlichkeit, das heißt in die Gesellschaft religiöse und spirituelle Fragen zu bringen die Politik auch verändern wird. Dabei muss man sich Folgendes klar machen. Völlig zu Recht haben wir die Staatskirchen-Trennung und der Staat muss in dieser Frage religionsneutral sein, der darf sich in diese Frage nicht einmischen.
    Es genügt nicht, "moralisch anständig zu sein"
    Achenbach: Sie gehen generell von einer Religiosität aus, die vorhanden ist.
    Kroeger: Also, ich würde lieber erst einmal so sagen - ich komme gleich auf Ihre Frage. Das ist eine mir ganz wichtige Erkenntnis älterer Art, aber im Kirchenkampf bei Moltke und Yorck wieder aufgeblüht.
    Wenn man den menschlichen und politischen Problemen gegenübertreten will, dann genügt es nicht, moralisch anständig zu sein. Das ist eine Ebene, die ist wichtig, aber sie reicht nicht bis in die Wurzeln des Menschseins. Und die ist mit einzubeziehen in die Frage, was muss heute gesellschaftlich passieren. Wer sagt Religion ist für mich eine abgetane Kategorie, denn die ist institutionell und missbraucht und korrumpiert, dann sage ich dann, schaue in die Existenzialität des Menschseins. So hat Paul Tillich das genannt. Existenzialität ist der Grundbegriff. Wer möchte, kann das religiös oder auch spirituell variieren den Begriff.
    Da genügt Ethik nicht, sondern wir haben es mit Wurzeln zu tun, aus denen unser Leben aufsteigt. Die sind tiefer als Bewusstsein. Denken Sie an den Satz von Siegmund Freud das vom Ende des Herrn im Hause Standpunktes. Herr im Hause heißt, ich kann in meinem Leib und meinem Geist machen, was ich will. Und seit wir wissen, dass wir ein Unbewusstes in uns haben und dass eine Triebstruktur in uns drin sitzt, wissen wir, dass wir nicht alles in unserem Leben und Leibe und Geist zu können, was wir wollen. Wir müssen eins werden mit den Kräften der Tiefe.
    "In der Tiefe der Wurzeln findet Identität und Identifizierung statt"
    Achenbach: Das heißt, wir müssen an dieser Stelle verstehen lernen, dass Religion, Religiosität oder nennen wir es Spiritualität, Existenzialität offen für dieses alles, nicht überwindbar und nicht ausgeblendet werden kann.
    Kroeger: Und zwar, weil in der Tiefe der Wurzeln findet Identität und Identifizierung statt. Das ist das eine. Wenn Menschen anwachsen zu irgendetwas - das können sie, müssen sie auch selbst bestimmen, was die Inhalte dessen sind, was sie für geboten erachten. Aber wenn ein Mensch weiß, ja - ich kann nicht beliebig tun, was ich möchte, sondern es ist mir ein Gebot, eine Grenze gesetzt. Welche musst du verantworten, Mensch? Dann ist das in der Tiefe der Existenz verankert. Das kann man jetzt religiös nennen oder auch nicht.
    Achenbach: Kann es auch Gewissen heißen?
    Kroeger: Absolut.
    Achenbach: Höchste innere Instanz.
    Kroeger: Höchste und tiefste innere Instanz, würde Tillich sagen, richtig. Genau. Und da kommt ein Zweites dazu an dieser Stelle. Es gibt einen Brief von Moltke im Jahre '42, wo er sagt, es beginnen die Menschen langsam zu begreifen, dass das, was hier geschieht, nicht nur das Schlimmes ist, sondern das es Schuld ist. Diese Einsicht ist etwas genuin Geistliches.
    Ob man das christlich nennt oder nicht, ist egal, denn wir können heute sowieso nicht sagen, wir müssen Christen sein, wir können nur sagen, wir müssen spirituell sein - auf welche Weise auch immer religiös. Aber der Impuls der Kreisauer heißt, Leute schaut nicht nur auf die ethische und rationale Ebene von Menschsein und Gesellschaft, sondern auf die Wurzeln von Identität und Recht und Unrecht.
    "Wir können von den asiatischen Religionen Dinge lernen, die wir bei uns noch nicht beheimatet haben"
    Achenbach: Führt das dann auch zu einer Neugestaltung oder besser verstandenen Religion?
    Kroeger: Absolut. Das ist damals natürlich nicht die Frage gewesen, aber heute ist sie das. Erstens weil ein religiöser Dialog uns anleitet, voneinander zu lernen. Es gibt viele Ebenen des interreligiösen Dialogs und nicht alle werden immer erreicht. Aber ich gehe mal von der Behauptung aus, es gibt im Christentum Einsichten, die sind einzigartig in der Religionsgeschichte der Menschheit. Aber es gibt in anderen Religionen auch Einsichten, die wir Christen und abrahamitischen Religionen nicht haben.
    Wir können von den asiatischen Religionen Dinge lernen, die wir bei uns noch nicht beheimatet haben. Deswegen ist das gemeinsame Lernen interreligiös - im Unterschied zu der Kreisauer Situation - heute so essenziell. Deswegen gebührt es uns nicht, Vorschriften zu machen, Religion so oder so zu verstehen. Das ist eine Frage des interreligiösen Austausches und der gegenseitigen Bereicherung.
    Religiöser Plurarlismus ist eine "wunderbare Bereicherung und Chance"
    Achenbach: Das bedeutet Anerkennung des religiösen Pluralismus.
    Kroeger: Absolut. Bedingungslos. Denn es ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine wunderbare Bereicherung und Chance. Schauen Sie, in dem Moment, wo die Traditionen und die gültigen Linien, auf denen Religion läuft, zusammenbrechen, ist die Ermutigung von Menschen, finde selber heraus, was du glaubst. Es gibt viele gültige Angebote. Es ist nicht wahr, dass die Christen das einzige religiöse Angebot in der Welt für gültigen Gottesglauben für Leben und Sterben haben.
    Schau selber, was für dich stimmt. Das nennt man heute Patchwork - spöttisch. Aber wo wird denn eigentlich gespottet, wenn zwei Menschen sich kennenlernen und sie lernen voneinander. Da sagt man, ja auch nicht - ah - eine Patchwork-Ehe. Nein, wir lernen voneinander und das ist gültig, hilfreich und gut. Das ist eine Kategorie, die die Kreisauer noch nicht hatten.
    "Das ist eine Ermutigung, die heißt, nimm dein Leben selbst in die Hand"
    Achenbach: Das setzt aber auch das fundamentale Recht auf religiöse Autonomie voraus.
    Kroeger: Absolut. Das ist eine Ermutigung, die heißt, nimm dein Leben selbst in die Hand - oder wenn ich mich mit Kant ausdrücke - habe den Mut, dich deiner eigenen Seele zu bedienen und finde heraus, was du glauben möchtest.
    Achenbach: Aber das, was wir gerade formuliert haben, wird ja von vielen Vertretern aus den Kirchen heraus als Relativismus bezeichnet.
    Kroeger: Das muss einen nicht schrecken, weil, wenn man eine Kirche verwaltet, dann achtet man natürlich auf die Bewachung des Schatzes, den eine Kirche darstellt.
    Die Institutionenvertreter, die müssen so reden. Aber sogar 90 Prozent der Mitglieder der christlichen Kirche sind heute sogenannte Distanzierte. Das heißt, sie gehören den Kirchen an, aber sie leben nicht in den Kirchen, sondern auf dem Markt zwischen den religiösen Institutionen. Und wer dort lebt, der weiß, dass von allen diesen Institutionen zu lernen und zu gewinnen ist.
    Das ist kein Relativismus, sondern das ist im Zusammenbruch der Traditionen eine große Freiheit, die uns angeboten wird. Was uns nicht blind machen soll im Blick auf bestimmte Probleme, zum Beispiel, die wir hier im Lande mit dem Islam haben.
    Achenbach: Und diese Menschen leben natürlich auch eine berechtigte Subjektivität ihrer Gottesbilder.
    Kroeger: Beides - eine berechtigte Suggestivität und einen begreiflichen Zusammenbruch der Gottesbilder. Es lebt ja beides bei uns. Die eine Gruppe empfindet den Zusammenbruch schmerzhaft und sagt, unsere ganzen Gewissheiten gehen hinüber. Und die anderen erleben freudig die Freigabe und sagen, ah - jetzt können wir überlegen, wie sieht es denn aus, was überzeugt mich, jetzt werden wir auf einmal animiert zu sagen, was uns überzeugt und nicht zu sagen, was die Kirchen nun gerade sagen.
    Ich würde da in einer plastischen Formulierung vorschlagen. Mir hat neulich eine Frau gesagt: Wissen Sie, wenn ich in die Kirche gehe, dann habe ich immer das Gefühl, ich bin mit dem, was mir wichtig ist, nicht willkommen. Deswegen gehe ich immer am liebsten in Beerdigungen. Da herrscht so eine akzeptierende Atmosphäre. Wenn es in den Kirchen auch nur ein bisschen so wäre, das der Eigenwille der Menschen in den Kirchen nicht respektiert wird, weil sie immer nur predigen, was gültig ist, dann muss man verstehen, warum Leute sagen, die Kirchen sind nicht der Ort meiner Gottessuche.
    Achenbach: Sie kennen die religiöse Autonomie nicht an.
    Kroeger: Und die Aporie, in der Menschen sind. Die können die christlichen Formen von klassischem Glauben nicht mehr nachvollziehen und das zu Recht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.