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8.4.1904 - Vor 100 Jahren

Die Vision eines länger andauernden Weltfriedens schien 1899 Wirklichkeit werden zu können. Der russische Zar Nikolaus II. hatte in einem Manifest zur Haager Friedenskonferenz die Regierungen aufgefordert, sich auf eine Politik der militärischen Abrüstung zu verständigen:

Von Tobias Mayer | 08.04.2004
    Die finanziellen Kriegslasten beeinträchtigen bei ihrem ständigen Anwachsen das öffentliche Wohl an der Quelle. Dadurch werden die geistigen und leiblichen Kräfte der Völker, der Arbeit wie des Kapitals, zum größten Teil von ihrer natürlichen Verwendung abgelenkt und unproduktiv aufgezehrt.

    Die Haager Konferenz brachte aber nicht die vom Zaren erhoffte Entspannung. Der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien sowie der französisch-russische Zweibund standen sich weiter in militärischer Hab-Acht-Stellung gegenüber. Nun trachtete auch England im europäischen Ränkespiel mitzumischen. Das glorreiche viktorianische Zeitalter und die politische "Splendid Isolation" gegenüber dem Kontinent neigten sich dem Ende zu. Das machte England als Bündnispartner für Deutschland interessant. Im April 1901 schrieb Staatssekretär Oswald Freiherr von Richthofen an den Botschafter in London Paul Graf von Hatzfeldt:

    Es ist bekannt, dass Marokko stets als ein Gebiet betrachtet worden ist, auf welchem eine Einigung zwischen Deutschland und England - als Teil einer allgemeinen Verständigung gedacht - wohl zu erzielen sein würde. Andererseits dürfte eine englisch-französische Verständigung über die beiderseitigen dortigen Interessen auf einer für Frankreich annehmbaren Grundlage ausgeschlossen sein. England kann mit Rücksicht auf Gibraltar auf den Besitz von Tanger nicht verzichten. Diesen Preis aber werden die Franzosen schwerlich zahlen wollen.

    Die Einschätzungen der deutschen Diplomatie gingen fehl. England und Frankreich verhandelten. Das gefährliche Kräftemessen von 1898, als sich im sudanesischen Faschoda britische und französische Truppen gegenüberstanden, sollte sich nicht wiederholen. Der Plan Frankreichs, Afrika nördlich des Äquators in einer West-Ost-Achse zu gewinnen, war am Schnittpunkt der britischen Expansion von Ägypten aus nach Süden gescheitert. Eine Vereinbarung sollte die Einflussgebiete der beiden Kolonialmächte in Afrika sichern. Am 8. April 1904 unterzeichneten England und Frankreich die "Entente cordiale", das "herzliche Einvernehmen". Kern des Abkommens war eine Erklärung Großbritanniens, Frankreich volle Handlungsfreiheit in Marokko zu gewähren. Die Franzosen überließen ihrerseits den Briten Ägypten. Die Entente cordiale wurde in den deutschen Zeitungen zunächst durchaus gutgeheißen. Das Berliner Tageblatt kommentierte:

    Das soeben zustande gebrachte Kolonialabkommen zeigt klar und deutlich die Richtung, in der man sich im Interesse der Friedenserhaltung bewegt. Mit einem Wort: All die kleinen Häkeleien, durch welche die Gegensätzlichkeit der englischen und der französischen Politik im Mittelmeer alle Augenblicke aufs neue emporgepeitscht wurde, sollen aus den Agenden der Diplomatie ein für allemal gestrichen werden.

    Das Abkommen enthielt auch einen Passus über die Handelsfreiheit in Marokko, die zwar für 30 Jahre, aber nur bei staatlicher Selbständigkeit des Landes gewährleistet wurde. Kaiser Wilhelm II. befürchtete eine französische Annexion, welche die deutschen Wirtschaftsinteressen in Marokko gefährden könnte. Der Kaiser beschloss, dem marokkanischen Sultan Abdulaziz demonstrativ den Rücken zu stärken und reiste Ende März 1905 nach Tanger. Bei seinem nur knapp zwei Stunden dauernden Besuch untermauerte Wilhelm II. seine "Politik der offenen Tür":

    In einem unabhängigen Lande wie Marokko muss auch der Handel frei sein. Ich werde mein möglichstes tun, um die volkswirtschaftliche Gleichberechtigung aufrecht zu erhalten. Es gibt hier keinen vorherrschenden Einfluss.

    Das forderte die französische Öffentlichkeit heraus. Die Pariser Zeitung Echo kommentierte die kaiserliche Rede scharf:

    Die wenigen Worte des deutschen Kaisers sind von einer schneidenden Klarheit. Der Besuch des Kaisers in Tanger hat eine außerordentliche Bedeutung; es wäre kindisch, dies zu leugnen und nicht minder kindisch, wenn man nicht gestehen wollte, dass der gestrige Tag für Frankreich eine wenig angenehme Bedeutung hat.

    Der neue Tonfall war Symptom einer Krise, welche auch der alten deutsch-französischen Feindschaft neue Nahrung gab. Die Entente cordiale vom 8. April 1904 wurde später durch Beitritt Russlands zur Triple-Entente erweitert. Deutschland fühlte sich nun endgültig eingekreist - ein Baustein in der Entwicklung, die den Ausbruch des I. Weltkriegs vorbereiten sollte.