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80 Jahre Konferenz von Evian
Juden unerwünscht

Frühjahr 1938: Zehntausende Juden fliehen aus Deutschland und Österreich, um dem Hass und der Entrechtung zu entkommen. Im Juli treffen sich Vertreter von 32 Nationen im französischen Evian, sie streiten über Einreisebedingungen und Aufnahmequoten für die Flüchtlinge. Was hat die Welt daraus gelernt?

Von Carsten Dippel | 11.07.2018
    Nation seek solution of Refugee problem at Evian. American delegate s speech. Thirty nations are in conference at Evian las Baines, France, in an effort to find a solution to the problem of the thousands of refugees, mainly Jewish, who are leaving Germany. Photo shows, Mr Myron C Taylor, the American delegate, addressing the conference. 7 July 1938, London United Kingdom England Copyright: Topfoto PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY UnitedArchivesEU053643
    32 Nationen suchen eine Lösung des Flüchtlingsproblems bei Evian Juli 1938 (imago stock&people)
    Der Hafen ist schon in Sichtweite. Havanna, 27. Mai 1939. Ein rettender Anker für die Passagiere der St. Louis, die voller Hoffnung in Hamburg aufbrachen, dem Nazireich zu entfliehen. Doch die Kubaner verweigern die Anlandung. Ein korrupter Beamter hatte den jüdischen Flüchtlingen falsche Papiere ausgestellt, die nicht zur Einreise taugten. Die St. Louis muss abdrehen, nimmt Kurs auf Florida.
    Wenige Tage später dort das gleiche Spiel. Diesmal sind es die US-amerikanischen Behörden, die den verängstigten Menschen an Bord die Einreise verweigern. Die St. Louis ist schließlich gezwungen, nach Europa zurückkehren.
    Évian-les-Bains, Juli 1938. In die gediegene Stille des Kurortes am Südufer des Genfer Sees bricht die Hektik internationaler Diplomatie. Beobachtet von mehr als 200 akkreditierten Journalisten kommen hier Vertreter aus 32 Nationen, dazu Abgesandte von 39 Organisationen und Hilfskomitees zusammen, um nach einer Lösung für das jüdische Flüchtlingsproblem zu suchen.
    Noch ist der Krieg fern. Doch die Zeit drängt. Im März 1938 wurde Österreich dem Deutschen Reich "angeschlossen". Die Lage der 700.000 deutschen und österreichischen Juden hat sich dramatisch verschlechtert. Aus nahezu allen Berufen sind Juden mittlerweile gedrängt und durch die schrittweise Entrechtung ihrer materiellen Basis beraubt worden.
    Tausende haben Nazideutschland bereits verlassen und täglich drängen mehr zur Auswanderung. Dabei verschärft gerade ein Staat nach dem anderen seine Einreisebestimmungen.
    Die Straßen mit der Zahnbürste reinigen
    "Es war definitiv schwierig, Deutschland zu verlassen", sagt Julius Schoeps, Direktor des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums. Er wurde 1942 in Schweden geboren. Dort im Exil, hatten sich seine Eltern kennengelernt, nachdem sie Deutschland gerade noch rechtzeitig verlassen konnten.
    "Man brauchte ein Visum eines Landes. Das zu bekommen, war extrem schwierig. Hier standen an den Konsulaten und Botschaften die Juden an und versuchten, ein Visum zu bekommen, was meistens nicht funktioniert hat", sagt Julius Schoeps.
    Mit dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 erreicht die Flüchtlingsfrage eine neue Dimension. Die Ereignisse in Wien erschüttern die Welt.
    John Fischer ist damals, im März 1938, ein kleiner Junge von 8 Jahren. Er wohnt mit seiner Mutter in einem Wiener Vorort. Er erinnert sich noch gut an den Einmarsch der deutschen Truppen.
    Er erinnert sich: "Wie alle anderen Kinder bin ich da rausgelaufen auf die Straße und hab die Panzer und die Kanonen und was alles der Teufel da war und die Soldaten, das fanden wir Kinder wahnsinnig aufregend und ich hab wie alle anderen ein Hakenkreuzfähnchen geschwenkt und Gott, schei war's."
    Die freie Welt sieht entsetzt, wie offen, wie brutal sich der Judenhass in Wien und anderen Orten Österreichs entlädt.
    Das demütigende Bild von Juden, die Straßen mit Zahnbürsten reinigen müssen, brennt sich ein. Mitten in Europa in einem christlichen, eigentlich zivilisierten Land.
    "Das Boot ist voll"
    John Fischer war getauft und wurde katholisch erzogen. Sein Vater, der bereits 1936 verstarb, war Jude. Er erzählt: "Aufgrund dieser Tatsache sind im Jahr 38, ist einmal in der Nacht um vier Uhr in der Früh, die Zeit, wo sie gerne kamen, die Gestapo bei uns in die Wohnung reingestürmt. Und hat meiner Mutter und mir 24 Stunden Zeit gegeben, das Haus zu verlassen, nur das mitzunehmen, was wir tragen konnten." Für John Fischer beginnt eine Zeit der Ungewissheit.
    "Das Boot ist voll!" lautet vielerorts das Motto. Auch in den USA besitzen Stimmen, die auf Isolationismus setzen, starkes Gewicht. Das Land ist von der Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelt, politisch tief gespalten. Nationalistische, rassistische, antisemitische Strömungen haben enormen Auftrieb. Doch Präsident Franklin D. Roosevelt lässt sich davon nicht beirren. Am 23. März 1938, nur wenige Tage nach dem "Anschluss" Österreichs, übermitteln die amerikanischen Botschafter die Einladung zur Flüchtlingskonferenz.
    Winfried Meyer ist Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Er sagt:
    "Was die Amerikaner sich wünschten, war gewissermaßen die Verstetigung der Konferenz als zwischenstaatliches Komitee für Flüchtlinge. Das heißt, eine organisatorische Form, in der die Staatengemeinschaft ihre Verantwortung für das Flüchtlingsproblem anerkennt und gemeinsam überstaatlich nach Lösungen sucht."
    Für Flüchtlingsfragen zuständig ist eigentlich der Völkerbund in Genf. Doch er ist personell und finanziell nur unzureichend ausgestattet und weder die USA noch Deutschland sind Mitglied. Das amerikanische Ziel ist daher die Schaffung einer anderen transnationalen Körperschaft.
    Gebannt schaut die Welt Anfang Juli nach Évian. Die bedrängten Juden in Europa setzen große Hoffnung auf die von Roosevelt initiierte Konferenz.
    Zuversicht zu Beginn der Konferenz
    Winfried Meyer: "Die Konferenz ist ja relativ übereilt und ohne große Vorbereitungszeit einberufen worden. Und für die Amerikaner war es wichtig, möglichst viele potentielle Aufnahmeländer zu dieser Konferenz zu bekommen und deswegen musste man alles unterlassen, was Staaten von der Teilnahme abschrecken konnte."
    Die Hoffnung der Amerikaner war, dass noch Spielräume für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgelotet würden.
    Meyer: "Das hat dann aber der nationalstaatliche Egoismus der Staaten verhindert. Weil jeder Staat gesagt hat, das ist ein ganz schlimmes Problem und den Leuten muss geholfen werden, aber bei uns geht es leider gerade nicht. Und dafür, dass es nicht geht, hatten eben einige Staaten noch kurz vor der Konferenz gesorgt, indem sie ihre Einreisebestimmungen verschärft haben."
    Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg von zunehmendem Nationalismus, von Wirtschaftskrisen und Bürgerkriegen gezeichnet. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht – noch bevor das jüdische Flüchtlingsproblem entsteht.
    Für den Historiker Götz Aly ist dieser Kontext wichtig. Frankreich etwa habe seinerzeit die wohl großzügigste Immigrationspolitik geleistet, so seine Einschätzung.
    "Frankreich war das Land gewesen, das am meisten Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen hatte, niemanden zurückgeschickt hat, wo 600.000 italienische Flüchtlinge lebten, die vor dem Faschismus geflohen sind und etwa – 1938, dann 39 erst recht – mindestens eine halbe Million Rotspanier, die aus dem Spanischen Bürgerkrieg geflohen waren."
    Als die Konferenz schließlich am 6. Juli 1938 im feinen Hotel Royal feierlich eröffnet wird, herrscht dennoch eine gewisse Zuversicht. Allerdings gibt es einen Geburtsfehler, so der Historiker Winfried Meyer: "In der Einladung zur Konferenz hatte das amerikanische Außenministerium den eingeladenen Staaten versichert, es werde von keinem Staat erwartet, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als es den geltenden gesetzlichen Bestimmungen der Staaten entspreche. Und das war gewissermaßen auch eine Einladung dazu, dass viele Staaten ihre Einreisebestimmungen so verschärft haben, dass die Staaten gewissermaßen für Flüchtlinge vollkommen verschlossen waren."
    Geist des Appeasement
    Über Évian schwebt auch der Geist des Appeasements. Die Konferenz kann sich nicht durchringen, offiziell von jüdischen Flüchtlingen zu sprechen. Geschweige denn die Verantwortung Nazideutschlands zu benennen. Ein klares Statement, so die Befürchtung, würde Hitler nur reizen.
    Bezeichnend ist, wer nicht eingeladen wird. Neben Deutschland und Italien sind das vor allem Polen, Ungarn und Rumänien. Länder, in denen insgesamt gut vier Millionen Juden leben. Im Vorfeld der Konferenz versuchen sie, ihr eigenes "Judenproblem" auf die Agenda zu setzen.
    Götz Aly: "Überall herrschte der Gedanke, man müsse das Land ethnisch und sprachlich und religiös homogenisieren. Und diejenigen, die zu den Minderheiten gehörten, insbesondere eben die Juden, wo man nicht so richtig wusste, wo man die hin abschieben sollte, müssten auf die Dauer das Land verlassen."
    Briten und Amerikaner wollen sich auf dieses Spiel gar nicht erst einlassen. So erhalten Polen, Ungarn und Rumänien lediglich einen Beobachterstatus in Évian. Von potentiellen Aufnahmestaaten sind sie praktisch zu Vertreiberstaaten geworden.
    Die amerikanische Delegation geht es dennoch entschlossen an. Man müsse von etwa 500.000 jüdischen Flüchtlingen in den kommenden 5 Jahren – an Krieg denkt noch niemand – ausgehen. 100.000 pro Jahr, die zu gleichen Anteilen auf die USA, das British Empire und die übrigen Staaten der Welt aufgeteilt werden sollen.
    "Das ist ein sehr pragmatischer und wenn man an heutige Konferenzen denkt, ein sehr klarer und auch nicht besonders langfristiger Plan", sagt Götz Aly. "Nach außen hin mussten die USA, musste Großbritannien vertreten, dass die Juden ihr vollständiges Eigentum würden mitnehmen dürfen. Nach innen hin war klar, weil sie wussten, wie groß die deutsche Gier war, die Juden zu berauben, dass 20-25 Prozent am Ende genügen würden."
    Ein Kompromiss - dünn wie Evian-Wasser
    Die Verhandlungen verlaufen zäh. Es ist die mühsame Suche nach Kompromissen und einer für alle tragbaren Abschlusserklärung.
    Den Vertretern der jüdischen Hilfskomitees bleibt ein einziger Nachmittag, ihre Appelle vorzutragen. So steht am Ende dieser zehn Konferenztage am Genfer See nicht viel mehr als ein wohlformuliertes Abschlusskommuniqué - "dünn wie Évian-Wasser" - wie ein Vertreter spitz bemerkt. Auf eine verbindliche Zusage zur Aufnahme bestimmter Flüchtlingskontingente kann man sich nicht einigen. Höhnisch kommentiert der Völkische Beobachter, man biete der Welt die Juden an, doch offenbar wolle sie niemand haben.
    Oft wird mit Blick auf Évian vom Versagen der Weltgemeinschaft gesprochen. Doch das Kernanliegen der USA, ein zwischenstaatliches Komitee als eine Art permanente Konferenz einzurichten, ist realisiert worden.
    Dazu Winfried Meyer: "Wenn man sich die Zahlenverhältnisse anguckt, denke ich, hätte es möglich sein müssen, viel mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn man die Konferenz beurteilt nach den Zielsetzungen ihrer Initiatoren, war die Konferenz ein Erfolg. Die Amerikaner haben das geschafft, dass es das zwischenstaatliche Komitee gab und das ist ja auch etwas, was dann für die weitere Entwicklung gewissermaßen ein Markstein ist. Dass die Staatengemeinschaft anerkannt hat, wir sind hier in der Verantwortung, etwas für Flüchtlinge zu tun."
    "Das Projekt ist an Deutschland gescheitert"
    Dass die USA ein knappes Jahr später die Passagiere der St. Louis - trotz zahlreicher Proteste – nicht ins Land lassen, hat mit der geltenden Quote zu tun. Diese sei zu jenem Zeitpunkt Ende Mai 1939 bereits ausgeschöpft und wie in Stein gemeißelt gewesen, so Winfried Meyer:
    "Ich glaube, das kann man so sagen, dass Roosevelt oder die Administration eine Internationalisierung des Problems wollte, um, ja, diese Frage nicht beantworten zu müssen, müssen wir unsere Quote erhöhen für Flüchtlinge aus den Ländern. Insofern glaube ich, dass diese Konferenz auch einen starken innenpolitischen Aspekt hat."
    Dass die Konferenz von Évian bei der Flüchtlingsfrage gescheitert ist, liegt für Götz Aly nicht am Versagen der Welt.
    Er sagt: "Deutschland wollte den Krieg, wollte die Juden vollständig enteignen, wollte den Krieg sehr schnell und wollte auch Juden im Land behalten als Faustpfand."
    Der Plan einer angemessenen Aufteilung von jüdischen Flüchtlingen, sei eine gute Grundlage gewesen. Schließlich hätten die USA ihre Zusicherung, bis zu 30.000 Juden pro Jahr aufzunehmen, eingehalten. Bis zum Kriegseintritt der USA 1941 hätten auf diese Weise noch gut 80.000 deutsche und österreichische Juden den Weg in die Vereinigten Staaten gefunden.
    Aly: "Das ist immerhin etwas, was man nicht übersehen sollte und da sollte man nicht aus verdecktem Antiamerikanismus sagen oder auch aus Gründen der Schuldverschiebung weg von Deutschland, die amerikanische Regierung, die internationale Gemeinschaft versagt. Die haben sich angestrengt und natürlich kamen dann die Widersprüche auf und die Probleme, aber hauptsächlich ist das Projekt an Deutschland gescheitert."
    Mit zehn Reichsmark über die Grenze gejagt
    Juden mittellos aus Deutschland zu verjagen, war mit Staaten, die überlegen mussten, wie sie Flüchtlinge unterbringen, kaum zu vereinbaren.
    Gewalt gegen Juden sei für das Nazi-Regime ein Mittel der sozialen Integration gewesen, sagt Götz Aly: "Sie haben gesehen: Judenhass, Antisemitismus ist etwas, was wir exportieren können und am besten exportieren wir es durch die Produktion von Flüchtlingen. Man hat ja damals Juden 38 mit zehn Reichsmark über die Grenze gejagt."
    Noch im Sommer 1938 müssen Juden sämtliche Devisen, Gold, Silber, Diamanten abgeben. Barvermögen auf den Banken wird in Reichskriegsanleihen umgewandelt. Die gutgeschriebenen Reichsmark-Gegenwerte dienen den Nazis jedoch zum Import wichtiger Rohstoffe.
    NS-Recht über die Rechtsstellung der Juden 26. April 1938. Auf einem von den Verwaltungsbehörden ausgestellten Formular muss jeder Jude seinen gesamten in- und ausländischen Besitz von über 5000 Reichsmark registrieren und bewerten.
    Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 (imago stock&people)
    Ein Dilemma für das zwischenstaatliche Komitee in seinen Verhandlungen mit den Nazis. Winfried Meyer:
    "Die Verhandlungen, die das zwischenstaatliche Komitee geführt hat, da ging es ja im Grunde genommen nur noch darum, wie groß ist der Raub an dem jüdischen Vermögen und wie groß oder klein ist der Teil des Vermögens, den sie mitnehmen können in die Einwanderungsländer."
    Einen Abschluss finden diese Verhandlungen zwischen dem Intergovernmental Committee on Refugees (IGC) mit Sitz in London und Nazideutschland durch den Kriegsausbruch aber ohnehin nicht.
    Eine Lehre aus dem Scheitern der Konferenz vom Juli 1938 ist die Etablierung der Genfer Flüchtlingskonvention 1951. Nach dieser hätte das Flüchtlingsschiff St. Louis niemals zurückgeschickt werden dürfen. Damals, im Frühjahr 1939, gab es allenfalls eine moralische Pflicht, sagt der Migrationsethiker Matthias Hoesch von der Universität Münster.
    "Wenn also ein Flüchtling an der Grenze eines Staates auftaucht, dann darf dieser Staat nicht mehr sagen, den wollen wir nicht. Durch diese völkerrechtliche Regelung ist quasi sichergestellt, dass jeder Flüchtling zunächst einmal einen direkten Ansprechpartner hat. Das, was den Juden auf dem Dampfer St. Louis passiert ist, das wäre heute ein Völkerrechtsbruch."
    Die Tränen nach der Kurve
    Die Lage der Juden in Deutschland und Österreich hat sich nach der Konferenz von Évian weiter verschärft. Und kaum jemand hätte sich in jenen Julitagen vorstellen können, dass in Deutschland schon bald die Synagogen brennen würden.
    Auch für John Fischer spitzt sich die Lage zu. Als Kind eines jüdischen Vaters ist er unmittelbar bedroht. Er erzählt: "Dann irgendwann mal hat mir meine Mutter eröffnet, dass ich eine Reise machen werde. Und ja das fand ich aufregend. Da war ich neun Jahre alt, das war 39. Und ich weiß noch, wie man mich zum Wiener Westbahnhof gebracht hat und wir konnten aus dem Fenster noch schauen, wie auf dem Querbahnsteig die ganzen Verwandten waren und meine Mutter hatte ein weißes Kostüm an, deswegen habe ich sie genau sehen können. Und erst in diesem Moment, als wir eine kleine Kurve machten und die Leute nicht mehr zu sehen waren am Bahnsteig, da haben die meisten von uns angefangen zu heulen."
    So gehört John Fischer zu jenen Kindern, die im Juli 1939 mit einem der letzten Transporte nach England entkommen.
    Dank der Quäker, die sich auch bereits in Évian sehr engagierten. Immerhin ermöglichen England und Australien unter dem Eindruck des Novemberpogroms Transporte für einige Tausend jüdische Kinder – freilich ohne deren Eltern. John Fischer hat seine Mutter erst 1946 wiedergesehen.
    "Meine Mutter hat es versucht, aber sie hat es nicht geschafft, nach England zu kommen. Das muss für sie sehr sehr schlimm gewesen sein, eine Mutter ihr neunjähriges Kind herzugeben. Ich weiß nur, wie es für mich war, obwohl ich es natürlich teilweise verdrängt habe. Ich war neun, als ich meine Mutter verließ, ich war 16, als ich wieder zurückkam und diese Jahre fehlen mir und ich hatte keine wirkliche emotionale Bindung mehr zu meiner Mutter. Die war gekappt."
    "Großes Verständnis für die Kanzlerin"
    Auch Schweden wird zum Exilort für ca. 8.000 jüdische Flüchtlinge.
    "Mein Vater verließ Deutschland am Weihnachtsabend 1938 mit Hilfe eines hohen Beamten aus dem Auswärtigen Amt. Er verließ Deutschland über den Flughafen Tempelhof am Weihnachtsabend, weil er dachte, da passen die Gestapobeamten und die Polizisten, die dort stehen, nicht so auf. Und so war es auch und er kam damals aus Deutschland heraus, nach Schweden", sagt Julius Schoeps.
    Hans Joachim Schoeps entscheidet sich kurz nach dem Krieg, nach Deutschland zurückzukehren. Zwei Jahre später, 1948, kommen die beiden Söhne nach. Julius Schoeps erinnert sich an die erste Zeit in diesem für ihn fremden Land.
    "Es war immer schwierig, anzukommen. Ich sprach als kleiner Junge kein Wort Deutsch. Ich sprach nur Schwedisch und in den Anfängen habe ich mich immer so als ein Außenseiter gefühlt, als jemand, der nicht dazugehörte. Die Fluchtgeschichte ist für mich eine zentrale Erfahrung und ich habe deshalb großes Verständnis für die Kanzlerin, die in der Flüchtlingspolitik, eine Position eingenommen hat, die heute vielfach nicht verstanden wird."
    Das tragische Schicksal des Flüchtlingsdampfers St. Louis ist zum Symbol des moralischen Versagens der Weltgemeinschaft im Angesicht einer heraufziehenden Katastrophe geworden. Immerhin hatte der Vizedirektor des in Évian ins Leben gerufenen zwischenstaatlichen Komitees erreicht, dass die Passagiere nicht wieder in Hamburg aussteigen mussten. Sie fanden in Belgien, Frankreich, den Niederlanden und England Aufnahme. Doch von den 937 Passagieren der St. Louis haben mindestens 254 die Shoah nicht überlebt.
    Regie: Rainer Delventhal
    Redaktion: Christiane Florin
    Produktion Deutschlandfunk 2018