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800.000 Menschen entwurzelt und 531 Dörfer zerstört

Die ethnische Säuberung Palästinas gehört zu jenen dunklen Kapiteln des 20. Jahrhunderts, die von interessierter Seite gerne verdrängt werden. Das hat den israelischen Politikwissenschaftler Ilan Pappé, Leiter des Instituts für Konfliktforschung an der Universität Haifa, nicht daran gehindert, sich mit dem Thema gründlich auseinanderzusetzen und die Ergebnisse seiner Forschung der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Eine Rezension von Marcel Pott.

03.09.2007
    "Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches."

    Schon das dem Vorwort des Autors vorangestellte Zitat des Staatsgründers David Ben Gurion bringt den Leser dazu, die erste Fußnote zu studieren.

    Er will wissen, wann genau der in Israel als "Vater der Nation" verehrte Ben Gurion diesen Satz über die arabische Bevölkerung Palästinas gesagt und wem gegenüber er sich so geäußert hat.

    Wir erfahren, dass David Ben Gurion am 12. Juni 1938 auf einer Sitzung der Exekutive der Jewish Agency für die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung in Palästina eingetreten ist. Ben Gurion war die bestimmende Figur innerhalb dieser zionistischen Organisation, die damals die Interessen der jüdischen Zuwanderer in Palästina international vertrat.

    Zu diesem Zeitpunkt - rund 15 Monate vor Ausbruch des 2. Weltkriegs - war bereits klar erkennbar, dass das von der britischen Kolonialmacht beherrschte Palästina zu einem dauerhaften Konfliktherd werden würde, denn die aus Europa gekommenen Juden waren Zionisten - also jüdische Nationalisten - die in dem von Arabern bewohnten Land einen jüdischen Nationalstaat gründen wollten. Das brachte sie als zugewanderte Minderheit zwangsläufig in Gegensatz zu der arabischen Nationalbewegung der einheimischen Bevölkerung in Palästina, die die überwältigende Mehrheit darstellte.

    Die brisante Lage war entstanden, weil das britische Empire zwischen 1922 und 1938 unter seinem militärischen Schutz eine massive Zuwanderung zionistischer Siedler nach Palästina gegen den Willen der Araber ermöglichte. Damit setzte Britannien die in der Balfour-Erklärung von 1917 versprochene Unterstützung der Zionisten für die Schaffung einer sog. "nationalen Heimstätte" für die europäischen Juden in Palästina in die Tat um.

    Die ständig wachsende zionistische Gemeinschaft ging von Anfang an strategisch vor und arbeitete kontinuierlich auf einen jüdischen Nationalstaat hin - mit großem Erfolg. Denn die Araber Palästinas waren den gebildeten Zuwanderern aus Europa soziokulturell weit unterlegen. Die Briten wussten das, - alles geschah unter ihren Augen und mit ihrer Billigung.

    Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund zitiert der israelische Historiker Ilan Pappé die Äußerung von David Ben Gurion über die Zwangsumsiedlung der arabischen Bevölkerung Palästinas, die er zehn Jahre vor Gründung des Staates Israel gemacht hat.
    Ebenfalls bei der Lektüre des Vorworts lernt der Leser, dass es einen so genannten Plan D gab, der als Grundlage für die kollektive Vertreibung der Palästinenser diente und in Tel Aviv im ROTEN HAUS verabschiedet worden ist.

    "In diesem Gebäude saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen - altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere - und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen, Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten, Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut, Vertreibung, Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage umrissen, wie die zionistische Führung mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte, umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser mussten raus."

    Ilan Pappé will mit seinem Buch unter Verweis auf zahlreiche historische Quellen zeigen, dass Plan D einerseits das zwangsläufige Ergebnis der ideologisch verankerten zionistischen Bestrebung war, in Palästina eine ausschließlich jüdische Bevölkerung zu haben. Andererseits war Plan D nach Einschätzung des Autors eine Reaktion auf die Entwicklungen vor Ort, nachdem die britische Regierung beschlossen hatte, das Palästina-Mandat zu beenden.

    Zusammenstöße mit palästinensischen Milizen - so Pappé - boten einen perfekten Kontext und Vorwand, die ideologische Vision eines ethnisch gesäuberten Palästina umzusetzen. Die zionistische Politik zielte zunächst auf Vergeltungsschläge für palästinensische Angriffe im Februar 1947 und mündete im März 1948 in eine Initiative, das ganze Land ethnisch zu säubern.

    "Nachdem die Entscheidung gefallen war, dauerte es sechs Monate, den Befehl auszuführen. Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800.000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert.
    Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer Säuberung, die nach heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt.
    Nach dem Holocaust ist es fast unmöglich geworden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. Unsere moderne, von Kommunikation gestützte Welt lässt es besonders seit dem Aufkommen elektronischer Medien nicht mehr zu, von Menschen verschuldete Katastrophen vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder zu leugnen. Und dennoch ist ein solches Verbrechen fast vollständig aus dem weltweiten öffentlichen Gedächtnis gelöscht worden: nämlich die Vertreibung der Palästinenser durch Israel 1948.
    Dieses höchst prägende Ereignis in der modernen Geschichte des Landes Palästina wurde seit damals systematisch geleugnet und ist bis heute nicht als historische Tatsache, geschweige denn als ein Verbrechen anerkannt, dem man sich politisch wie moralisch zu stellen hat".


    Der israelische Historiker Ilan Pappé ist entschlossen, dazu beizutragen. Er wendet sich mit seinem Werk gegen die offizielle israelische Darstellung von der Zeit von 1948, die - wie er schreibt - die historischen Tatsachen mit allen Mitteln vertuscht und verdreht hatte.

    "Das Märchen, das die israelische Geschichtsschreibung erfunden hatte, sprach von massivem 'freiwilligem Transfer' Hunderttausender Palästinenser, die sich entschlossen hätten, vorübergehend ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, um den vordringenden arabischen Truppen Platz zu machen, die den jungen jüdischen Staat vernichten wollten".

    Tatsächlich, so der Autor, belegen palästinensische Quellen eindeutig, dass es den jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im Land zuständig waren, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion Palästinenser zwangsweise zu vertreiben.

    Ilan Pappé ist davon überzeugt, dass eine historische und politische Notwendigkeit besteht, das vollständige Bild über die Geschehnisse in Palästina zu zeichnen. Das schließt zwangläufig arabische Quellen und mündlich überlieferte Geschichte mit ein.

    Es gibt für uns - schreibt Pappé - keinen anderen Weg, die Wurzeln des gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikts umfassend zu verstehen.

    Außerdem sind wir moralisch dazu verpflichtet, den Kampf gegen die Leugnung dieser Verbrechen weiterzuführen, weil die bereits aufgedeckte Geschichte in Israel nicht in den öffentlichen Bereich moralischen Bewusstseins und Handelns vorgedrungen ist.

    Dem Historiker Pappé geht es explizit darum, die Mechanismen der ethnischen Säuberung von 1948 zu untersuchen. Doch er will auch das kognitive System ergründen, das es der Welt und den Tätern ermöglichte, die von der zionistischen Bewegung 1948 begangenen Verbrechen zu vergessen oder zu leugnen.

    Warum der Autor das Buch in dieser Weise geschrieben hat, schildert er selbst mit emphatischen Worten.

    "Manchen mag diese Herangehensweise - das Paradigma ethnischer Säuberung a priori als Basis für die Darstellung der Ereignisse von 1948 zu nehmen - vom Ansatz her als Anklage erscheinen. In mancherlei Hinsicht ist es tatsächlich mein eigenes j´accuse! gegen die Politiker, die die ethnische Säuberung planten, und gegen die Generäle, die sie durchführten. Aber wenn ich ihre Namen nenne, so tue ich es nicht, weil ich sie posthum vor Gericht gestellt sehen möchte, sondern um Tätern wie Opfern ein Gesicht zu verleihen: Ich möchte verhindern, dass die Verbrechen, die Israel begangen hat, auf so schwer fassbare Faktoren geschoben werden wie 'die Umstände', die 'Armee' und ähnlich vage Verweise, die souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und Individuen straflos davonkommen lassen. Ich klage an, aber ich bin auch Teil der Gesellschaft, die in diesem Buch verurteilt wird. Ich fühle mich sowohl verantwortlich für als auch beteiligt an der Geschichte, und ich bin ebenso wie andere in meiner Gesellschaft überzeugt - wie der Schluss dieses Buches zeigt -, dass eine derart schmerzhafte Reise in die Vergangenheit der einzige Weg nach vorn ist, wenn wir eine bessere Zukunft für uns alle, Palästinenser wie Israelis, schaffen wollen. Darum geht es in diesem Buch".

    Wer den Kernkonflikt im Nahen Osten besser verstehen will, sollte das mit viel Herzblut geschriebene Buch von Ilan Pappé lesen.

    Marcel Pott über Ilan Pappé: "Die ethnische Säuberung Palästinas", Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007,
    Euro 19,90.