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9. November als Schicksalstag
"Kitschig und auch fehlleitend"

Hitlers Putsch 1923, die Reichspogromnacht 1938, der Mauerfall 1989: Der 9. November hat in der deutschen Vergangenheit immer wieder eine Rolle gespielt. Vom einem Schicksalstag zu sprechen, lehnt der Historiker Ulrich Herbert aber ab. Oft seien diese Daten reiner Zufall gewesen,sagte er im Dlf.

Ulrich Herbert im Gespräch mit Kathrin Hondl | 09.11.2017
    Menschen strömen vom Westteil Berlins zum Übergang Potsdamer Platz. Nach der Maueröffnung durch die DDR wurde drei Tage später, am 12.11.1989, am Potsdamer Platz ein neuer Grenzübergang eingerichtet.
    Der Mauerfall hätte auch an jedem anderen Tag stattfinden können, das habe nichts mit Schicksalstag zu tun, sagte der Historiker Ulrich Herbert im Dlf (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Kathrin Hondl: Der 9. November sei der "Schicksalstag" der Deutschen, heißt es immer wieder. Das kling gewichtig – und auch ein bisschen unheimlich und vor allem fragwürdig – schließlich ist Schicksal ja ein Begriff, der eher zur Welt der Märchen und Legenden zu passen scheint als zu einer kritischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Wäre da nicht dieser 9. November, der immer wieder als markantes Datum die deutsche Geschichte geprägt hat: 1848 die gescheiterte Märzrevolution, 1918 die Novemberrevolution, 1923 Hitlers Putschversuch, 1938 die Reichspogromnacht und 1989 dann, der bisher letzte historisch bedeutsame 9. November: der Fall der Berliner Mauer.
    Über diesen sogenannten Schicksalstag habe ich vor der Sendung mit dem Historiker Ulrich Herbert gesprochen. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Freiburg.
    Der 9. November als Schicksalstag der Deutschen – ist das, Herr Professor Herbert, ein Begriff, dem Sie als Historiker etwas abgewinnen können?
    Ulrich Herbert: Nein, natürlich nicht. Fürs Schicksal sind wir nicht zuständig. Aber es ist schon eine interessante Häufung wichtiger Daten, die auf diesen 9. November fallen. Aber in den meisten Fällen, bis auf einen Fall, ist das reiner Zufall. Um den 9. November 1848 zu nehmen, dass der Robert Blum, dieser Parlamentsabgeordnete, nun ausgerechnet am 9. November erschossen worden ist, ist zwar ein Grund, sich daran zu erinnern, aber hat mit den anderen 9. Novembern eigentlich gar nichts zu tun. Es ist reiner Zufall, dass es an diesem Tag war.
    Das gilt auch für die Novemberrevolution. Am 9. November ist relativ zufällig oder gerade an diesem Tag die Republik proklamiert worden. Und das gilt auch für den 9. November 1989. Dass nun diese Pressekonferenz von Herrn Schabowski mit diesem verhängnisvollen oder berühmten Zitat, dass jetzt die Reisefreiheit eingerichtet worden sei, an diesem Tag stattgefunden hat und nicht am 8. Oder am 11., ist ebenfalls an sich ein Zufall.
    Aber es gibt einen Zusammenhang, wo es kein Zufall ist.
    !Hondl:!! Eben, Herr Professor Herbert. Sie haben jetzt nämlich zwei schicksalhafte Novembertage ausgelassen, nämlich 1923 und 1938. Dass die Nazis da für ihren Putschversuch in München und die Pogrome gegen Juden 1938 den 9. November gewählt haben, war das auch Zufall oder nicht?
    Herbert: Dass Hitler und die Seinen 1923 am 9. November diesen ziemlich operettenhaften Putschversuch begonnen haben, das ist in der Tat reiner Zufall, hätte an jedem anderen Tag auch sein können. Es hing damit zusammen, dass innerhalb der rechten Szene, würde man vielleicht heute sagen, in München die vaterländischen Verbände und diverse andere rechte und rechtsradikale Gruppen einen solchen Putsch gegen die Berliner Regierung geplant hatten, wohl auch mit Unterstützung der Reichswehr. Aber dann zog die Reichswehr oder Teile davon zurück und einige oder die wichtigen Putschisten, die das eigentlich vorhatten, haben dann den geplanten Putsch abgeblasen. Aber darin sah der damals sehr junge Adolf Hitler mit seiner sehr kleinen NSDAP die Möglichkeit, sagen wir mal, groß rauszukommen und einen solchen Putsch zu inszenieren, der ein bisschen nach dem Vorbild von Mussolinis Marsch auf Rom gedacht war, und er ist dann am nächsten Tag von der Landespolizei gestoppt worden, es hat etliche Tote gegeben. Dieses Datum des gescheiterten Putsches und der sogenannten Blutzeugen der nationalsozialistischen Bewegung hat dazu geführt, dass an jedem 9. November in der Weimarer Republik und später in der NS-Zeit von den Nazis an diesen Tag erinnert wurde.
    "Dadurch ist der 9. November 1938 sehr stark ins Bewusstsein gekommen, was er früher nicht so war"
    Hondl: Und sogar Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg, der hat ja auch schon vom 9. November als "Schicksalstag" gesprochen. Wäre dann dieses Reden vom Schicksalstag tatsächlich eine Erfindung der Nazis?
    Herbert: Das kann schon sein, würde aber nichts zur Sache tun, weil das war ja zynisch gemeint, die beiden Daten miteinander und das Schicksal da zu bemühen. Ich glaube, der Begriff Schicksalstag, der ist auch in den letzten Jahren erst aufgekommen, weil es mit dem 9. November 1989 ja nun wiederum ein solches Datum war.
    Es hatte sich zuvor in der Bundesrepublik seit den 80er-Jahren eingebürgert – das war früher nicht der Fall gewesen -, dass Gedenkfeiern an den 9. November 1938 stattfinden. Das hat sich immer mehr ausgebreitet in fast allen Städten und dadurch ist der 9. November 1938 sehr stark ins Bewusstsein gekommen, was er früher nicht so war.
    Hondl: Nach dem Mauerfall 1989, da gab es ja dann immer wieder auch die Befürchtung, dass der Jubel über die deutsche Einheit das Erinnern an die Reichspogromnacht überdecken würde. Wie ist denn da Ihr Eindruck? Hat es das oder nicht?
    Herbert: Eigentlich im Gegenteil. Die 90er-Jahre sind in der jüngeren deutschen Geschichte die Phase, in der die ganz großen Auseinandersetzungen, öffentlichen Diskussionen um den Nationalsozialismus und seine Verbrechen stattgefunden haben. Ich erinnere nur an die Goldhagen-Debatte, an die Debatte über die Zwangsarbeiter und an vieles andere, die große wochenlange Diskussionen ausgelöst haben, an die Wehrmachtsausstellung und Ähnliches. Das kann man nicht sagen. Im Gegenteil: Es ist eher zu einem bis dahin nicht bekannten Höhepunkt der öffentlichen Debatten um die NS-Zeit gekommen.
    Es ist auch nicht so, dass der 9. November 1989 den 9. November _38 irgendwie verdrängt hatte als Erinnerungstag. Auch das hatte man befürchtet. Insofern zeigt das schon, dass die Deutschen ganz gut zu unterscheiden wissen zwischen dem einen und dem anderen. Auch das scheint, den Begriff Schicksalstag, der etwas kitschig ist und auch fehlleitend, nicht so sonderlich zu unterstützen.
    "Es hat sich als richtig erwiesen, das zu trennen"
    Hondl: Der 9. November wurde ja auch immer wieder mal als Datum für den Nationalfeiertag diskutiert, als das bessere Datum im Vergleich zum 3. Oktober. Wie stehen Sie dazu?
    Herbert: Ich glaube, Günter Grass hat das mal vorgeschlagen, aber ist dann, wenn ich mich recht entsinne, auch wieder zurückgezogen. Denn den 9. November _89, den können wir ja wirklich feiern. Da kann man eine Flasche aufmachen. Aber man stelle sich mal vor, man würde an diesem 9. November als Nationalfeiertag eine Flasche aufmachen und gleichzeitig an den 9. November 1938 damit erinnern. Das ist so widersprüchlich, dass es, glaube ich, richtig war, das nicht zu tun. Insofern hat sich das, glaube ich, als richtig erwiesen, das zu trennen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.