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90 Jahre "Schöner Sterben"

Zum 577. Mal schallt der Ruf des Todes über den Domplatz und durch die Gassen Salzburgs. Der 14. Jedermann der 90-jährigen Festspielgeschichte verabschiedet sich von der 30. Buhlschaft. Gestorben wird immer, Erlösung wird immer gewährt.

Von Karin Fischer | 26.07.2010
    Der "Jedermann" ist ein Mythos, aber noch mehr ein Ritual, in dem es nicht sosehr um das WIE geht, als um das DASS. Umso großartiger ist, was der immerhin erst zehnte Regisseur, Christian Stückl, da gestern auf dem Domplatz schaffte. Den "Jedermann" noch mal ganz frisch und sehr neu aussehen zu lassen. Das Volksstückhafte ist nicht verschwunden, die Frechheit im Umgang mit dem Text und den Allegorien ist geblieben, aber weil das verjüngte Ensemble noch nicht den Rucksack voller Tradition auf dem Buckel hat, sind die Figuren viel lebendiger geworden: Gestalten von gestern, aber mit der psychologischen Verfassung von heute. Nicholas Ofczarek vor allem: Der jüngste "Jedermann" der Festspielgeschichte ist zu Beginn ein aufgedrehter, leicht wohlstandsverwahrloster Schnösel mit Zigarettenspitze, ein reicher Hedonist, ein Bohèmien mit Prinzipien, die sich allerdings nur ums Geld drehen.

    Dieser Mann ist aber nicht satt und saturiert, er ist hungrig. Auch das macht den erzwungenen Abgang so schwer. Seiner Mutter gegenüber gibt er sich bubenhaft, seinen Angestellten begegnet er grob, seiner Buhlschaft mit erwachsener Selbstverständlichkeit. Birgit Minichmayr, das Theatertier, kann in der Rolle nicht viel reißen, bringt in ihrem warmroten Kleid aber eine betörende Natürlichkeit über die Rampe. Endlich einmal wurde auch das Muster "alter Sack und junge Mätresse" entsorgt und mit ihm viel romantisches Getändel. Das Publikum wird genau das vermissen - Peter Simonischek war eine Institution. Jetzt gibt es weniger Geste und mehr Schauspiel. Wenn Minichmayr den "Jedermann" mit den Worten "Dein Spiel will mir nit mehr gefallen" auf der Treppe hoch am Dom liegen lässt, ist das richtig großes Kino.

    Robert Reinagel, der Koch, spricht englisch. Peter Jordans Teufel ist eine schwankende Gestalt mit riesigen Pratzen, die vermutlich nicht ganz zufällig schwarz-ölig schimmert. Die Festgesellschaft zeigt mit bombastischen Haartürmen, Glatzen und modern gemusterten Reifröcken eine perfekte Verschmelzung von barockem Pomp und Punk. Mit ihren grell geschminkten Gesichtern kann man sie sogar als Untote sehen, barocke Wiedergänger unserer Partygesellschaft von vor der Wirtschaftskrise.

    Nur Martin Reinkes Figur ist etwas gewöhnungsbedürftig – seinem streitsüchtigen Bettler und Gott stand die Zottelperücke des alten Juden nicht wirklich gut zu Gesicht. Eine Neuentdeckung für Salzburg ist Angelika Richter als "Gute Werke". Mit somnambuler Gebrechlichkeit und kindlicher Stimme ist sie jeder Zeigefingermoral entrückt, kein altes Weib mehr, sondern eine großartige Mischung aus Frau und rettendem Engel. Noch so ein Aha-Effekt dieser Inszenierung aus einem Guss, die wie selten zuvor Zeitgenossenschaft beansprucht.

    Die Festspiel-Eröffnung am Montag Vormittag dann war eine ernsthafte Feier der Kultur, der Tradition, der Geschichte, die auch an den Beginn der Festspiele aus Hunger und Not erinnerte. Festredner Daniel Barenboim nutzte die Gelegenheit für ein neuerliches Plädoyer für Frieden im Nahen Osten.
    Infos:
    Salzburger Festspiele