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A.L. Kennedy -Ein Radioporträt

Eine nicht mehr junge Frau sitzt in der Eisenbahn. Sie fährt von Madrid nach Granada. Bevor sie ihren ersten Stierkampf sehen wird in der Hauptstadt-Arena Las Ventas, besucht sie im Süden die Stadt, das Haus, den Garten des Federico García Lorca. Der ermordete Dichter soll ihr den Zugang eröffnen zur Corrida, die ihn faszinierte und inspirierte, zur tödlichen Begegnung zwischen Mensch und Tier, über die auch sie schreiben wird. Es soll ein Reportage-Essay werden, ein Auftragswerk, das sie vielleicht retten wird aus der Leere, die das Nicht-mehr-schreiben-Können in ihr hinterlassen hat.

Julia Schröder | 07.08.2001
    Die Frau, die sich vor lauter Überdruss an sich selbst um ein Haar aus dem Fenster gestürzt hätte, hat schon einige Bücher geschrieben, und der Leser wird diese Erzählerin unschwer identifizieren als die schottische Autorin Alison Kennedy, die ihre Initialen in der Regel mit A. L. abkürzt. Mit dem Roman "Gleißendes Glück" wurde sie im vergangenen Herbst auch in Deutschland bekannt. Jetzt ist der große Essay über Stierkampf bei Wagenbach erschienen.

    Eine junge Frau sitzt in der Eisenbahn. Sie fährt von Glasgow nach London. Sie hat ihren Job verloren und ihren Freund zurückgelassen, sie fährt und erinnert sich an all das Schöne und Schreckliche, die Liebe und den Schmerz ihres Lebens, und als sie in Euston Station ankommt, ist ihr klar geworden, dass sie bald wieder in den Norden fahren wird und dass dort nichts mehr sein wird, wie es war. Diese Frau ist Margaret, die Heldin des Debütromans von Alison Kennedy aus dem Jahr 1993, der jetzt unter dem Titel "Einladung zum Tanz" auf Deutsch im Steidl Verlag erscheint.

    Beim Lesen der beiden bisher übersetzten Romane der Autorin, kommt eine Ahnung auf, warum jemand, der schreibt wie sie, irgendwann vielleicht wirklich auf einer Fensterbank landen mag, bereit zum Sprung in die Tiefe: weil soviel innere Gespanntheit auf die Dauer weder auszuhalten noch beliebig herstellbar ist. Liebe und Tod, Glaube und Gewalt, Hoffnung und Leere - Kennedy wählt diese Themen nicht willkürlich, sie scheint von ihnen besessen. Aber es ist ein kaltes Feuer, das in ihrer Prosa brennt. Taghell erleuchtet es noch die finstersten Szenerien:

    Und deshalb bin ich hier, deshalb bin ich wirklich hier - weil ich zu aufmerksam bin. Ich habe im Zug nicht geschlafen, weil ich mich die ganze Nacht daran erinnert habe, dass ich zu aufmerksam bin, weil ich mich an das erinnert habe, was ich weiß und nicht verstehe.

    Und so verbringe ich zumindest einen Teil jeder Nacht. Wegen dieser einen Nacht: das Knarren des Hotelkorridors, die schwere Luft der ersten Morgenstunden, und wie er mich auf beide Wangen küsste und sagte, alles sei in Ordnung, weil er kein guter Mann sei, und dass er jetzt mit einer Frau schlafen werde, die wir beide nicht kannten, aber das sei in Ordnung, weil er kein guter Mann für mich sein würde, und dass es ihm leid täte, obwohl er nicht sagte, was ihm leid täte.

    Weil ich so aufmerksam wie möglich gewesen bin, erinnere ich mich daran. Und daran, wie ich nur wenig später da stand und nichts fühlte, nichts dachte, und an die nächste, viel längere Zeitspanne, als ich an der Tür stand, an der Schlafzimmertür, und lauschte, ihnen zuhörte, ihm zuhörte. Weil ich wusste, dass ich niemals glauben würde, was da geschah, wenn ich keinen eindeutigen Beweis hätte, und weil ich diese Veranlagung habe, so gut wie möglich aufzupassen, hinzuschauen, zu versuchen zu verstehen, zu wissen. (...) Im Schlafwagen, in meinem eigenen Bett, in all den Hotelbetten sind es die Stiere, die mich vor diesen Erinnerungen bewahren.


    Dies sei "der dumme kleine Ort", an dem sie ihren Glauben verloren habe, schreibt Kennedy in der "Stierkampf"-Reportage, und der Ausflug in den eigenen Vorrat schmerzlicher Erfahrungen ist bezeichnend für ihr Vorgehen. Dem übergroßen Pathos des Geschehens auf dem bald blutgetränkten Sand der hitzeflimmernden Arena setzt sie das ebenfalls nicht geringe, wenn auch kühle Pathos ihrer Selbstbehauptung entgegen. Sie, die zunächst nur zu schauen, zu berichten vorgibt, um verstehen zu lernen, reflektiert das Gelesene wie das mit eigenen Augen Gesehene im Spiegel der eigenen Existenz - und der eigenen Leseerfahrung. Denn natürlich ist sich eine hochintelligente Autorin wie Kennedy sehr darüber im Klaren, dass das Schreiben über Stierkampf große Vorbilder kennt.

    Vor denen aber ist ihr - den verehrten, ebenfalls todesverliebten García Lorca vielleicht ausgenommen - nicht bange. Über Hemingway und seine machohafte Torero-Folklore macht sie sich sogar ein bisschen lustig, wie auch über sich selbst, die sie da, mit Bandscheibenvorfall, schottischer Blässe und miesem Spanisch dem Mysterium, dem Mythos, dem ganzen Zirkus drumherum auf die Spur zu kommen sucht. Aber todernst nimmt sie den tödlichen Tanz, zu dem der Matador in seiner goldbestickten, flitterübersäten Traje de luces den von den Pfeilen der Picadores gereizten und zermürbten Toro bravo vor kenntnisreich-kritischem Publikum lädt. Dabei ist Alison Kennedy der Tanz, wie schon der Titel ihres frühen Romans verrät, durchaus als Metapher des Lebens, des gelindgenden Lebens, des gefährdeten Lebens vertraut. Am Anfang ihrer Erinnerungsreise von Glasgow nach London kommt Margaret ihr erster Walzer mit ihrem Vater in den Sinn, bei einem Ceilidh, einer schottischen Tanzveranstaltung, als sie ein kleines Mädchen war und er versuchte, sie vor der "Zeitverschwendung" zu warnen. Der Mond, die Sterne, das Tanzen: einfach leben - alles andere sei Zeitverschwendung, schärfte er ihr ein. Was er damit gemeint haben könnte, begreift sie wohl erst am Ende der Reise, als sie auf den Bahnhofsausgang zugeht und sich verwandelt "in eine schwingende, tanzende Linie".

    Doch so ein Ceilidh markiert auch den schmerzhaften Wendepunkt in Margarets Erwachsenenleben: Nach diesem Abend wird sie von ihrem Chef, dem Leiter des "Fun-Factory" genannten Begegegnungszentrums, gefeuert, weil sie sich seinen Annäherungsversuchen verweigerte, nach diesem Abend wird ihr Geliebter Colin von Gangstern entführt und fast totgefoltert, nach diesem Abend ist der Untergang des prekären Biotops für gefährdete Jugendliche und entwurzelte Erwachsene besiegelt.

    Diese schlimm-schöne Geschichte packt Kennedy in einen bemerkenswert souverän aufgebauten Roman. Dessen verschachtelte Konstruktion aus Rückblenden und Vorausdeutungen hat nicht nur Platz für eine ganze mutterlose Kindheit in Schottland und zwei vertrackte Liebesgeschichten - Margaret und Colin, Margaret und Daddy. Dieses Debüt bietet auch eine gehörige Portion jenes Lebensgefühls, das etwa an den Filmen des New British Cinema als überraschend vital und authentisch auffällt. Und doch ist da mehr als proletarischer Charme, schottisches Leidensdekor und jugendliches Aufbegehren. Die ganze "Einladung zum Tanz" ist von einer Art negativer Religiosität grundiert. Margarets Freund Colin etwa wird nicht einfach misshandelt, sondern buchstäblich gekreuzigt. Und, wie es in einer Liste heißt, welche die "Schottische Methode (zur Perfektionierung von Kindern)" beschreiben soll:

    Schuldgefühle sind gut. (...) Gott hasst uns. In unseren Worten, Gedanken und Taten sind wir hassenswert vor Gott, und nichts Gottgefälligeres können wir tun, als uns selbst zu hassen.

    Die Frage, ob Gott uns nun hasst oder nicht, scheint in Kennedys gründlich recherchierten, virtuos verknüpften Beobachtungen und Betrachtungen zum Thema Stierkampf keine Rolle mehr zu spielen. Da hat eine das Reglement der drei Akte der Corrida genau studiert, hat die teils beschönigenden, teils bewegenden Lebenserinnerungen großer Matadores gelesen, weiß, wie Aficionados und Verächter der Corrida reden, hat sich ihre eigenen Gedanken gemacht - aber dann schaut sie selbst hin, mit ihrem über die Maßen aufmerksamen Blick registriert sie Glanz und Elend des Stierkampfs, suerte und duendo, Kühnheit, Feigheit, Leben und Tod. Und die brennende Frage, ob es sich beim ritualisierten Blutvergießen zur Unterhaltung zehntausender von Zuschauern um etwas Glänzendes oder etwas sehr Schmutziges handelt, lässt sie offen. Wer lesen kann, denkt sich sein Teil. Die Faszination dieses Rätsels aus Talmi und Totschlag aber leugnet Alison Kennedy nicht:

    Und damit bin ich wieder in den Gefilden jenseits des gesunden Menschenverstands angelangt, bei den Fragen der Liebe und des Glaubens - beides durchsetzt mit vergossenem Blut.