A tribute to Alfred Schnittke
Orchestermusik des 20. Jahrhunderts steht heute auf unserem Programm, sie kommt von zwei verschiedenen CDs, wobei es mindestens zwei Dinge sind, die die beiden Produktionen miteinander verbinden: erstens bieten beide Musik russischer Komponisten, zweitens klingt zumindest ein Stück auf jeder CD eher so, als wäre es aus einer viel früheren Zeit... * Alfred Schnittke: ‚Pastorale' (Ausschnitt) aus: "Suite im alten Stil:" 1840 komponierte Louis Spohr eine historische Sinfonie im Stil und im Geschmack von vier verschiedenen Zeitabschnitten: Den 1. Satz legte er als Allegro mit langsamer Einleitung im Stil der Bach-Händel-Zeit an, den zweiten als Larghetto der Haydn-Mozart-Periode, das Scherzo in Beethovenscher Manier und erst beim Finalsatz wurde er sozusagen authentisch, denn dieses Allegro vivace spiegelte die damals "allerneueste Periode" der Romantik wider. Viel Beifall erhielt er für diese Komposition nicht - in Zeiten von Geniekult, nach vorne gerichtetem Fortschrittsglauben und der allenthalben erhobenen Forderung nach einem Personalstil galt eine solche handwerklich interessante Idee nicht viel. Auch andere Komponisten haben sich in der Folge immer mal wieder mit Musik der Vergangenheit beschäftigt, meistens in Form von Variationen über ein von einem früheren Komponistenkollegen erfundenes Thema: Brahms variiert Themen von Händel, Haydn oder Paganini, Schumann schafft Etüden auf der Basis von Beethoven-Motiven, Rachmaninow nimmt sich Corelli und Chopin vor, Max Reger wird bei Telemann, Bach, Beethoven oder Mozart fündig, Tschaikowsky verfasst in Hochachtung vor dem Wiener Meister gar eine ganze "Mozartiana". Doch während hier die alten Themen nur Grundmaterial sind für Musik im eigenen, der jeweiligen Zeit verpflichteten Stil, gibt es durchaus auch Beispiele für Kompositionen, bei denen die Themen zwar selbst erfunden sind, dafür aber andere Elemente und Stilmerkmale übernommen werden. So komponiert Max Reger eine Suite "im alten Stil", bei der das barocke Concerto-grosso-Prinzip wiederaufersteht, der Wechsel von solistisch besetzten Concertino-Abschnitten mit Tutti-Stellen des ganzen Orchesters, Edvard Grieg schreibt eine ähnlich barocke Musik unter dem Motto "Aus Holbergs Zeit". Barock klingt auch die "Suite im alten Stil" für Violine und Klavier (oder Cembalo), die der russische Komponist Alfred Schnittke 1972 komponierte, die von Vladimir Spivakov für Kammerorchester bearbeitet und von ihm und seinen Moskauer Virtuosen jetzt bei der Plattenfirma Capriccio veröffentlicht wurde. * Alfred Schnittke: ‚Ballett' (Ausschnitt) aus: "Suite im alten Stil:" Wenn es darum geht, Alfred Schnittkes Kompositionsstil zu beschreiben, taucht immer wieder das auch von ihm selbst benutzte Wort "Polystilistik" auf, ein Verfahren, das historische Musikstile und Setzweisen ins eigene Werk einbezieht, Klangelemente höchst unterschiedlicher Herkunft zu einer Art Collage verbindet, wobei Altes und Neues, Kirchliches und Profanes, Barockes und Romantisches, Klassisches und Zwölftoniges allerdings auf verblüffende Weise so zusammengebunden werden, dass gegenseitige Durchdringung stattfindet und etwas völlig Neues entsteht, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Man mag die Gründe für diese Art Musik zu schreiben in Schnittkes den verschiedensten Einflüssen ausgesetztem Lebenslauf suchen, den Russisches und Deutsches, Jüdisches und Katholisches gleichermaßen prägten. Auch der Hinweis auf den Regelkanon kommunistischer Kulturbürokraten, die einem allzu hohen Abstraktionsgrad oder dem radikalen Experiment wegen gefürchteter Entfremdung zwischen Künstler und Volk eher ablehnend gegenüberstanden, hat seine Berechtigung: Schnittkes Klänge scheinen häufig bereits beim ersten Hören vertraut; und seine "angewandten" Arbeiten für den Film boten ihm außerdem ein weites Experimentierfeld, um das Verhältnis zwischen offiziell gewünschtem Realismus und den lange als "Formalismus" verfemten Methoden immer wieder zu erproben. Schließlich ist dieser ganz eigenwillige Kompositionsstil aber auch Schnittkes persönliche Antwort auf die Fragen, die westliche "Avantgardisten" in den sechziger Jahren bewegten: Wie geht es weiter nach einer Periode, wo alle Bestandteile der Musik strengen mathematischen Verfahren unterworfen waren, wo Tonhöhen, Linien und Zusammenklänge, ja sogar Dauern, Rhythmen und Klangfarben, Lautstärkegrade und Formverläufe nur künstlerisch akzeptabel schienen, wenn in den Klangwelten abstrakte Formeln für serielle Ordnung sorgten. Angeregt durch eine Begegnung mit Luigi Nono 1963 in Moskau hatte Schnittke selbst einige streng serielle Stücke geschrieben; und auf dem Weg über das immer relativ weltoffene Neue-Musik-Festival "Warschauer Herbst", wo Schnittke bereits 1965 vorgestellt wurde, gelangten die Probleme und Selbstzweifel der westlichen Kollegen auch nach Russland. Bereits Ende der sechziger Jahre kritisiert Schnittke die klanglichen Ergebnisse serieller Methoden als "flache Musik ohne räumliche Wirkung" und komponiert in den Jahren 1969-72 aufgrund dieser Einsicht seine 1. Sinfonie als ein drastisch-buntes, virtuos geknüpftes Patchwork aus Wiener Klassik, Jazz und Massenlied. Als einem der ersten wird ihm klar, dass das musikalische Grundmaterial für eine Komposition nicht mehr unbedingt nur aus Motiven, Themen oder Reihen bestehen muss, sondern dass in einer Zeit, wo durch die perfekte Schallaufzeichnung alle möglichen Musikstile und -Epochen auf Knopfdruck jederzeit abrufbar sind, auch diese Musiken aus verschiedensten Zeiten und Gegenden mit ihrer jeweils speziellen Aura, ihren musikalischen wie außermusikalischen Assoziationen zum Ausgangspunkt neuer Schöpfungen werden können. Dabei zitiert Schnittke selten wörtlich, sondern komponiert auch die Quasi-Zitate selbst. Er möchte diese "Antiquitäten" nicht beliebig ausbeuten, sondern setzt sich mit ihrer Geschichte, ihrem Gestus und Geist genauestens auseinander. Die Reibung zwischen gestern und heute interessiert ihn, die Fremdheit der eigentlich vertrauten Klänge im neuen Umfeld, die Kraft, die jeder musikalischen Richtung innewohnt und sich auf andere Stile überträgt. Bei seiner "Suite im alten Stil" überwiegen die historischen Teile; nur bei genauem Hinhören entdeckt man die augenzwinkernd eingestreuten modernen Zutaten, gut verwoben mit dem Alten, seien es bestimmte Dehnungen oder Spielweisen wie col legno, wo die Streicher nicht streichen, sondern die Saiten mit dem Holz der Bögen traktieren oder seien es offene Schlüsse, wo das erwartete affirmative Tonika-Ende einfach ausbleibt und die Musik wie mit einem Fragezeichen endet. * Alfred Schnittke: ‚Pantomime' aus: "Suite im alten Stil:" Die neue Capriccio-CD mit den Moskauer Virtuosen bietet neben der Suite im alten Stil weitere Werke von Alfred Schnittke: Die Sonate für Violine und Kammerorchester von 1968, die fünf Fragmente zu Bildern von Hieronymus Bosch von 1994 sowie das Konzert für Klavier und Streicher von 1979 - allesamt hoch musikalisch interpretiert in einem warmen, angenehmen, dabei jedoch gut durchhörbaren Gesamtklang.